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Freimaurer in Aschersleben - Stephaneum

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Schulwettbewerb „Alles<br />

Rechtens“ 2008/2009<br />

Justiz im Nationalsozialismus<br />

Europaschule <strong>Stephaneum</strong> Rechtskundekurs 11<br />

Frau Jentsch<br />

26.03.2009


Justiz im Nationalsozialismus:<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

1. Vorwort<br />

2. Über den Niedergang von Recht und Justiz von 1933- 1945<br />

3. Ausgrenzung und Diskrim<strong>in</strong>ierung der Juden als Ausdruck<br />

nationalsozialistischer Politik 1933-1939<br />

4. Justiz im Nationalsozialismus <strong>in</strong> unserem Heimatort <strong>Aschersleben</strong><br />

- Spurensuche<br />

4.1. Die jüdische Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong><br />

4.2. Der jüdische Friedhof<br />

4.3. Das Junkers - KZ<br />

4.4. Jüdische Geschäftsleute<br />

4.5. Kommunistischer und sozialdemokratischer Widerstand<br />

4.6. Über das Verbot der <strong>Freimaurer</strong><br />

4.7. Zwangsarbeiterlager<br />

5. Zeitzeugen berichten<br />

5.1. Fred Kollwitz über die Deportation Adolf Conitzers<br />

5.2. Thomas Geve<br />

5.3. Margarete L<strong>in</strong>demann<br />

5.4. Helmut Ehrig<br />

6. Manipulation der Menschen durch Sprache<br />

6.1. Schülerarbeiten<br />

7. Die „Euthanasieaktion T4“<br />

7.1. Begriff<br />

7.2. Historische H<strong>in</strong>tergründe und Entwicklung<br />

7.3. Anfangsplanung und Organisationsstruktur<br />

7.4. Die verme<strong>in</strong>tlichen Pflege- und Heilanstalten<br />

7.5. Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg als regionales Beispiel<br />

7.6. „Der Gnadentod“<br />

8. Quellenverzeichnis<br />

9. Anhang<br />

1


1. Vorwort<br />

Liebe Leser, liebe Jury,<br />

mit Freude haben wir vernommen, dass nun nach langem Warten der<br />

landesweite Schulwettbewerb „Alles rechtens?“ für das Schuljahr 2008/09<br />

ausgeschrieben wurde. Für uns stand fest, dass wir uns an diesem Wettbewerb<br />

unter dem Thema „Justiz im Nationalsozialismus“ beteiligen werden. Da über<br />

die Zeit des Nationalsozialismus bereits sehr viel geforscht, geschrieben und<br />

recherchiert wurde, fiel es uns zunächst nicht leicht diese Problematik<br />

anzupacken, haben wir doch im Unterricht über dieses dunkle Kapitel deutscher<br />

Geschichte bereits viel erfahren. So dauerte es e<strong>in</strong>e geraume Zeit bis wir uns<br />

entschlossen, unsere Stadt <strong>in</strong> dieser Zeit näher unter die Lupe zu nehmen. Wir<br />

begannen Material zusammenzutragen. Dabei kontaktierten wir Mitarbeiter des<br />

Stadtarchivs <strong>Aschersleben</strong>, des Museums, sprachen <strong>in</strong> der Lokalredaktion der<br />

Mitteldeutschen Zeitung vor, spürten Zeitzeugen auf, lasen <strong>in</strong> Büchern nach,<br />

nahmen an der wissenschaftlichen Konferenz der Mart<strong>in</strong>-Luther-Universität<br />

Halle-Wittenberg sowie am Bernburger Schlossgespräch teil. Auch der Besuch<br />

der Ausstellung am Landgericht Halle „Justiz im Nationalsozialismus: Über<br />

Verbrechen im Namen des Volkes“ sowie der Euthanasie–Gedenkstätte<br />

Bernburg stehen noch auf unserem Programm. Die E<strong>in</strong>zelbeiträge jedes Schülers<br />

stellten wir zu diesem Gesamtprojekt zusammen. So hat jeder Schüler zum<br />

Gel<strong>in</strong>gen des Projektes beigetragen.<br />

Unsere hier präsentierten Ergebnisse s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>esfalls vollständig. An e<strong>in</strong>igen<br />

Stellen fehlte uns die Zeit und an anderen Stellen sicherlich die nötige<br />

Fachkompetenz, um noch weitergehende Nachforschungen anzustellen.<br />

Danken möchten wir an dieser Stelle allen, die uns hilfreich unterstützt haben.<br />

Der Rechtskundekurs Klasse 11 des Gymnasiums <strong>Stephaneum</strong> <strong>Aschersleben</strong>:<br />

2


2. Der Niedergang der Justiz im Dritten Reich<br />

Zum Erbe des Dritten Reiches gehörte unendliches menschliches Leid, zerstörte<br />

politische Kultur, <strong>in</strong> Schutt und Asche liegende Städte und e<strong>in</strong>e völlig ihres<br />

Auftrages beraubte Justiz. Sie entpuppte sich als Handlanger des totalitären<br />

Regimes, was die im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Gesetze seit 1933 und<br />

die Statistiken des Reichsjustizm<strong>in</strong>isteriums bis Ende 1944 beweisen. Nach<br />

diesen Daten wurden im genannten Zeitraum ca. 16500 Todesurteile vollstreckt.<br />

Die Mehrheit der deutschen Juristen begrüßte die Machtübernahme durch Hitler<br />

und die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. Schon bald wurden das Recht<br />

und die Justiz zum Instrument politischer Verfolgung <strong>in</strong> Deutschland. Bereits im<br />

