Die Büchse der Pandora - Esther Fischer-Homberger

Die Büchse der Pandora: Der mythische Hintergrund
der Eisenbahnkrankheiten des 19. Jahrhunderts*
Von Esther Fischer-Homberger
Als der englische König Georg III den Erfinder James Watt (1736–
1819) fragte, womit er sich gerade beschäftige, soll ihm dieser geantwortet
haben: „I invent power“ 1 .
Tatsächlich hat Watt mit seiner Erfindung der Kondensationsdampfmaschine
den Machtbereich des Menschen unerhört ausgedehnt. Diese
Maschine hat die Umwandlung der Feuerhitze in andere Energieformen
– mechanische Kraft zum Beispiel – ohne allzugroße Verluste erlaubt.
Damit hat sich der technische Anwendungsbereich des Feuers explosionsartig
erweitert. Mit ihr konnten unerhörte Mengen von lebendigen
Arbeitskräften – auch Pferden: das Maß „Pferdestärke“ stammt von
Watt – eingespart werden. Mit ihr konnte die Arbeitskraft des Wassers
durch eine ortsunabhängige Kraft ersetzt werden – Mühlen mußten nun
nicht mehr an Bächen stehen. Mit ihr wurden aber auch neue Arten von
Arbeitsleistungen möglich.
Die Dampfmaschine wurde rasch zu verschiedenen Zwecken erfolgreich
eingesetzt: die Gevatterin der Watt’schen Maschine, die Dampfpumpe,
wurde ausgebaut, Dampfkrane, Dampfbagger, Dampfmühlen,
Dampfhammer und Dampfspritzen für die Feuerwehr wurden erfunden.
Aber auch die sich selbst fortbewegende Dampfmaschine wurde
gebaut. Der Franzose José Cugnot schuf 1769 den ersten Dampfwagen,
den er mit Unterstützung des Kriegsministeriums vervollkommnete. Es
folgten Dampfschiff, Dampfpflug, Dampfwalze, Dampfdroschke und
Lokomobile 2 .
Die weitaus spektakulärste Erscheinungsform der Dampfmaschine aber
war die Dampflokomotive. Die Lokomotive war ein Kind von Dampfmaschine
und Grubenbahn, welch letztere seit Jahrhunderten auf Schienen
gefahren war. Der Name „Eisen“bahn bezieht sich auf das Material dieser
Schienen 3 .
* Sudhoffs Archiv, Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 56 (1972), 297–317.
1
Für Jürg Schatzmann.
Schultz, Fritz Traugott, Die Ludwigsbahn. Die erste deutsche Eisenbahn. Leipzig 1935,
S. 7. Vgl. Das größte Wunderwerk unserer Zeit oder die Eisenbahn für Dampfwägen zwischen
Liverpool und Manchester in England. Mit 13 Kupferplatten. Friedrich Campe:
Nürnberg 1832, S. 4.
2 Vg l. Feldhaus, F. M., Feuer als Arbeitskraft. In: Der Mensch und die Erde, Bd. 8, Berlin-
Leipzig 1911, S. 156ff.; Baumann, Max, Englische, deutsche und schweizerische Dampflokomotiven.
Spreitenbach 1969, S. 9 und 14.
3 Feldhaus, op. cit., S. 212.

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Erfinder der Dampflokomotive war Richard Trevithick (1771–1833),
der Erbauer der „Catch me who can“, Sohn eines Grubenverwalters in
Cornwall.
Den ersten großen Aufschwung nahmen Lokomotivbau und Eisenbahnen
mit einem andern Engländer, George Stephenson (1781–1848),
und dessen Sohn Robert. Er begann damit, daß Stephenson, der Kohlengruben-Ingenieur,
die „Locomotion“ baute, welche auf einem Schienenwege
Kohlen von Darlington nach Stockton zu bringen hatte. Diese
Stockton-Darlington-Bahn wurde 1825 in Betrieb genommen. Dann
baute Stephenson die Linie Manchester-Liverpool. Er lieferte für diese
Strecke auch die Lokomotive, denn seine „Rocket“ hatte in dem berühmten
Rennen von Rainhill 1829 sich als die weitaus leistungsfähigste unter
den Konkurrenten gezeigt. Die Liverpool-Manchester-Bahn, die erste, die
für den öffentlichen Verkehr bestimmt war, wurde 1830 eingeweiht 4 . Die
Stephensons leiteten einen riesigen Aufschwung des Eisenbahnwesens
ein. Nach Englands Vorbild, anfangs oft mit Englands und Stephensons
Hilfe, bauten auch andere Länder ihre Bahnen. Amerika, Deutschland
und Frankreich überzogen sich rasch mit Schienenwegen, wie Pilze schossen
Eisenbahngesellschaften aus dem Boden.
Die Vorteile des neuen Verkehrsmittels waren allerdings evident: große
Mengen von Waren und Leute konnten nun ungleich rascher und billiger
als je zuvor auch auf dem Landweg transportiert werden; Pünktlichkeit
im Transportbetrieb war ein weiteres fundamentales Novum. Wo Eisenbahnen
waren, gab es neue Möglichkeiten der Kommunikation, da blühten
Handel und Industrie auf, Arbeiter fanden Arbeit und Spekulanten
Geld 5 .
Die Bedeutung der Eisenbahn wurde seinerzeit im allgemeinen durchaus
gesehen und gewürdigt. Sie erschien den Menschen des 19. Jahrhunderts
vielfach sogar größer als sie dem 20. Jahrhundert retrospektive
erscheint. Viele Autoren sahen in der Erfindung der mit Dampf
betriebenen Eisenbahnen ein buchstäblich epochemachendes Ereignis.
Der Nationalökonome Friedrich List (1789–1846) findet es 1837 richtig,
zu sagen, „daß seit der Erfindung der Buchdruckerkunst sich nichts
zugetragen habe, was der durch Eisenbahn und Dampfwagen erzeugten
Beschleunigung und Erleichterung des öffentlichen Verkehrs rücksichtlich
4 Baumann, op. cit., S. 10 und 16–24; Feldhaus, op. cit., S. 214–222.
5 Vg l. Knies, Karl, Die Eisenbahnen und ihre Wirkungen. Braunschweig 1853; Sieveking,
Heinrich, Grundzüge der neueren Wirtschaftsgeschichte [=Grundriß der Geschichtswissenschaft,
Reihe II, Abt. 2] 3. Aufl., Leipzig-Berlin 1921, S. 67–69.