Februar 1933 wurden mit Hilfe des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung<br />

Grundrechte wie das Recht auf freie Me<strong>in</strong>ungsäußerung und die Vere<strong>in</strong>s- und<br />

Versammlungsfreiheit unter dem Vorwand, e<strong>in</strong>en kommunistischen<br />

Umsturzversuch zu unterb<strong>in</strong>den, außer Kraft gesetzt. Weitere Verordnungen<br />

zum Schutz des Staates vor der politischen Opposition und vor Hoch- und<br />

Landesverrätern folgten. Im Jahre 1934 wurde der Volksgerichtshof gegründet,<br />

der <strong>in</strong> erster und letzter Instanz für Hochverrat zuständig war. Die Angeklagten<br />

hatten wohl kaum e<strong>in</strong>e Chance auf e<strong>in</strong>en fairen Prozess, denn die Richter waren<br />

besonders l<strong>in</strong>ientreu bzw. kamen aus den Reihen der NSDAP und ihrer<br />

Organisationen. Außerdem wurden die Sondergerichte, die <strong>in</strong> der Endphase der<br />

Weimarer Republik gegen politische Krim<strong>in</strong>elle e<strong>in</strong>gesetzt wurden,<br />

wiederbelebt. Gegen die Urteile dieser Sondergerichte gab es ke<strong>in</strong>e<br />

Rechtsmittel. Erschien dem Gericht die Schuld des Angeklagten als erwiesen, so<br />

verzichtete das Gericht auf entlastende Beweise des Angeklagten und es gab e<strong>in</strong><br />

schnelles Prozessende.<br />

Als Hochverrat bewerteten die Gerichte bereits das Hören von Radio Moskau,<br />

die Weitergabe ant<strong>in</strong>ationalsozialistischer Schriften oder die Unterstützung von<br />

wegen Hochverrats Inhaftierten.<br />

Auch der Staatspolizei räumte man mit der Verordnung zum Schutz von Volk<br />

und Staat vom 28. Februar 1933 weitestgehend Handlungsfreiheit, wenn es um<br />

die Abwehr staatsgefährdender Handlungen g<strong>in</strong>g.<br />

Polizeiaktionen bzw. rechtlich fragwürdige Verordnungen galten nicht nur<br />

Mitgliedern und Sympathisanten von KPD und SPD, sondern auch den Zeugen<br />

Jehovas. Sie wurden bereits 1933 von den Innenm<strong>in</strong>istern der Länder als<br />

staatsfe<strong>in</strong>dliche Organisationen verboten. Schon während der Zeit der Weimarer<br />

Republik wurden sie von den nationalen Rechten wegen ihrer<br />

antimilitaristischen Ges<strong>in</strong>nung verleumdet, obwohl die Weimarer Verfassung<br />

das Recht auf Religionsfreiheit garantierte.<br />

Katholische Geistliche, die besonders Mitte der 30er Jahre Kritik am NS-<br />

Regime übten, hatten sich wegen ihrer Predigten vor den Sondergerichten zu<br />

verantworten.<br />

3


Die neuen Machthaber <strong>in</strong> Deutschland benutzten das Recht und die Justiz auch,<br />

um die „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ von rassischen und sozialen „Volksschädl<strong>in</strong>gen“<br />

zu re<strong>in</strong>igen. So wurden immer mehr Gruppen der deutschen Bevölkerung aus<br />

rassischen, sozialen und ideologischen Gründen ausgegrenzt, verfolgt und<br />

vernichtet. Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“<br />

vom 07. April 1933 wurden die Beamten aus dem Staatsdienst entlassen, die<br />

republikanischen Parteien angehörten und alle „Nichtarier“, also Juden. Die<br />

Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er „Rasse“ bestimmte fortan die Rechtsstellung des<br />

E<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong> der „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“. Die Stellung der Juden wurde mit den<br />

sogenannten Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935 beschrieben:<br />

Reichsbürgergesetz, Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen<br />

Ehre. Da darüber, wer nun als Jude anzusehen war, ke<strong>in</strong>es der beiden Gesetze<br />

Auskunft gab, folgte e<strong>in</strong>e Klarstellung des Sachverhaltes durch e<strong>in</strong>e Verordnung<br />

am 14. November 1935, nach der zufolge als Jude galt, wer von m<strong>in</strong>destens drei<br />

jüdischen Großeltern abstammte. Die Lösung von Fragen bezüglich des<br />

„Rasserechts“ legte man <strong>in</strong> die Obhut der Gerichte. So entschieden Gerichte<br />

zum Beispiel über den Arbeitsplatz oder Wohnung e<strong>in</strong>es Juden.<br />

Ebenso zum Schutz und zur „Re<strong>in</strong>haltung“ der „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ konnten<br />

nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933<br />

„Erbkranke“ (u.a. Schwachs<strong>in</strong>nige, schwer Missgebildete, Alkoholiker) auf<br />

Beschluss e<strong>in</strong>es Erbgesundheitsgerichts sterilisiert werden. Schätzungen zufolge<br />

betraf dies m<strong>in</strong>destens 200000 Menschen. Diese Veränderungen von Recht und<br />

Justiz erweiterten schrittweise die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft<br />

e<strong>in</strong>erseits und schränkten die Rechte der Angeklagten andererseits e<strong>in</strong>. Nach<br />

dem „Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches“ vom 28. Juni 1935 war es<br />

sogar möglich, e<strong>in</strong>e Tat, die nicht im StGB als solche ausgewiesen ist, zu<br />

verurteilen, wenn sie sich gegen die „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ richtet. Von<br />

rechtsstaatlichen Pr<strong>in</strong>zipien hatte man sich längst verabschiedet. Allgeme<strong>in</strong>e<br />

Richtl<strong>in</strong>ien des Reichsjuristenführers Hans Frank wie „Recht ist, was dem Volke<br />

nutzt“ oder „Geme<strong>in</strong>nutz geht vor Eigennutz“ diente den deutschen Juristen als<br />

Maßstab der Verurteilung.<br />

1936 legte das Reichsjustizm<strong>in</strong>isterium dem „obersten Gerichtsherren“ des<br />

Reiches Adolf Hitler den Entwurf für e<strong>in</strong> neues Strafgesetzbuch vor, welches<br />

den Grundsätzen des nationalsozialistischen Rechtsdenkens entsprach. Aber<br />

Hitler unterzeichnete dies nicht, weil er wohl fürchtete, se<strong>in</strong>e une<strong>in</strong>geschränkte<br />

Macht e<strong>in</strong>zubüßen. (1)<br />

4


3. Ausgrenzung und Diskrim<strong>in</strong>ierung der Juden<br />

als Ausdruck nationalsozialistischer Politik<br />

1933 bis 1939<br />

Das im April 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des<br />

Berufsbeamtentums“ diente der Entfernung politischer Gegner aus dem<br />

öffentlichen Dienst. Insbesondere betroffen davon waren alle Beamten jüdischer<br />

Herkunft.<br />

Mit dem ebenfalls im April `33 erlassenem „Gesetz gegen die Überfüllung der<br />

deutschen Schulen und Hochschulen“ wurde die Zahl von Juden an<br />

Bildungsanstalten begrenzt.<br />

Weitere Gesetze zur Ausschließung von Juden aus der Gesellschaft folgten, bis<br />

zum Erlassen der „Nürnberger Gesetze“ ( A1) im September 1935. Das<br />

„Reichsbürgergesetz“ ( A2) degradierte die deutschen Juden zu Bürgern<br />

zweiter Klasse und verbat ihnen durch das „Gesetz zum Schutz des deutschen<br />

Blutes und der deutschen Ehre“ die Eheschließung mit Nichtjuden.<br />

Die Nürnberger Gesetze bildeten die Grundlage für weitere Diskrim<strong>in</strong>ierung. So<br />

wurde zum Beispiel k<strong>in</strong>derreichen jüdischen Familien ab März 1936 ke<strong>in</strong>e<br />

Beihilfe mehr angeboten und Ende April 1938 wurden alle Juden gezwungen ihr<br />

Vermögen zu deklarieren.<br />

Im Allgeme<strong>in</strong>en hatten sich ab Herbst 1938 die Existenzbed<strong>in</strong>gungen für Juden<br />

aufgrund staatlich geplanter und verordneter Diskrim<strong>in</strong>ierungen drastisch<br />

verschlechtert.<br />

H<strong>in</strong>zu kam, dass polnische Juden, welche mehr als fünf Jahre im Ausland<br />

lebten, durch e<strong>in</strong> Gesetz der polnischen Regierung vom 31. März 1938<br />

beg<strong>in</strong>nend Staatenlos wurden. Dies wurde von der Gestapo genutzt, um alle <strong>in</strong><br />

Deutschland lebenden polnischen Juden nach Polen abzuschieben. Aufgrund der<br />

Grenzschließung Polens, kam es dazu, dass ca. 17000 Juden nun mehr im<br />

Niemandsland zwischen Deutschland und Polen umher irrten.<br />

Unter ihnen auch e<strong>in</strong>e Familie Grünspan, deren Sohn Herschel Grünspan,<br />

geplagt von den Erlebnissen se<strong>in</strong>er Familie, am 7. November 1938 den<br />

Legationssekretär Ernst vom Rath erschoss. Den Nationalsozialisten war die Tat<br />

sehr willkommen, sie wurde zur Verschwörung des „Weltjudentums“ gegen das<br />

deutsche Reich emporstilisiert und diente der E<strong>in</strong>leitung der endgültigen<br />

Ausgrenzung der deutschen Juden aus allen sozialen und ökonomischen<br />

Zusammenhängen.<br />

Das Attentat diente als Grund für die Inszenierung der Reichspogromnacht am<br />

9. November 1938.<br />

Das reichsweit <strong>in</strong>szenierte Pogrom begann nach der Goebbels – Rede am Abend<br />

im Alten Rathaus <strong>in</strong> München. Um 21 Uhr wurde der Tod Ernst vom Raths<br />

5


ekannt gegeben und gegen 22 Uhr riefen die NSDAP- und SA-Führer zur<br />

Vergeltung auf.<br />

Wenig später brannten Synagogen, jüdische Mitmenschen wurden gedemütigt,<br />

verhöhnt, misshandelt und ausgeplündert. In den Tagen nach dem 9. November<br />

wurden im Deutschen Reich ca. 30000 jüdische Männer verhaftet und nach<br />

Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen deportiert. Die materielle Bilanz<br />

verlief auf 7500 zerstörte jüdische Geschäfte und Niederbrennung fast aller<br />

Synagogen im Deutschen Reich.<br />

Der weitere Kurs <strong>in</strong> der nationalsozialistischen Politik gegenüber Juden wurde<br />

auf e<strong>in</strong>er Parteisitzung am 12. November festgelegt. Goebbels stellte die<br />

Ghettoisierung, Deportation und Vernichtung deutscher Juden propagandistisch<br />

als Volkswillen dar.<br />

Neben der Vernichtung der Juden wurde ihnen e<strong>in</strong>e „Buße“ <strong>in</strong> Höhe von e<strong>in</strong>er<br />