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der Folgen an die Seite gesetzt werden könnte …“ 6 . Auch Heinrich Heine
analogisierte den durch die Erfindung der Eisenbahn gesetzten Neuanfang
dem Anfang der Neuzeit: „So muß unseren Vätern zu Mute gewesen
sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich
durch ihre ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten
Aushängebogen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. Die Eisenbahnen
sind wieder ein solches providentielles Ereignis ... es beginnt ein
neuer Abschnitt in der Weltgeschichte ...“ 7 .
Die Eisenbahn wurde geradezu als Paradigma für das 19. Jahrhundert
betrachtet. „Die Eisenbahn ... ist ein Product ... des Geistes ihrer Zeit“
soll der Ingenieur W. J. Rankine (1820–1872) gesagt haben 8 . Der Ingenieur
Max Maria von Weber (1822–1881), ein Sohn des Komponisten Carl
Maria, schreibt über das Eisenbahnwesen: „Diejenigen ..., die es ... gleich
nach seiner Geburt sahen, überwältigte es, als stiege der Geist der Zeit ...
in Person vor ihnen nieder“ 9 .
Die Eisenbahn wurde zum Indikator und zur eigentlichen Ursache
des zivilisatorischen Fortschritts, der das Leben des einzelnen verbesserte
und das Gesicht der Welt veredelte. „Was andres waren die Hebel
der französischen, englischen und amerikanischen Industrie, Künste,
Gewerbe und des Nationalwohlstandes im Allgemeinen, als die Transporterleichterung?“
schreibt ein Anonymer 1837 unter dem Titel „Nutzen
der Eisenbahnen“ 10 . Geradezu chiliastische Erwartungen wurden an
die Eisenbahn geknüpft. „Unsere Zeit ist eine rein industrielle“, schreibt
Prof. J. Eckenstein, Redaktor der „Neuen Basler Zeitung“ 11 1841, „denn
die Industrie mit ihrem Herrscherzeichen, dem Oehlzweig, statt Szepter
und Schwert, hat den Weltenthron bestiegen; sie wird ... verwirklichen,
was bis jetzt ein utopischer Traum war; ihre Aufgabe ist: den Krieg
aus der Welt zu verbannen. ... In dem gewaltigen System der alle Welt
beherrschenden Industrie stehen die Eisenbahnen ... obenan 12 ... Der
6 Zit. n. Volmar, Friedrich Aug., Aus der Frühzeit der Dampfrosse. Bern 1947, S. 12.
7 Zit. n. Volmar, op. cit., S. 11–12. Vgl. auch Fürst, Artur, Die hundertjährige Eisenbahn.
München 1925, S. 9: „Das Mittelalter ... reicht bis ... 1830.“
8 Weber, Max Maria, Freiherr von, Vom rollenden Flügelrade. Skizzen und Bilder. Berlin
1882, S. 113. Rankine hat dabei speziell den Geist der Arbeiterbewegung im Auge
gehabt.
9 Weber, op. cit., S. 99.
10 Die Eröffnung der Leipzig–Dresdner Eisenbahn. Leipzig 1837, S. 7.
11 Nach Volmar, op. cit., S. 36.
12 Eckenstein nennt außer den Eisenbahnen nur noch „die Dampfschiffahrt“ (auf
Kanälen), diese ist jedoch bald der Konkurrenz der Eisenbahn erlegen.

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Mensch wird durch diese Erfindung(en) aufhören, eine Maschine zu sein,
in welcher Eigenschaft er bei roher Arbeit sein irdisches Leben verhauchet.
Der Mensch hat ... Maschinen in’s Leben gerufen, durch ... [die]
auch der großen Masse ..., die man bisher mit der Hoffnung auf eine dereinstige
überirdische Seligkeit ... zu vertrösten pflegte, bisher unbekannte
Bequemlichkeiten und Genüsse zu Theil werden sollen ... Am Weitesten
... hat es England getrieben ... Britannien gibt den Maßstab für die industriellen
Erscheinungen aller andern Länder; Britanniens Siegesruf stachelt
die übrige Welt rastlos zur That; denn dort haben die Eisenbahnen Wunder
gewirkt ... Die Eisenbahnen bilden dort die Pulsadern eines neuen
Lebens: ganze Bevölkerungen siedeln sich längs denselben an, und große
Städte erweitern sich, so daß in wenigen Dezennien ganz England gleichsam
nur eine Stadt bilden wird, in deren Parke sich Flüsse schlängeln, und
Kanäle hinziehen und feuersprühende Rosse an den prachtvollen Gärten
und Schlössern durch Wälder und Felder dahin fliegen“ 13 . Friedrich
List nennt die Eisenbahn einen „Herkules in der Wiege, der die Völker
erlösen wird von der Plage des Krieges, der Teuerung und Hungersnot,
des Nationalhasses und der Arbeitslosigkeit, der Unwissenheit und des
Schlendrians...“ 14 , der Freiherr M. M. v. Weber schreibt: „Nie war die
Stimmung der arbeitenden Volksklassen eine verzweiflungsvoller deprimirte
gewesen als gerade in dem Jahre, das zwischen den Wettfahrten zu
Rainhill und der Eröffnung der Liverpool- und Manchester-Bahn liegt ...
Die Spannung war auf ’s äußerste gestiegen. In diese schwüle Düsterkeit
des Völkerlebens fiel die gewaltige Erscheinung der Eröffnung der ersten
grossen Eisenbahn der Welt wie ein Lichtstrahl. ... Sie schien ein Evangelium
besserer Zukunft auf ihren eisernen Flügeln zu tragen“ 15 .
Töne prometheischen Stolzes schwingen im Bericht eines Augenzeugen
der Eröffnung der Liverpool-Manchester-Bahn mit: „Man mag vom
Pol zum Äquator, von der Straße von Malakka zum Isthmus von Darien
reisen und wird nichts so Bewundernswürdiges sehen wie diese Eisenbahn“
schreibt dieser. „Die Donner der Ausbrüche des Vesuv und Aetna,
die Konvulsionen der Natur bei einem Hochgewitter erschüttern durch
ihre Größe, drücken aber den Stolz des Menschen tief darnieder, während
die Szenen, die wir hier vor uns sehen und die sich in ihrer Macht
nicht würdig beschreiben lassen, ein hohes Selbstgefühl und eine Bewun-
13 Eckenstein, J., Die Eisenbahn. Basel 1841, S. 85–88.
14 Zit. n. Volmar, op. cit., S. 12.
15 Weber, op. cit., S. 120–122.

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derung für die Geisteskraft des Menschen entwickeln, intensiver und
lebendiger als alle Produkte der Poeten, der Maler und Philosophen“ 16 .
*
Das Erlebnis der Eisenbahn scheint unter anderem also irrationale,
mythisch-religiöse Assoziationen geweckt zu haben. Die Eisenbahn wurde
nicht nur als fortschrittliche Neuerung im Bereich des Verkehrswesens
begrüßt, sie erschien auch als ein Zeichen der Selbsterlösungs fähigkeit
der Menschen. Entsprechend wurde sie nicht nur in technischer, organisatorischer
und ästhetischer Hinsicht kritisiert, sondern auch als Frevel.
Insofern die Eisenbahn in derartige irrationale Assoziationssysteme
einbezogen wurde, wurde sie zur Quelle einer Eisenbahnangst, für welche
die Nachteile der Eisenbahn nicht Folge von deren Unvollkommenheit
waren, sondern Folge von deren Existenz. Gerade die Vorteile
der Eisenbahn sogar waren in diesem Sinne die Ursache dieser Angst:
gerade ihretwegen erwartete die Menschheit, nach dem Prometheus-
Epimetheus-Schema, von neuen, ungeahnten Leiden mit Strafcharakter
heimgesucht zu werden. Immer wieder hat die Menschheit ihren zivilisatorischen
Fortschritt in diesem Sinne mit neuen Leiden, namentlich
auch Zivilisationskrankheiten, bezahlen zu müssen geglaubt, beim Aufkommen
der Eisenbahn wurde dies aber besonders deutlich. Hatte James
Watt prometheisch-listig das Feuer in seine Dampfmaschine gebannt, so
war es – mythisch gedacht – unvermeidlich, daß die beleidigten Mächte
der Gewohnheit den Menschen eine neue Pandorabüchse voll Unheils
übersenden würden 17 .
16 Zit. n. Volmar, op. cit., S. 7.
17 „Prometheus (Vorbedacht) … im gr[iechischen] Mythos der Freund der Menschen und
Gegner des Zeus … suchte … den Zeus zu betrügen … Zeus … entzog daraufhin zur Strafe
den Menschen das Feuer. P. aber stahl es und brachte es ihnen. Jetzt strafte Zeus die
Menschen durch Pandora“ (O. Hiltbrunner: Kleines Lexikon der Antike. Bern 1946)
„Zeus … nannte sie Pandora, das heißt die Allbeschenkte, denn jeder der Unsterblichen
hatte dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben
… Sie aber schritt zu Epimetheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm das
Geschenk des Zeus zu bringen … Epimetheus … nahm die schöne Jungfrau mit Freuden
auf und empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher lebten die Geschlechter der
Menschen, von seinem Bruder beraten, frei von Übel … ohne quälende Krankheit. Das
Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen.
Kaum bei Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald
entflog dem Gefäße eine Schar von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über
die Erde. … Die Krankheiten irrten bei Tage und bei Nacht unter den Menschen umher,
heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen keine Stimme gegeben; eine Schar
von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod … beflügelte seinen Schritt“ (Gustav
Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. 2. Basler Ausgabe, Basel 1948,
Bd. 1, S. 16–17).