Milliarde Reichsmark auferlegt, tatsächlich waren es jedoch 1,12 Milliarden.<br />

Des Weiteren wurde über Maßnahmen zur endgültigen Ausgrenzung deutscher<br />

Juden aus der Gesellschaft nachgedacht. Diese Maßnahmen reichten vom<br />

Verbot des Betretens des deutschen Waldes über die Beseitigung von<br />

Synagogen zugunsten von Parkplätzen bis h<strong>in</strong> zur Kennzeichnung von Juden<br />

durch bestimmte Trachten.<br />

Die meisten Vorschläge wurden <strong>in</strong> der Folgezeit realisiert. Die physische<br />

Vernichtung bildete somit nur noch die letzte Station des Weges, der im<br />

November 1938 bewusst und öffentlich e<strong>in</strong>geschlagen wurde. (2)<br />

Anhang A1:<br />

Gesetze zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom<br />

15.09.1935:<br />

Durchdrungen von der Erkenntnis, dass die Re<strong>in</strong>heit des deutschen Blutes die<br />

Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von<br />

dem unbeugsamen Willen, die deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat<br />

der Reichstag e<strong>in</strong>stimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit<br />

verkündet wird:<br />

§ 1<br />

(1) Eheschließung zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder<br />

artenverwandten Blutes s<strong>in</strong>d verboten. Trotzdem geschlossene Ehen s<strong>in</strong>d<br />

nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland<br />

geschlossen s<strong>in</strong>d.<br />

(2) Die Nichtigkeitsklage kann nur der Staatsanwalt erheben.<br />

6


§ 2<br />

§ 3<br />

§ 4<br />

§ 5<br />

§ 6<br />

§ 7<br />

Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen<br />

und artenverwandten Blutes ist verboten.<br />

Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder<br />

artenverwandten Blutes unter 45 Jahren <strong>in</strong> ihrem Haushalt nicht<br />

beschäftigen.<br />

(1) Juden ist das Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der<br />

Reichsfarben verboten.<br />

(2) Dagegen ist ihnen das Zeigen der jüdischen Farben gestattet. Die<br />

Ausübung dieser Befugnis steht unter staatlichem Schutz.<br />

(1) Wer dem Verbot des § 1 zuwiderhandelt, wird mit Zuchthaus bestraft.<br />

(2) Der Mann, der dem Verbot des § 2 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis<br />

oder mit Zuchthaus bestraft.<br />

(3) Wer den Bestimmungen der §§ 3 oder 4 zuwiderhandelt, wird mit<br />

Gefängnis bis zu e<strong>in</strong>em Jahr und mit Geldstrafe oder mit e<strong>in</strong>er dieser<br />

Strafen bestraft.<br />

Der Reichsm<strong>in</strong>ister des Inneren erlässt im E<strong>in</strong>vernehmen mit dem<br />

Stellvertreter des Führers und dem Reichsm<strong>in</strong>ister der Justiz die zur<br />

Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und<br />

Verwaltungsvorschriften.<br />

Das Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung, § 3 jedoch erst am 1.<br />

Januar 1936 <strong>in</strong> Kraft.(3)<br />

7


Anhang A2:<br />

Reichsbürgergesetz 15.09.1935:<br />

§ 1<br />

§ 2<br />

§ 3<br />

(1) Staatsbürger ist, wer dem Schutzverband des Deutschen Reiches<br />

angehört und ihm dafür besonders verpflichtet ist.<br />

(2) Die Staatsangehörigkeit wird nach den Vorschriften des Reichs- und<br />

Staatsangehörigkeitsgesetzes erworben.<br />

(1) Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder<br />

artverwandten Blutes, der durch se<strong>in</strong> Verhalten beweist, dass er gewillt<br />

und geeignet ist, <strong>in</strong> Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.<br />

(2) Das Reichsbürgerrecht wird durch Verleihung des<br />

Reichsbürgerbriefes erworben.<br />

(3) Der Reichsbürger ist der alle<strong>in</strong>ige Träger der vollen politischen<br />

Rechte nach Maßgabe der Gesetze.<br />

Der Reichsm<strong>in</strong>ister des Innern erlässt im E<strong>in</strong>vernehmen mit dem<br />

Stellvertreter des Führers die zur Durchführung und Ergänzung des<br />

Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften.(4)<br />

8


4. Justiz im Nationalsozialismus <strong>in</strong> unserem<br />

Heimatort <strong>Aschersleben</strong> - Spurensuche<br />

4.1. Die jüdische Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong><br />

Erste H<strong>in</strong>weise auf jüdische Bürger gab es im 14. Jahrhundert. 1325 und auch<br />

später war die Anzahl der Juden hier nicht sehr groß, dennoch bewohnten die<br />

Juden schon damals das Jüdendorf, e<strong>in</strong>e Straße außerhalb der Stadtmauern.<br />

Schon 1364 erwarb der Rat vom Halberstädter Bischof das Jüdendorf und die<br />

Hoheit über die hier lebenden Juden. Man nahm sie gern auf zum Nutzen der<br />

Kirche und des Bürgertums.<br />

1487 mussten sich die Juden das Wohnrecht <strong>in</strong> der Stadt teuer erkaufen. Sie<br />

lebten von Kle<strong>in</strong>handel und Geldverleih und wurden so auf Befehl des Bischofs<br />

aus der Stadt vertrieben.<br />

Ab 1767 kamen wieder vere<strong>in</strong>zelt Juden nach <strong>Aschersleben</strong>. 1808 wurden sie<br />

unter westfälischer Herrschaft erstmals als Bürger bezeichnet. 1864 waren es<br />

145 Seelen.<br />

Die erste Synagoge wurde am 10. September 1852 im Hof des Hauses Jüdendorf<br />

12 e<strong>in</strong>geweiht. Der Friedhof wurde schon früher angelegt.<br />

Seit dem 20. Jahrhundert hatten die Juden großen Anteil an der Entwicklung der<br />

Stadt. Sie besaßen Geld<strong>in</strong>stitute, Papierfabriken, waren Rechtsanwälte oder<br />

Ärzte. Während 1933 noch 77 Juden hier lebten, waren es 1939 nur noch23.<br />

Diese wurden <strong>in</strong> das Ghetto Theresienstadt deportiert. 22 sollen dort ums Leben<br />

gekommen se<strong>in</strong>. Frau Krelle hat das Ghetto überlebt, kehrte aber nicht nach<br />

<strong>Aschersleben</strong> zurück. Nur Feodor Hirsch blieb und überlebte das Kriegsende. Er<br />

starb 1970 <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong>. In der Reichskristallnacht zum 9. November 1938<br />

wurde die Synagoge zerstört. Sie brannte völlig nieder. E<strong>in</strong>satz und<br />

Löscharbeiten der Feuerwehr wurden beh<strong>in</strong>dert und die Reste der Synagoge<br />

mussten abgerissen werden. In ihr befanden sich Schulräume und e<strong>in</strong> Anbau für<br />

die Wohnung des Lehrers. Das Haus des Lehrers existiert allerd<strong>in</strong>gs heute noch.<br />

Nachdem 1940 e<strong>in</strong>e große Flüchtl<strong>in</strong>gswelle aus Deutschland e<strong>in</strong>setzte, sank die<br />

Zahl der jüdischen Bürger <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong> auf 24. Danach begann die große<br />

Deportation der Juden nach Osten. Die Lebensverhältnisse der Juden wurden<br />

stark e<strong>in</strong>geschränkt.<br />

68 jüdische Zwangsarbeiterr<strong>in</strong>nen aus Wien, Österreich werden ab November <strong>in</strong><br />

der Papierfabrik „H. C. Bestehorn“ <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong> beschäftigt.<br />

Am 21.7. 1941 teilte Hitler die Vernichtung aller Juden mit und die Strafen für<br />

diejenigen, die sie schützen. 1941/42 entstehen das Vernichtungslager <strong>in</strong><br />

Ausschwitz, jüdische Ghettos und Zwangsarbeiterlager. Überall auf der Welt<br />

läuft die Massenvernichtung der Juden auf Hochtouren.<br />

9


Ab 1. September gilt die Kennzeichnungspflicht für Juden über 6 Jahre, auch <strong>in</strong><br />

<strong>Aschersleben</strong>. Im Januar 1942 beg<strong>in</strong>nen die Transporte von Juden aus 23<br />

europäischen Ländern nach Ausschwitz.<br />

Weitere Gesetze zur E<strong>in</strong>schränkung jüdischer Bürger folgen. So wurde z. B. der<br />

Besuch e<strong>in</strong>es Juden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em arischen Friseursalon verboten.<br />

Am 2. Juni beg<strong>in</strong>nt die Deportation deutscher Juden <strong>in</strong> das Ghetto<br />

Theresienstadt.<br />

4.2. Der jüdische Friedhof<br />

Der jüdische Friedhof bef<strong>in</strong>det sich an der Ecke Johannisplatz/Geschwister-<br />

Scholl-Straße. Er wurde 1927 von der Stadtgeme<strong>in</strong>de angekauft und zwecks<br />

Straßenverbreiterung e<strong>in</strong>geebnet. E<strong>in</strong>ige wertvolle Grabste<strong>in</strong>e wurden zum<br />

neuen jüdischen Friedhof 1877 umgelagert. Dieser bef<strong>in</strong>det sich gegenüber dem<br />

städtischen Friedhof und ist von e<strong>in</strong>er Mauer umgeben. Das E<strong>in</strong>gangstor verziert<br />

e<strong>in</strong> Davidstern. Die Friedhofshalle soll <strong>in</strong> der Kristallnacht zerstört worden se<strong>in</strong>.<br />

Als letzter Bürger wurde Feodor Hirsch (1888-1970) beigesetzt.<br />

4.3. Das Junkers-KZ<br />

Auf Grund der schlechten Kriegslage wurden immer mehr Männer zur<br />

Wehrmacht e<strong>in</strong>berufen und die Kriegsproduktion wurde immer weiter<br />

gesteigert. In <strong>Aschersleben</strong> betraf dies vor allem das 1935 errichtete Junkers-<br />

Zweigwerk im Seegelände. Deshalb wurden, wie auch <strong>in</strong> der gesamten<br />

deutschen Industrie, e<strong>in</strong> KZ-Außenlager errichtet. In <strong>Aschersleben</strong> war das e<strong>in</strong><br />

Außenlager des KZ-Buchenwald mit dem Decknamen „Maus“. Im Männerlager<br />

waren 400 Männer, darunter auch Juden. Im Frauenlager befanden sich 200<br />

ungarische Jüd<strong>in</strong>nen. Darüber berichten wir noch an anderer Stelle.<br />

4.4. Jüdische Geschäftsleute<br />

Häuser mit jüdischem H<strong>in</strong>tergrund<br />

Breite Str. – Geschäft der Kaufleute Adolf Conitzer und Arthur Grünbaum; am<br />

18. März 1905 eröffnet und nach dem Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte<br />

im April 1933 an Otto R<strong>in</strong>ow (1879 – 1954) übergeben; Otto R<strong>in</strong>ow war der<br />