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Nicht nur als Friedensengel und erlösender Herkules wurde daher die
Eisenbahn begrüßt. Auch „Feuerdrachen“ 18 , „Feindlicher Dämon … ,
unwillig unterjocht und wüthend keuchend“ 19 , „ungeduldiges lebendiges
Riesenthier einer fremden Welt“ 20 wurde sie genannt, oder: „trojanisches
Pferd, das mit einer geheimnisvollen Zukunft schwanger gehe“ 21 . Bei der
Einweihung der Eisenbahn nach Venedig soll der Kardinalpatriarch statt
einer Segensrede eine Fluchrede gehalten haben, in der er die Eisenwege
und Dampfmaschinen als Ausgeburt einer „sündhafte[n] Erfindungslust
des Menschengeistes“ geißelte 22 . Nicht nur Freiheit hoffte man durch die
Eisenbahn zu gewinnen 23 , man sprach auch von dem „neuen Sklaventum“,
das dieselbe bringe 24 . Der Vision von der befruchtend- kultivierenden
Eisenbahn stand der Alb von der lebensfeindlich-barbarisierenden
Eisenbahn gegenüber. Wo die Eisenbahn durchführe, würden die Felder
unfruchtbar, hieß es, die Quellen würden austrocknen, wie ein Erdbeben
würde diese Erfindung das Land verwüsten 25 . Gegen den Bau der
Liverpool-Manchester-Bahn wurde eingewendet, „die aus dem Schornstein
der Maschine herausfliegenden Funken müßten jedes in der Nähe
stehende Haus anzünden, die Luft würde durch die Rauchwolken verpestet
werden ... Die Dampfkessel der ‘Reisemaschinen’ würden häufig platzen,
so daß kein Mensch in der Nähe der Bahn mehr seines Lebens sicher sein
würde; der bloße Anblick des vorüberdonnernden Eisenbahnzugs müßte
die Tiere zu Tode erschrecken, Menschen wahnsinnig machen“ 26 . „Es wurde
behauptet, durch die vergiftete Luft, aus der die Vögel tot herabfallen
würden, müßten die Kühe die Milch verlieren, die Pferdezucht werde verkommen,
das Getreide und Viehfutter schädliche Beimischungen erhalten
18 Weber, op. cit., S. 119.
19 Jaehns, Max, Max Maria Freiherr von Weber. Biographische Skizze. In: Weber, op. cit.,
S. III–IV.
20 Die Eröffnung ..., S. 17.
21 Eckenstein, op. cit., S. 57.
22 Kollath, Werner, Zivilisationsbedingte Krankheiten und Todesursachen. [=Schriftenreihe
zur Politischen Hygiene, Bd. 1] Ulm 1958, S. 161.
23 Vg l. Weber, Max Maria von, Aus dem Reich der Technik. Bd. 2, Berlin 1928, S. 28.
24 Berghaus, Erwin, Auf den Schienen der Erde. Eine Weltgeschichte der Eisenbahn.
München 1960, S. 68.
25 Francis, John, A History of the English Railway. Its social relations and revelations
1820–1845. 1851. Faksimile New York 1967, S. 175.
26 Fürst, op. cit., S. 56.

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und, was den Herzen der Engländer am nächsten ging, der Jagdsport werde
durch Aussterben und Verscheuchen der Hasen, Rehe, Hühner, Fasanen
und vornehmlich der Füchse unheilbar geschädigt werden; abgesehen
davon, daß das Leben der Reisenden auf der Bahn ununterbrochen
aufs äußerste gefährdet sein müsse“ 27 .
Punch 1865. Aus: Anton Klima, Die Technik im Lichte der Karikatur. Wien 1913, S. 36.
Auch für die Gesundheit der Eisenbahnfahrenden fürchtete man natürlich.
Zahlreiche Eisenbahnkrankheiten wurden bekannt – wir werden
darauf unten ausführlicher zu sprechen kommen.
Punch 1865. Aus: Anton Klima, Die Technik im Lichte der Karikatur. Wien 1913, S. 10.
27 Weber, Aus dem Reich … , Bd. 2, S. 160–161.

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Nun sind der Menschheit aus der Erfindung der Eisenbahn ja tatsächlich
neue Leiden erwachsen. Dies ist ebenso wahr wie, daß sie mächtige
Vorteile mit sich gebracht hat, und braucht heute, in der Zeit des
Kampfs gegen Luftverschmutzung, Lärm und Landschaftsverwüstung
kaum gesagt zu werden. Und die Industrialisierung hat ja auf ihren eisernen
Flügeln wirklich nicht nur Frieden und Freiheit gebracht. Auch der
Vergleich der Dampflokomotive mit einem Feuerdrachen und einem
trojanischen Pferd war seinerzeit nicht ganz unberechtigt: der Schornstein
von Stephensons „Locomotion“ glühte und spie Funken, wenn die
Maschine in voller Fahrt war 28 , und die Assoziation von Lokomotive und
Pferd lag der Pionierzeit der Eisenbahn natürlich viel näher als uns, die
wir das Wort „Pferdestärken“ kaum mehr wörtlich nehmen 29 . Unfälle
waren, besonders anfangs, als das Signalwesen noch wenig ausgebaut war,
tatsächlich ziemlich häufig. Sie waren auch besonders schrecklich: die
Wagen, schwache Holzkonstruktionen, schoben sich dabei vielfach stark
ineinander und fingen Feuer von der oft in Brand geratenen Dampflokomotive.
So hat der Unfall auf der Paris-Versailles-Strecke von 1842 (rive
gauche) bei 770 Passagieren 164 Opfer, davon 55 Tote 30 gefordert. Auch
die Idee, die Eisenbahn bringe Krankheiten, ist nicht gänzlich von der
Hand zu weisen. Im Anfang waren die Wagen vielfach offen, schlecht
oder gar nicht gefedert und die Dampfmaschine gab sicher Neben- und
Restprodukte ab, die der Gesundheit nicht zuträglich waren. Durch die
Eisenbahn konnten zudem Epidemien ungleich rascher weit verbreitet
werden, als zuvor. In einem gewissen Sinne war die Angst des 19. Jahrhunderts
vor der Eisenbahn also rational, nämlich auf bekannte Gefahren
zurückführbar. Die Gefahren konnten denn auch durch entsprechende
Verbesserungen planmäßig vermindert werden.
Im ganzen aber stand die Eisenbahnangst jener Zeit in keinem vernünftigen
Verhältnis zu der Gefährlichkeit des neuen Transportmittels.
Sie war größer als nötig (objektiv war der Verkehr mit Fuhrwerken
28 Baumnann, op. cit., S. 17.
29 Vgl. hierzu Müller, Karl, Die Lokomotiven. In: Der Siegeslauf der Technik, hrsg.
v. M. Geitel, Bd. 3, 2. Aufl., Stuttgart-Berlin-Leipzig (s.d.), S. 97–98 und Baumann,
op. cit., S. 11: 1813 wurde eine Lokomotive nach dem Modell des Pferdes gebaut, die
sich mithilfe beinartiger Stangen vorwärts bewegte. Noch 1824 wurde eine ähnliche
Erfindung patentiert.
30 Armand, Louis, Histoire des chemins de fer en France. Paris 1968, S. 42–43. Jener Unfall
wurde durch den Umstand erheblich verschlimmert, daß die Abteiltüren beim Start
vorsichtshalber abgeschlossen worden waren, die Passagiere daher die brennenden
Wagen nicht verlassen konnten.

Die Büchse der Pandora 305
gefährlicher als derjenige mit der Eisenbahn 31 ) und sie bezog sich nicht
auf Konkretes, Faßbares (und also auch Behebbares) sondern auf Nicht-
Bekanntes. Man fürchtete nicht einfach Unfälle und Gesundheitsschäden,
man fürchtete Schlimmeres, Lauerndes, eben gerade Nicht-Voraussehbares,
gegen das es kein Mittel gab als die Abschaffung der Eisenbahn.
Unfall-Schutz-Kostüm für Eisenbahnreisende. Karikatur von 1847.
Aus: E. Berghaus, Auf den Schienen der Erde. München 1960, S. 61.
Denn unbekannte Gefahren sind mit Neuerungen logischerweise unlösbar
verbunden. Diese irrationale Angst – irrational ist nicht unlogisch
– basiert auf einer Denkweise, die der mythischen Denkweise der
Prometheus-Epimetheus-Sage, dem Fortschritts-Strafe-Mythus eng verwandt
ist. Sie findet entsprechend ihren Ausdruck in Bezeichnungen der
Lokomotive als Ausgeburt sündhafter Erfindungslust etc., und in Klagen
über die „mordende Eisenbahn“, wie sie sich auf einem englischen Grabstein
von ca. 1840 findet 32 , – Äußerungen, die nicht eben typisch sind für
ein wissenschaftlich-technisches Denken.
*
31 Weber, Max Maria von, Die Technik des Eisenbahnbetriebes in bezug auf die Sicherheit
desselben. Leipzig 1854, S. 16–18.
32 Nach brieflicher Mitteilung von Prof. Walter Pagel, London. Der Grabstein steht auf
dem Friedhof von Harrow-on-the-Hill.

306 Esther Fischer-Homberger
Die mythologische Dimension der Eisenbahnangst verbirgt sich zweifellos
auch hinter der Angst vor Eisenbahnunfall und -krankheit.
Aus: Randall Davies, The railway centenary. London 1925, S. 3.
„Periculum privatum utilitas publica“ war das Motto der Stockton-
Darlington-Bahn 33 . Eine Notiz im „Lancet“ über die Eisenbahnunfälle
im Jahre 1861 nennt deren Folgen die „sacrifices, paid fort he benefit of
cheap travel“ 34 . „Die Geschichte der Eisenbahnunfälle ist genau so alt wie
die Geschichte der Eisenbahnen“, schreibt K. Müller in „Der Siegeslauf
der Technik“, „hat doch die feierliche Eröffnung der … Eisenbahn … von
Liverpool nach Manchester … mit einem Unfall geendet …“ 35 . Durch diese
Äußerung blickt die Annahme einer finsteren Gesetzmäßigkeit, derzufolge
Fortschritt und Tod Hand in Hand gehen, hindurch. Tatsächlich
hat der Unfall, an dem der Abgeordnete Huskisson bei der Eröffnung
der von ihm sehr geförderten Liverpool-Manchester-Strecke starb, die
Öffentlichkeit vermutlich gerade darum so stark erschüttert, weil sie
weniger wie ein Zufall als wie ein Schicksalsschlag anmutete.
Dasselbe kann von dem großen Unfall auf der Paris-Versailles-
Strecke (1842) gesagt werden. „Noch niemals wurde eine Erfindung
ohne Opfer gemacht“, schrieb bei dieser Gelegenheit ein Pariser Korre-
33 The Influence of Railway Travelling on Public Health. Report of the Commission.
Lancet (1862) Vol. I, S. 15; Davies, Randall, The Railway Centenary. London 1925 (?),
S. 3; Fürst, op. cit., S. 53.
34 Railway Accidents. Lancet (1862) Vol. I, S. 516.
35 Müller, op. cit., S. 112.

Die Büchse der Pandora 307
spondent. „Die Zivilisation gebiert so gut in Wehen und Schmerzen als
die Natur“ 36 . Auch da reagierte die Allgemeinheit nicht einfach rationalvernünftig.
Der Pariser Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung
schrieb: „Das … Ereignis auf der Eisenbahn hat die Stadt mit dem größten
Schrecken erfüllt; ich habe sie weder zur Zeit der Cholera, noch in
den Aufständen von 1832 und 1834 bewegter gesehen. Das Volk wollte
die Eisenbahnen zerstören …“ 37 . Noch viele Tage nachher füllten die
Nachrichten über den Unfall die Spalten auch der Schweizer Zeitungen.
Dem tagelangen Brand von Hamburg, der nicht lange vorher stattgefunden
hatte, war nicht annähernd soviel Aufmerksamkeit zugewendet
worden. Der Hygieniker L.-R. Villermé (1782–1836) verspürte noch
vier Tage nachher eine Verengung auf der Brust, als ob ihm ein riesiges
Gewicht drauf sitze, obwohl er nicht einmal Augenzeuge gewesen war.
Zwanzig Kriegsschlachten und Tausende von Toten und Verwundeten,
schrieb er an seinen Freund L. A.-J. (1796–1874), hätten ihn nicht so
arg hergenommen wie die Nachricht von diesem Ereignis 38 . „Die durch
gewöhnliche Fuhrwerke veranlaßten Unglücksfälle gelangen selten zur
Publizität, während diejenigen auf den Eisenbahnen durch alle Zeitungen
ausposaunt werden“, schreibt die Appenzeller Zeitung anläßlich desselben
Unfalls. Trotzdem sei es ausgemacht, „daß verhältnismäßig weit
mehr Menschen durch gewöhnliche Fuhrwerke, als auf Eisenbahnen, zu
Schaden kommen“ 39 .
Erwartete man von der Eisenbahn den Tod, wieviel mehr mußte man
von ihr Krankheit erwarten. Die ersten größeren Arbeiten über den Einfluß
der Eisenbahn auf die Gesundheit erschienen bald nach der Jahrhundertmitte.
Eine erste Monographie von Franz Rex (1795–1855)
erschien 1854 40 , Edouard Adolpe Duchesne’s „Des chemins de fer et de
leur influence sur la santé des mécaniciens et des chauffeurs“ erschien,
wie C. Devilliers’ „Recherches statistiques et scientifiques sur les maladies
des diverses professions du chemin de fer de Lyon“, 1857 in Paris 41 .
36 Appenzeller Zeitung vom Mittwoch, 18. Mai 1842, S. 198.
37 Neue Zürcher Zeitung vom Mittwoch, 18. Mai 1842, S. 235.
38 Zit. n. Ackerknecht, Erwin H., Villermé and Quetelet. Bull. Hist. Med. XXVI (1952),
S. 327. [Dass jedoch dem Brand von Hamburg „nicht annährend soviel Aufmerksamkeit“
gewidmet wurde, mag für die französische Presse zutreffen; in der Schweizer Presse
jedoch findet man mehr über den Brand als über den Unfall von Meudon. Anm. Fischer-
Homberger, 2007].
39 Appenzeller Zeitung vom Mittwoch, 25. Mai 1842, S. 208–209.
40 Nach Schadewaldt, Hans: Zur Geschichte der Verkehrsmedizin unter besonderer
Berücksichtigung der Schiffahrtsmedizin. In: Handbuch der Verkehrsmedizin, Berlin–
Heidelberg–New York 1968, S. 32–33.
41 Zit. n. Koch, Gisela, und Hoffmann, H., Geschichte der Verkehrsmedizin für den Verkehr
mit Landfahrzeugen von den Anfängen bis zum Ende des 2. Weltkrieges. Zentralblatt
für Verkehrs-Medizin, Verkehrs-Psychologie, Luft- und Raumfahrt-Medizin XV (1969),