Schwager Arthur Grünbaums und damals amerikanischer Staatsbürger. Er<br />

übernahm die Firma zusammen mit früheren leitenden Angestellten des<br />

Kaufhauses Conitzer & Co. ab dem 6. Mai 1933. Gesellschafter der neuen,<br />

damals so bezeichneten „christlichen Firma“ waren neben Otto R<strong>in</strong>ow der<br />

Kaufmann Kurt Schmidt, die Buchhalter<strong>in</strong> Kathar<strong>in</strong>a Cordes, geb. Crohn,<br />

Kaufmann Friedrich Schomburg (bis 1940), ab 1942 Marie – Anna Seelmann,<br />

geb. R<strong>in</strong>ow, die Tochter von Otto R<strong>in</strong>ow und Kaufmann Willy Karnofsky <strong>in</strong><br />

Calbe/Saale der Zweigniederlassung des <strong>Aschersleben</strong>er Kaufhauses;<br />

10


Im <strong>Aschersleben</strong>er Adressbuch von 1937 f<strong>in</strong>det sich noch e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>trag für den<br />

Kaufmann Arthur Grünbaum: Worthstr.12 (im Hause Adolf Conitzers). Ende<br />

1938 wohnten Arthur und Anna Grünbaum <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> – Grunewald, wo Arthur<br />

Grünbaum im November 1938 verstarb.<br />

Weiteres im Stadtplan auf der CD im Anhang.(5) (läuft nur auf Computer)<br />

4.5. Kommunistischer und sozialdemokratischer Widerstand <strong>in</strong><br />

<strong>Aschersleben</strong><br />

Die Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre verschonte auch <strong>Aschersleben</strong> nicht,<br />

so dass nachdem 1927 die AMA (“<strong>Aschersleben</strong>er Masch<strong>in</strong>enbau-<br />

Aktiengesellschaft”) stillgelegt war, viele tausend Metallarbeiter arbeitslos<br />

wurden. Die AMA war mit ca. 4000 Beschäftigten e<strong>in</strong>e der größten<br />

Masch<strong>in</strong>enfabriken im Umkreis und stellte besonders Bergbauausrüstungen her.<br />

1931 erfolgte die Stilllegung der Kali-Werke, wobei ebenfalls tausende Fabrik-<br />

und Bergarbeiter ihre Arbeitsplätze verloren. Dadurch nahm auch der Kampf der<br />

Arbeiter unter Führung der KPD und SPD immer stärkere Formen an.<br />

Es gab Streiks und Demonstrationen der Arbeitslosen unter der Regie des<br />

Erwerbslosenausschusses, der vom Vorsitzenden der KPD <strong>Aschersleben</strong> Otto<br />

Gehler geleitet wurde.<br />

Auf der anderen Seite legten es die Kräfte im “Stahlhelm”, <strong>in</strong> der “SA” und<br />

“SS” immer öfter auf Zusammenstöße mit den Demonstranten an.<br />

Nach dem Reichtagsbrand wurden <strong>in</strong> den darauf folgenden Monaten<br />

Kommunisten verhaftet. Im damaligen Unterbezirk <strong>Aschersleben</strong> wurden <strong>in</strong> 3<br />

Strafprozessen gegen verantwortliche Funktionäre der KPD ca. 100<br />

Kommunisten zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt.<br />

E<strong>in</strong>ige kamen <strong>in</strong> das KZ Lichtenberg und Sonnenburg.<br />

Auch Otto Gehler und Ernst Grube waren im letzteren <strong>in</strong>haftiert. Otto Gehler<br />

war der erste Kommunist, der sofort nach dem Reichstagsbrand verhaftet wurde.<br />

Jedoch nach se<strong>in</strong>er Freilassung im Jahre 1935 organisierte er den Vertrieb der<br />

Parteizeitung und wurde durch Verrat erneut zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt.<br />

Nach Verbüßen dieser Strafe war er bis 1943 im KZ Buchenwald. Ausschnitte<br />

aus bürgerlichen Zeitungen berichteten von Prozessen, die vor dem<br />

Kammergericht <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> durchgeführt wurden. Diese Artikel zeigen, wie man<br />

1933 die Weiterführungen der Partei und den Vertrieb von Druckerzeugnissen zu<br />

Verbrechen abstempelte.<br />

Gegen e<strong>in</strong>e Reihe von SPD- Mitgliedern wurden Repressalien verübt. So waren<br />

Funktionäre der Gewerkschaften <strong>in</strong> der “Herberge zur Heimat” den Schikanen<br />

der so genannten Hilfspolizei, die sich aus SS-, SA- Leuten und Stahlhelmern<br />

zusammensetzte, ausgeliefert.<br />

“Der Genosse Wilhelm Bestel war e<strong>in</strong>ige Jahre vor 1933 bis zum Zeitpunkt der<br />

Auflösung der Gewerkschaften Sekretär des Deutschen Metallarbeiterverbandes,<br />

11


Vorsitzender des Arbeiter-Sängerbundes und hat mit e<strong>in</strong>er Reihe von bewährten<br />

SPD- Genossen e<strong>in</strong>e verhältnismäßig gute illegale Arbeit geleistet, <strong>in</strong>dem er an<br />

die Erfahrungen des Sozialistengesetzes knüpfte, wo schon diese<br />

Organisationsform dazu führte, die Genossen zusammenzuhalten. Der Genosse<br />

Wilhelm Bestel wurde von den Faschisten mehrere Jahre e<strong>in</strong>gesperrt.<br />