308 Esther Fischer-Homberger
1862 kam Max Maria von Webers „Die Gefährdungen des Personals beim
Maschinen- und Fahrdienst der Eisenbahnen“ heraus 42 , in demselben
Jahre druckte das „Lancet“ in England einen „Report of the Commission“
über „The influence of railway travelling on public health“ ab, der später
als Broschüre verkauft wurde 43 . Johannes Riglers (geb. 1839) und Otto
Brähmers (1838–1902) Arbeiten zum Thema erschienen später 44 .
Auch Krankheiten wurden vielfach als Strafe für die neue Errungenschaft
empfunden. „Fast jeder bedeutenden Erfindung“, schreibt der Freiherr von
Weber 1862, „haften, wie der Schatten dem Lichte, gewisse Nachtheile an
…“ 45 . Und Duchesne nahm für seine Arbeit ein Motto nach Auenbrugger:
„Le médecin philosophe voit une foule de maux bien réels prendre naissance
à la source de tant d’utiles et ingénieuses inventions“ 46 . Das Scheppern der
Wagen und das Pfeifen der Lokomotive schädigten das Gehör bis zur Taubheit
47 , der Anblick vorbeiflitzender Objekte ermüdete und schädigte Augen
und Sehbahnen. „Dr. Budd, F. R. S.“, heißt es überdies im „Report“ von
1862, „has directed our attention to the peculiarly dazzling effect of passing
in rapid succession the white telegraph posts, from which the wires seem to
fall and rise, appearing to the eye to undulate“ 48 . Auch das Lesen im Zuge
ermüdete und zerrüttete Augen und Gehirn 49 . Ein typisches Eisenbahn-
S. 224. Vgl. auch Duchesne, E. A., Influence hygiénique des chemins de fer. Annales
d’hygiène publique et de médecine légale XII (1859), S. 470–471.
42 Weber, Max Maria von, Die Gefährdung des Personals beim Maschinen und Fahrdienst
der Eisenbahnen. Eine Denkschrift. Leipzig 1862.
43 The influence of railway travelling on public health. Report of the commission. Lancet
(1862) Vol. I., S. 15–19, 48–53, 79–84, 107–110,l 130–132, 155–158, 231–235 und
258–261.
Noch im selben Jahr kam der Report in London als „shilling volume“ heraus (Lancet
[1862], Vol. II, S. 396).
44 Rigler, Johannes, Über die Folgen der Verletzungen auf Eisenbahnen, insbesondere Verletzungen
des Rückenmarks, Berlin 1879;
Rigler, Johannes, Die im Eisenbahndienst vorkommende Berufskrankheit und Mittel zu
ihrer Abhilfe. Berlin 1880.
Brähmer, Otto, Eisenbahnhygiene. [= Handbuch der Hygiene, Bd. 6, 4. Lieferung]
Jena 1896.
45 Weber, Die Gefährdung …, S. 1.
46 Zit. n. Pietra-Santa, Prosper de, Etude médico–hygiénique sur l’influence qu’exercent les
chemins de fer sur la santé publique. Annales d’hygiène publique et de médecine légale,
2. Serie, XII (1859), S. 16.
47 The influence of railway travelling …, S. 52 und 110.
48 Id., S. 51–52.
49 Id., S. 52. Vgl. auch Legrand du Saulle: De l’influence congestive de la lecture en
chemin-de-fer. Bull. Soc. de méd. prat. de Paris 1863, 8–10.

Die Büchse der Pandora 309
fieber wurde später als Heufieber erkannt 50 . Der große Astronom,
Physiker und Politiker François Arago führte gegen den Bau der Paris-
Versailles-Bahn, die durch ein Tunnel führen mußte, 1836 u. a. folgendes
ins Feld: „Man denke sich ... die Passagiere eines Wagenzuges, die sich
bisher in dieser Temperatur [eines warmen Sommertags] bewegt hatten,
erlitten plötzlich nach der Einfahrt in den Tunnel eine Erniedrigung der
Wärme bis auf 8°. Ein solcher Wechsel wird empfindlichen Personen nothwenig
Schleimflüsse, Husten und Katarrh zuziehen müssen“ 51 . Vorzeitiges
Altern wurde speziell bei Abonnements-Passagieren beobachtet 52 .
Das Rütteln der Wagen wurde für Kranke als zu schwach, für Gesunde
als zu stark betrachtet. „Bekanntlich gehört das Reisen zu den Hauptmitteln
unserer Kunst“, schreibt 1836 ein Arzt, „durch die fortdauernde
Erschütterung. Ich habe Beispiele genug gesehen, wo zur Kur der Hämorrhoiden
und Hypochondrie gar nichts weiter nöthig war ... Dieser große
Vortheil der ... wohltätigen Erschütterung, fällt nun aber ganz weg bei
der Fahrt auf Eisenbahnen. Besonders wichtig tritt dieser Umstand ein,
bei der Reise nach den Bädern ... Wird es also künftig nicht nothwendig
seyn, bei solchen medizinischen Reisen den Kranken ausdrücklich die
Eisenbahnen zu verbieten...?“ 53 Andrerseits wurde das Rütteln der Eisenbahnwagen
seiner Heftigkeit wegen für ungesund erklärt, es provozierte
Frühgeburten, Aborte 54 , Harnverhaltung 55 , Hämorrhoiden 56 , Blutungen
aller Art 57 und – und dies vor allem: Schädigungen des Nervensystems.
Schon die bloße Betrachtung der Eisenbahn erschütterte die Nerven.
„Treffend bezeichnet ein großer Gelehrter ... die Geschwindigkeit, mit
der sich die Züge der Eisenbahnen bewegen, mit dem Ausdrucke einer
‘fast planetarischen’. In der That ist diese Geschwindigkeit eine so abweichende
von allen bis dahin bei Beförderung von Menschen und Gütern
in Anwendung gebrachten, daß sie wohl zum Vergleiche mit überirdischen
Erscheinungen berechtigt ... Die Bedeutung der vorüberrollenden
Massen, die schwindelnde Schnelligkeit, mit der die ... Wagen dröh-
50 Zit. n. Koch und Hoffmann, op. cit., S. 200.
51 Zit. n.: Zur Geschichte der festländischen Eisenbahnen. Zeitung des Vereins deutscher
Eisenbahn-Verwaltungen, Nr. 61 (1862), S. 601.
52 The influence of railway travelling ..., S. 79–80.
53 Ein Wink über die Eisenbahnen in medizinischer Beziehung. Hufelands Journal LXXXII
(1836), 3. Stück, S. 119.
54 Beaugrand, E., Chemins de fer. In: Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales,
hrsg. v. Dechambre, 1. Serie, Bd. 15, Paris 1874, S. 700.
55 The influence of railway travelling ..., S. 131–132.
56 Id., S. 155.
57 Id., S. 132 und 155–156.

310 Esther Fischer-Homberger
nend auf den Schienenwegen dahinschießen und die Luft ... wild aufwirbeln
machen ... alles dies bildet ein Ganzes, welches die jetzt lebende
Generation noch nicht ganz ohne eine gewisse Erschütterung der Nerven
anschauen kann“ 58 , schreibt Max Maria von Weber. Ein berühmt gewordenes
Gutachten des bayrischen Obermedizinalkollegiums aus dem Jahre
1835 59 enthält folgende Passage: „Reisen mit irgend einer Art Dampfmaschine
sollten aus Gesundheitsrücksichten verboten sein. Die raschen
Bewegungen werden bei den Passagieren eine geistige Unruhe, ‘Delirium
furiosum’ genannt, hervorrufen ... Der Anblick einer Lokomotive, die in
voller Schnelligkeit dahinrast, genügt, diese schreckliche Krankheit zu
erzeugen. Es ist daher unbedingt nötig, daß eine wenigstens sechs Fuß
hohe Schranke auf beiden Seiten der Bahn errichtet werde“ 60 .
„The very power of locomotion keeps persons in a state of great nervous
excitement“, sagte Lord Shaftesbury 1859. „I have ascertained that many
persons who have been in the habit of travelling by railway have been obliged
to give it up in consequence of the effect on the nervous system“ 61 .
Und die Ursache solcher Aufregung? „Several eminently careful observers
have, in their communications, alluded to an often experienced condition
of uneasiness ... which pervades the generality of travellers by rail. The
possibility of collision is constantly present to such persons“ 62 . Auch „a
vague dread of certain undefined consequences to health resulting from
influences peculiarly produced by this mode of travelling“ 63 zehrte an den
Nerven der Eisenbahnreisenden. Brown-Séquard, Forbes Winslow, Russell
Reynolds und andere medizinische Autoritäten hielten Eisenbahnreisen
bei Hirnerweichung für kontraindiziert, da sie ohnehin hirnerweichend
wirkten, bei entsprechender Prädisposition rief das Eisenbahnfahren auch
sonstige Hirnkrankheiten hervor 64 . Cerebrospinale Erschöpfung führte
bei Passagieren häufig zu Verschlimmerungen von Abdominalleiden 65 .
Speziell gefährdet waren natürlich immer die Nervensysteme des
Eisenbahnpersonals. Dr. Devilliers, Arzt der Paris-Lyon-Bahn, fand,
daß 1/15 aller Lokomotivführer und Heizer an Hirn- und Rückenmarks-
58 Weber, Die Technik des Eisenbahnbetriebes ..., S. 1.
59 Koch und Hoffmann, op. cit., S. 193. Es handelte sich um die Genehmigung der
Nürnberg–Fürther-Bahn.
60 Zit. n. Jaggi, Arnold, Ein Lesebuch für Schule und Haus. Bern 1936, S. 29. . Bern 1936,
S. 29. [Ein solches Gutachten ist indessen offenbar nie gefunden worden. Ralf Roth,
Das Jahrhundert der Eisenbahn. Ostfildern 2005, S. 50; Roth zitiert F. M. Feldhaus, Ein
medizinisches Gutachten über das Eisenbahnfahren? Mitteilungen zur Geschichte der
Medizin und der Naturwissenschaften 20, 1920. Anm. Fischer-Homberger, 2007]
61 The Influence of railway travelling ..., S. 15.
62 Id., S. 51.
63 Id., S. 15.
64 Id., S. 107.
65 Id., S. 156.

Die Büchse der Pandora 311
leiden krankten 66 . Dr. H. de Martinet berichtete an der Académie des
sciences (1857) über eine spezifische Berufskrankheit der Eisenbahner:
„Le système nerveux est lésé, les sujets maigrissent, la faculté génératrice
s’éteint; le corps est agité de soubresauts, de convulsions, l’intelligence
faiblit“ 67 . Dr. Duchesne hat eine „maladie des mécaniciens“ beschrieben,
ein Krankheitsbild, das sich vorwiegend in allerlei Schmerzen
äußerte. „Ces douleurs dépendent probablement d’une affection de la
moelle épinière, qui a pour cause la station debout trop prolongée et
la trépidation continuelle et presque inévitable des locomotives ...“ 68 .
Der Rücken war überhaupt der Prädilektionsort der Eisenbahnschäden.
Auch dieser historische Befund hat seinen mythologischen Hintergrund.
Gerade im mittleren Drittel des letzten Jahrhunderts nämlich,
in dem die Eisenbahnen der Inbegriff des Modernen waren, waren auch
Rückenleiden ganz außerordentlich en vogue. Die sogenannte „Spinalirritation“,
die Rückenmarksreizung, war das modernste, was man damals
haben konnte, und ähnlich beliebt wie ihre Nachfahrin, die „Neurose“
unserer Zeit, die wie sie den Stempel der Zivilisationskrankheit trägt 69 .
Daß das Rückenmark als Substrat von zivilisatorischen Noxen gedacht
werden konnte, hängt damit zusammen, daß es auch als Sitz eines Teils
der psychischen Funktionen galt.
Die Erforschung der Reflexe hatte die teilweise Autonomie des
Rückenmarks und seiner einzelnen Segmente klargelegt und der Begriff
der „Rückenmarksseele“ geisterte in der Literatur herum. Wer in jener
Zeit also ein Rückenleiden hatte, krankte auch psychisch 70 .
So brachte denn auch das Fahren mit der furchterregenden neuen
Errungenschaft der Zivilisation, der Eisenbahn, typischerweise viele
Rückenleiden. Vermutlich brachte es mehr Rückenleiden, als sich aus
der mangelnden Federung der Züge, aus der Häufigkeit syphilitischer
und tuberkulöser Vorerkrankungen und aus dem Bestehen von Versicherungen
im Eisenbahnwesen hätten erklären lassen. Sicher aber waren
diese Leiden mehr gefürchtet als dies rationalerweise angezeigt gewesen
66 Id., S. 80.
67 Zit. n. Pietra-Santa, op. cit., S. 14. Vgl. auch: The influence of railway travelling ..., S. 80.
Martinet führte dieses nervöse Leiden speziell auf Vergiftung durch die eingeatmeten
Verbrennungsgase zurück.
68 Zit. n. Pietra-Santa, S. 25.
69 Fischer-Homberger, Esther, Hypochondrie. Bern 1970, S. 81–85 und 123–126.
70 Vg l. Fischer-Homberger, Esther, Railway Spine und traumatische Neurose – Seele und
Rückenmark. Gesnerus 27 (1970) 96–111.

312 Esther Fischer-Homberger
wäre. Passagiere 71 , besonders aber das Personal galt natürlich als gefährdet.
M. M. von Weber unterschied zweierlei Sorten von Gefahren, denen
das Eisenbahnpersonal besonders ausgesetzt sei: die „Gefahren mechanischen
Ursprungs“ und die „Gefahren physiologischen Ursprungs“ 72 . Die
Spezifischsten davon nannte er „diejenigen, die von den harten Erschütterungen
der Fahrt ... herrühren ... Die Erschütterungen gehen bei dem
Locomotivpersonale durch die Beine auf das Rückgrat und das Gehirn
über, bei dem Zugpersonale: Schaffner, Oberschaffner etc. erfolgen sie
directer auf die Wirbelsäule ... Die nächsten Folgen der Erschütterungen
zeigen sich ... als Dumpfheit in den Beinen ... Es treten dann auch
häufig Schmerzen im Rückgrat ein und die Abnahme der Intelligenz, die
durch ... die hohe Temperatur in der Nähe des Feuers ... eingeleitet ist,
wird durch diese Einflüsse beschleunigt. Die Erschütterungen des Körpers
scheinen auch zu der Störung der Unterleibsfunctionen, aus denen
ein großer Theil der Krankheiten des Locomotivpersonals erwächst ...
beizutragen ...“ 73
Der Eisenbahnarzt Johannes Rigler (geb. 1839) bestätigt Webers
Annahmen. In seiner Arbeit „Die im Eisenbahndienst vorkommende
Berufskrankheit“ (1880) stellt er „mit positiver Gewißheit“ fest:
„1. daß der Beruf des Maschinenpersonals im Eisenbahndienst ein
besonders consumirender ist und im natürlichen Lauf der Dinge relativ
frühzeitig Invalidität herbeiführt;
2. daß diese Invalidität zumeist in einem eigenthümlich veränderten
Zustand der Nervencentra, einer Irritation derselben, ihren Grund hat,
und daß wir in dieser Irritation die recht eigentlich professionelle Krankheit
des Maschinenpersonals erkennen müssen“ 74 . Diese Irritation war
aber charakteristischerweise ebensosehr im Rückenmark als im Gehirn
lokalisiert.
Ein außerordentlich häufiges Krankheitsbild der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts war ferner die sogenannte „Railway-Spine“. Die
„Railway-Spine“ war das typische Rückenleiden nach Eisenbahnunfall.
Es betraf Passagiere wie Angestellte. Bei letzteren konnte es auch
durch chronische Einwirkungen entstehen. Die „Railway-Spine“, die
bald auch „Railway-Brain“ genannt wurde, ist die begriffliche Ahnin der
71 The influence of railway travelling ..., S. 79–80 und 108–109.
72 Weber, Die Gefährdungen des Personals ..., S. 3.
73 Id., S. 33–34.
74 Rigler, Die im Eisenbahndienst vorkommende Berufskrankheit..., S. 13.