Der Zusammenhalt der Genossen der SPD machte sich bei der<br />

Widerstandsarbeit <strong>in</strong> der Firma Billeter und Klunz dadurch bemerkbar, dass mit<br />

den Genossen der KPD geme<strong>in</strong>sam die Informationstätigkeit entwickelt und<br />

durch die Verbreitung von Nachrichten des Londoner und Moskauer Rundfunks<br />

e<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>flussung e<strong>in</strong>es großen Teiles der Belegschaft erreicht wurde.<br />

Verstärkt trat diese Arbeit nach Ausbruch des Krieges <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung. Und da<br />

die Regeln der Konspiration nicht immer beachtet wurden, waren durch Verrat<br />

auch Opfer zu beklagen.<br />

Durch den Verrat e<strong>in</strong>es Faschisten wurden 6 Genossen verhaftet und auf der<br />

Grundlage des Heimtücke-Gesetzes zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.<br />

Das waren die Genossen:<br />

Robert Müller<br />

Otto Leopold<br />

Werner Schröder<br />

Kurt Löffler<br />

Friederich Wirth<br />

Fritz Maikath<br />

Die Genossen Robert Müller und Otto Leopold waren Mitglieder der SPD und<br />

besonders aktiv im früheren Reichsbanner. Durch ihr geme<strong>in</strong>sames Auftreten<br />

mit den Genossen der KPD waren sie bei den Faschisten sehr verhasst.<br />

Beide wurden <strong>in</strong> ihrer Haftzeit so brutal misshandelt, dass sie später an den<br />

Folgen dieser Misshandlungen verstarben.<br />

Von dem Genossen Robert Müller ist uns e<strong>in</strong> Entlassungssche<strong>in</strong> aus dem<br />

Zuchthaus Coswig/Anh. erhalten geblieben.”(6)<br />

4.6. Über das Verbot der <strong>Freimaurer</strong><br />

Die <strong>Freimaurer</strong>ei, welche auch königliche Kunst genannt wird, fördert<br />

Brüderlichkeit und Humanität auf der ganzen Welt. Dabei bedient sie sich<br />

symbolischer Handlungen. Den Bedeutungs<strong>in</strong>halt dieser erfahren die Mitglieder<br />

im Rahmen e<strong>in</strong>er schrittweisen E<strong>in</strong>weihung.<br />

Zurzeit gibt es etwa fünf Millionen <strong>Freimaurer</strong> weltweit. Die <strong>in</strong> Logen<br />

organisierte <strong>Freimaurer</strong>ei verb<strong>in</strong>det Menschen aus unterschiedlichen sozialen<br />

Schichten, mit unterschiedlichen Bildungsgraden und religiösen Vorstellungen.<br />

Ihre Symbolik, welche <strong>in</strong> Ritualen und Zeremonien vermittelt wird, dient der<br />

geistigen und ethischen Selbstvervollkommnung.<br />

12


Entstehung von Großlogen<br />

In der Aufklärung zeitigte die Philosophie Ideen, die mit der humanitären Ethik<br />

der Bauhütten vere<strong>in</strong>bar waren und diese bee<strong>in</strong>flussten. Daraufh<strong>in</strong> wandelte sich<br />

die Werkmaurerei <strong>in</strong> spekulative Maurerei um. Dies war der Grund, weshalb<br />

sich vier alte Werkmaurerlogen <strong>in</strong> London und Westm<strong>in</strong>ster im Jahre 1717 zur<br />

ersten Großloge von England vere<strong>in</strong>igten. Der Prediger James Anderson hat mit<br />

den Alten Pflichten im Jahr 1723 die erste freimaurerische Konstitution<br />

geschaffen. Diese „Verfassung“ regelt das Zusammenleben der Logenmitglieder<br />

mite<strong>in</strong>ander und mit ihrer Umwelt, welche vorwiegend nicht der <strong>Freimaurer</strong>ei<br />

zugetan war. Weiterh<strong>in</strong> sah sie vor, dass Frauen ke<strong>in</strong>en Zutritt zu dieser<br />

Bewegung haben durften. Dieser Großloge folgten später e<strong>in</strong>ige andere, wie<br />

zum Beispiel die „Grande Nationale“ (heute: „Grand Orient de France“) <strong>in</strong><br />

Frankreich, welche am 24.5.1773 durch die Mithilfe von Herzog Montmorency-<br />

Luxembourg entstand.<br />

Auch <strong>in</strong> Deutschland bildeten sich zu dieser Zeit Großlogen. So zum Beispiel<br />

die große Nationalmutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ und die große<br />

Mutterloge „Zur Sonne“. Diese und andere Großlogen gründeten 1872 den<br />

deutschen Großlogenbund.<br />

Deutschland nach dem ersten Weltkrieg<br />

<strong>Freimaurer</strong> und Juden wurden <strong>in</strong> der Weimarer Republik bevorzugte Objekte<br />

rechtsextremer Übergriffe .Der Baltendeutsche Alfred Rosenberg<br />

veröffentlichte Werke wie „Das Verbrechen der <strong>Freimaurer</strong>. Judentum,<br />

Jesuitismus, deutsches Christentum“. Dies war e<strong>in</strong>e Theorie e<strong>in</strong>er jüdisch-<br />

freimaurerischen Verschwörung, welche angeblich die Existenz anderer Völker<br />

zu unterm<strong>in</strong>ieren versuchte. Deshalb haben sie auch den 1. Weltkrieg und die<br />

russische Revolution herbeigeführt. Später berief sich auch Adolf Hitler <strong>in</strong><br />