Die Büchse der Pandora 313
späteren traumatischen Neurose und der Schreckneurose 75 – ein interessantes
Analog zur Entwicklung der Neurose im allgemeinen aus der Spinalirritation.
Die klassische Beschreibung dieses Krankheitsbildes stammt
von dem englischen Chirurgen John Eric Erichsen (1818–1896), der es
allerdings „concussion of the spine“ nannte und nicht „railway spine“.
Denn er fand, wie viele nach ihm, dieses Krankheitsbild entstünde zwar
vorzugsweise anläßlich von Eisenbahnunfällen, denn diese seien häufig
und wirkten besonders entsetzlich auf das Gemüt 76 . Aber doch fand
Erichsen, daß prinzipiell jeder Unfall geeignet sein könne, eine Rückenmarkserschütterung
hervorzurufen. Die Symptome waren hauptsächlich:
Schlechtes Aussehen, schlechtes Gedächtnis, schlechter Schlaf, schlechte
Laune und verwirrtes Denken, Kopfweh, Störungen von Augen, Gehör,
Sprache, Sensibilität und Motilität, vegetative Symptome und Rückenschmerz
77 . Johannes Rigler nahm dann später (1879) doch an, daß es
sich bei der Railway Spine um ein spezifisches Eisenbahnleiden handle.
„Die eigenthümliche Art, sowie die Intensität ... des Vorganges, sowie ...
die ... Erschütterung stellen Momente dar, wie sie in gleicher Weise eben
nur bei Zusammenstößen auf Eisenbahnen gegeben sind, so daß hier in
Wirklichkeit eine Affektion ganz besonderer Art, die recht eigentliche
‘railway spine’, vorliegt, ...“ Doch nimmt Rigler echte Railway Spine nur
dann an, wenn der Verunfallte im Augenblick des Unfalles „dem Punkte
des Zusammenstoßes den Rücken zuwandte“ 78 .
Rigler kannte aber noch ein anderes spezifisches Eisenbahnleiden.
Dieses wurde leicht mit anderen, organischen Rückenmarkskrankheiten
verwechselt 79 . Durch den Einfluß der Berufsschädlichkeiten entstehe,
schreibt er, „bei den Beamten des Maschinen- und Fahrdienstes
eine ... Irritation der Nervencentra, welche im gewöhnlichen Laufe
der Dinge allerdings erst nach ... geraumer ... Dienstzeit deutlicher zu
Tage tritt, unter der Einwirkung einer äußeren Gewalt aber oder auch
nur des Shock, vorzeitig und in sehr gesteigertem Grade sich bemerklich
machen kann.“ Es kommt dann zu einem Zustande spinaler Irritation
75 Vg l. Fischer-Homberger, Railway Spine ... und: Ursachen der traumatischen Neurose von
der „Railway Spine“ bis nach dem Ersten Weltkrieg. Noch unpubliziert. [Nachtrag fh
2008: Die Publikation erfolgte 1975: Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum
sozialen Leiden. Huber: Bern-Stuttgart-Wien; Neudruck mit Vorwort von Günter H.
Seidler, Psychosozial-Verlag: Giessen 2004.]
76 Erichsen, John Eric, On railway and other injuries of the nervous system. Philadelphia
1867, S. 20ff. Vgl. auch Oppenheim, Hermann, Railway-Spine. In: Real-Encyclopädie
der gesammten Heilkunde, hrsg. v. A. Eulenburg, 2. Aufl., Bd 16, Wien–Leipzig 1888, S.
384ff.
77 Erichsen, op. cit., S. 72 ff.
78 Rigler, Über die Folgen der Verletzungen ..., S. 36.
79 Id., S. 123.

314 Esther Fischer-Homberger
mit „krankhafter Abneigung gegen die gewohnte Thätigkeit“, zu einem
„so besonderen und eigenthümlichen Zustand ..., daß es gerechtfertigt
erscheinen dürfte, denselben als einen ganz specifischen und zwar als den
einer ‘Siderodromophobie’ aufzufassen ...“ 80
Mit der Zeit gewöhnte man sich an die Eisenbahn. Neue Errungenschaften
der Technik zogen den Mythos von der Zivilisationskrankheit
auf sich – allerdings nie mehr mit derselben Heftigkeit wie die Eisenbahn.
Die meisten Eisenbahnkrankheiten verschwanden wie Schnee in
der Sonne, als die Eisenbahn allmählich zum gewöhnlichen und gar zum
gemütlichen Verkehrsmittel wurde. Auch dieser Umstand weist darauf
hin, daß der Mythos von der Zivilisationskrankheit hinter den Eisenbahnkrankheiten
des 19. Jahrhunderts steht.
*
Ich habe versucht, die Eisenbahnkrankheiten des letzten Jahrhunderts
in ihrem mythologischen Aspekt, als Preis oder Strafe für den zivilisatorischen
Fortschritt, als Übel aus Pandoras Büchse, darzustellen. Ich habe
versucht, zu zeigen, daß hinter den medizinisch-naturwissenschaftlichen
Theorien von den schädlichen Wirkungen der Eisenbahn eine mythisch
motivierte Angst steht.
Bemerkenswert und interessant war dabei, daß der Feststellung dieser
Angst wesentliche methodologische Schwierigkeiten entgegenstanden.
Niemand will nämlich diese Angst, die sich nicht auf reale Gefahren
kausal zurückführen lässt, die nur im Rahmen einer irrationalen Denkweise
logisch erscheint, selbst verspürt haben. Nicht die Angst an sich
wird geleugnet, wohl aber deren irrationale Quelle, denn irrationales
Denken ist als unvernünftig diskriminiert. Das verbindliche Denken ist
das rationale 81 .
So findet man die irrationale Eisenbahnangst in den der Geschichtsschreibung
einigermaßen leicht zugänglichen Dokumenten des 19. Jahrhunderts
praktisch nur als Objekt der Kritik. Man findet Gedichte,
Witze und Karikaturen darüber. Auch der Freiherr von Weber hat eine
humoristische Erzählung, „Der Nervendämon auf der Eisenbahn“,
geschrieben 82 . Häufig findet man ferner die irrationale Eisenbahnangst
an anderen beobachtet und beschrieben: an Kindern, Unterentwickelten,
Geisteskranken, Frauen; an der Masse, zu der sich noch nie jemand ge-
80 Id., S. 118–119.
81 Dies gilt für die Zeit, von der wir hier sprechen, in ganz besonderem Maße. Vgl. de Vries,
Jan, Forschungsgeschichte der Mythologie. Freiburg–München 1961, S. 199 ff.
82 Weihe, Carl, Max Maria von Weber. Ein Lebensbild des Dichter-Ingenieurs. Berlin 1917,
S. 42.

Die Büchse der Pandora 315
zählt hat und – das muß den Historiker interessieren – an denen, die
früher gelebt haben.
„Wie gross“, schreibt 1845 eine Zeitung anläßlich eines Eisenbahnunfalles,
„war früher das Vorurtheil gegen Eisenbahnen! Mancher bediente
sich ihrer nur mit Angst und Widerstreben und nach einem Abschiede
von den Seinigen, als ob es in den Tod ginge! Jetzt hat ... die Furcht ... sich
verloren und nur in wenigen Gegenden Deutschlands, z.B. in Österreich,
finden wir mitunter noch antilocomotive Vorurtheile. Es ist in der That
etwas sehr Thörichtes um diese Furcht vor dem Dampfwagen!“ 83
So sind auch die obenzitierten Ausdrücke, die auf eine mythische Eisenbahnangst
hindeuten größtenteils nicht unmittelbare eigene Äußerungen
der Autoren, bei denen sie sich finden. Auch sie sind anderen in Mund
und Geist gelegt. Die referierenden Autoren selbst glauben nicht, daß
auf zivilisatorischen Fortschritt mit gesetzmäßiger Notwendigkeit ein
entsprechendes Quantum neuen Übels folge. Sie identifizieren sich mit
einem rational-technischen Denken. Wo sie mythischen Denkmustern
bei sich selbst aber doch begegnen und sie sich darüber äußern, distanzieren
sie sich davon. So fügt Villermé dem Geständnis seines unverhältnismäßig
großen Schrecks über den Unfall auf der Paris–Versailles–Strecke
bei: „Cela n’empèchera pas d’ailleurs une seule fois les gens raisonables de
prendre les chemins de fer“ 84 .
So wird das mythische Denken 85 , aus dem sich vermutlich der größte
Teil der Angst des 19. Jahrhunderts vor Eisenbahnunfall und Eisenbahnkrankheit
ableitet, historisch kaum je direkt faßbar. Auch aus
dem Bewußtsein derer, die mit Eisenbahnkrankheiten zu tun hatten,
waren „antilocomotive Vorurtheile“ ja verbannt: die Angst vor Eisenbahnkrankheiten
beruhte nicht auf Vorurteilen, sondern auf rationaler
Beurteilung der Schädlichkeit des Eisenbahnfahrens. Man fürchtete die
meß- und wägbaren Erschütterungen, Dämpfe, Geschwindigkeiten und
Temperaturschwankungen. Es ist, nebenbei bemerkt, in diesem Zusammenhange
interessant, was Gustav Schwab über die Übel aus Pandoras
Büchse schreibt: „Die Krankheiten irrten bei Tage und bei Nacht unter
83 Zit. n. Volmar, op. cit., S. 87–88.
84 Zit. n. Ackerknecht, op. cit., S. 327.
85 „Mythisches Denken“ ist hier also nicht so sehr im Sinne Cassirers (Ernst Cassirer: Sprache
und Mythos. Leipzig–Berlin 1925) von seinen allfälligen formalen und inhaltlichen
Merkmalen her verstanden als vielmehr im Sinne des von Cassirer (op. cit., S. 3 ff.) kritisierten
Max Müller, der von der Mythologie sagt: „Sie ist ... der Schatten, welchen die
Sprache auf den Gedanken wirft...“

316 Esther Fischer-Homberger
den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen
keine Stimme gegeben“ 86 .
Entsprechend verliert sich auch der Ursprung des Begriffs der „Railway
Spine“ im Nichtformulierten – und ebenso der Begriff der „Rückenmarksseele“,
die mit der Railway Spine und den übrigen Eisenbahn-
Rückenkrankheiten doch eng zusammenhängt. Die „Rückenmarksseele“,
für die Pflüger so oft zitiert und kritisiert wird, findet sich nämlich bei
Pflüger wiederum nur als kritisiertes Zitat: Pflüger empfindet es als eine
Ironisierung seiner Ansichten, daß er der „Entdecker der ‘Rückenmarksseele’“
genannt wurde 87 . Die historische Wurzel der „Railway Spine“ zu
finden, ist bisher ja auch nicht gelungen. Sicher ist nur, daß sie nicht, wie
gemeinhin angenommen, bei Erichsen liegt 88 .
Es ist schwierig, mit historisch wurzellosen Größen, wie es diese
Rückenmarksseele und die Railway Spine, aber auch die „Eisenbahnkrankheiten“
überhaupt sind, mit Größen, deren Ursprünge in a- und
parahistorischen Bereichen liegen, historisch umzugehen. Es ist schwierig,
weil die Argumentation dabei erschwert ist. Wenn die mythische
Denkweise, die wir als die Quelle eines großen Teils der Eisenbahnangst
des 19. Jahrhunderts betrachten oder vermuten, nicht regelrecht aktenkundig
ist, wie können wir als Historiker behaupten, daß es sie je gegeben
habe? Wenn sie in ihrer historisch wirksamen Form, in Form der assoziativen
Selbstverständlichkeit, historisch nicht greifbar ist, darf der Historiker
dann überhaupt mit ihr rechnen? Psychologische Argumentation
in historischen Dingen ist fragwürdig: man darf nicht einfach denen eine
irrationale Eisenbahnangst imputieren, die solche Angst distanznehmend
beschreiben. Der Historiker darf keine Projektionsmechanismen in die
Vergangenheit projizieren, wo sich diese historisch nicht als solche bestätigen
lassen.
Und doch versteht man einen Teil der historischen Tatsachen und
Geschehnisse kaum, wenn man mit solcher Angst nicht rechnet. Man
versteht dann kaum die enorme Erregung der Pariser Bevölkerung bei
jenem Unfall im Jahre 1842. Man steht der enormen Verbreitung der
Eisenbahnkrankheiten im 19. Jahrhundert und deren plötzlichem weitgehenden
Verschwinden gegen Ende jenes Jahrhunderts dann mehr oder
86 Schwab, Gustav, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. 2. Ausg., Basel 1948,
Bd. 1, S. 17.
87 Pflueger, Eduard, Bemerkungen zur Physiologie des centralen Nervensystems. Arch. für
die gesamte Physiologie XV (1877), S. 151.
88 Fischer-Homberger, Railway Spine..., S. 96–97. Vgl. Erichsen, op. cit., S. 22–23.

Die Büchse der Pandora 317
weniger verständnislos gegenüber. Auch die Tatsache, daß die Eisenbahnen
vor allem den Rücken schädigten, muß dann schwer begreiflich
erscheinen. So sind denn in vielen Fällen Mythen die historischen Realitäten,
mit denen die Geschichte arbeiten muß – unter Mythen sind dabei
Assoziationssysteme verstanden, die nur als Objekte rationaler Kritik
historisch werden. Die Geschichtsschreibung muß sich in solchen Fällen
aber bewusst bleiben, daß sie über methodologische Abgründe geht.
Zum Schluss sei hier noch ein Text von Jeremias Gotthelf (1797–1854)
vorgelegt, in dem das Von-Sich-Wegschieben der irrationalen Angst vor
der Eisenbahn dichterisch beschrieben ist. Er entstammt dem zweitletzten
Kapitel von „Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die
Schweiz“ (1846/47). „Jakob machte Einwendungen gegen die Eisenbahnen
...“ heißt es da. „Er fürchtete sich vor der dämonischen Macht, welche
die Menschen dahinführt akkurat wie der Teufel die armen Seelen
der Hölle zu, ohne daß sie was daran mehr machen können, wenn das
Ding einmal im Lauf ist. Er hatte viel von Unglück gehört, schrecklichen
Dingen, wie man verbrennen könne, wie man könne gesotten werden, ...
wie man könne in die Luft gesprengt werden, daß man sein Lebtag nicht
mehr zu Boden komme, so hoch hinauf. Im Waadtlande hatte er erzählen
hören, ein solcher Zug sei einmal ausgerissen, ganz ab der Kette gekommen
und davongefahren. Am grünen Vorgebirge habe man ihn noch gesehen,
seither aber nichts mehr davon erfahren, bloß Arago, der berühmte
Pariser Sterngucker, ... wollte ihn am hintersten Mond des Jupiters haben
vorbeisausen sehen. Jakob glaubte es nun freilich nicht, er machte bloß
Eindruck auf ihn, im Waadtlande hatte es aber viel Glauben gefunden, die
Waadtländer sind ein sehr gläubiges Volk, in solchen Dingen nämlich“ 89 .
Die Grenzen, die historischer Aussage gesetzt sind, werden hier also
dichterisch überschritten: Gotthelf legt nahe, daß Jakob an ähnlichen
Ängsten leidet wie die Waadtländer. Wir dürften als Historiker aus dieser
Erzählung nicht schließen, daß Gotthelf von Jakobs Ängsten je berührt
worden sei.
Ich möchte Dr. med. H. Kradolfer, Bahnärztlicher Dienst und dem Personal der SBB-
Bibliothek Bern, speziell Mme. M. Chappuis, noch besonders für ihre Hilfe danken.
Dr. med. Esther Fischer-Homberger, Medizinhistorisches Institut der Universität
CH-8006 Zürich, Im Turm der Universität.
89 Gotthelf, Jeremias, Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz.
Zürich–München–Leipzig 1923, S. 489–490.