„Me<strong>in</strong> Kampf“ auf die Aussagen Rosenbergs. Doch nicht nur aus der Politik<br />

kamen solche Anschuldigungen. Auch aus der Gruppe des Militärs taten sich<br />

Leute hervor, welche die Juden und <strong>Freimaurer</strong> für den verlorenen ersten<br />

Weltkrieg verantwortlich machten. E<strong>in</strong>er von ihnen war der Chef der obersten<br />

Heeresleitung General Erich Ludendorff. Er sprach von „überstaatlichen<br />

Mächten“, die dem „ heldenhaften Kampf des deutschen Volkes“ h<strong>in</strong>terlistig <strong>in</strong><br />

den Rücken gefallen s<strong>in</strong>d. Dieser Hass gegen die <strong>Freimaurer</strong> hatte womöglich<br />

folgende Ursache: Der General besuchte 1923 die Münchener <strong>Freimaurer</strong>loge<br />

Empor und hat dort um Aufnahme gebeten. Er wurde abgelehnt.<br />

Von Hitler und se<strong>in</strong>en Anhängern wurden schon <strong>in</strong> den anfänglichen Zeiten des<br />

Nationalsozialismus viele der antifreimaurerischen Theorien Ludendorfs<br />

übernommen. Die <strong>Freimaurer</strong> wurden von ihnen als Volksverhetzer,<br />

Vaterlandsverräter und Kapitalisten dargestellt.<br />

13


Warum wurden die <strong>Freimaurer</strong> verboten?<br />

Die Logen wurden im NS- Staat bekämpft und letztendlich 1935 verboten.<br />

Begründet wurde dies damit, dass der Nationalsozialismus die <strong>Freimaurer</strong>ei<br />

ablehnt, da sie e<strong>in</strong>e überstaatliche Organisation unter dem E<strong>in</strong>fluss von<br />

übernationalem Judentum ist. Sie ist se<strong>in</strong> weltanschaulicher Gegner, da sie e<strong>in</strong>e<br />

kosmopolitische Humanität vertritt. Da die <strong>Freimaurer</strong> ihrem sofortigen Verbot<br />

nach der Machtübernahme entgehen wollten, g<strong>in</strong>gen sie auf e<strong>in</strong>e Bestimmung<br />

der Staatsführung e<strong>in</strong>. Sie entfernten alttestamentliche Inhalte aus ihren<br />

Ritualen. Die Logen wurden umbenannt.<br />

<strong>Freimaurer</strong> <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong><br />

Auch <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong> s<strong>in</strong>d die <strong>Freimaurer</strong> vertreten. Die Johannisloge besitzt<br />

sowohl nationale als auch <strong>in</strong>ternationale Mitglieder. Mit ihrem Tempel ist sie die<br />

e<strong>in</strong>zige Loge deutschlandweit, welche ihre Räumlichkeiten für die<br />

Öffentlichkeit freigibt. Es werden Führungen durch den Tempel angeboten,<br />

welcher gleichzeitig das Museum der Stadt und ihrer Umgebung ist. Tausende<br />

von Gästen strömen jedes Jahr <strong>in</strong> das Museum um sich über die älteste und<br />

ehemals immens reiche Handels- und Bergbaustadt zu <strong>in</strong>formieren. Nach dem<br />

Verbot der <strong>Freimaurer</strong> im Jahr 1935 hat die Loge ihr Grundstück erst 1992<br />

wieder zurückerstattet bekommen und eröffnete ihren Tempel am 2. Oktober<br />

1993 erneut.<br />

2002 beg<strong>in</strong>g die Loge ihr 225. Stiftungsfest, bei dem sich Interessierte<br />

versammelten, die sich den Fragen der Zeit stellen. (7)<br />

4.7. Zwangsarbeiterlager<br />

Im Jahre 1935 wurden die Junkers-Flugzeug-Werke auf dem Gelände, auf dem<br />

bereits im 1. Weltkrieg Männer, Frauen, Jugendliche und Kriegsgefangene<br />

gezwungen wurden Granaten herzustellen, errichtet.<br />

Dies erfolgte damals <strong>in</strong> Vorbereitung auf den 2. Weltkrieg.<br />

Erlebnisberichte schildern, wie Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter unter<br />

unmenschlichen Bed<strong>in</strong>gungen gezwungen wurden, für die deutsche<br />

Kriegsproduktion zu arbeiten.<br />

Der <strong>Aschersleben</strong>er Bürger Paul Sommer berichtet darüber folgendes:<br />

“Auf dem nordwestlich unserer Kreisstadt liegenden Gelände des<br />

<strong>Aschersleben</strong>er Sees, zwischen dem Güterbahnhof, der Reichsbahn und der<br />

Kle<strong>in</strong>bahn entstanden 1935 die Junkers-Flugzeug-Motorenwerke, Flugzeugbau-<br />

Zweigbau <strong>Aschersleben</strong>. Die Arbeitskräfte, die das Werk von Beg<strong>in</strong>n des 2.<br />

Weltkrieges <strong>in</strong> Anspruch nahm, setzten sich zusammen aus Stammarbeitern des<br />

Hauptwerkes Dessau und aus Werktätigen von <strong>Aschersleben</strong> und den<br />

umliegenden Ortschaften. Nach Beg<strong>in</strong>n des Krieges veränderte sich dann die<br />

Zusammensetzung der ursprünglichen Belegschaft von Junkers. Als Ersatz der<br />

zum Militär e<strong>in</strong>gezogenen Belegschaftsmitglieder wurden von der Nazibehörde<br />

14


auf Grund gesetzlicher Maßnahmen Männer, Jugendliche und Frauen, ja selbst<br />

Mütter von mehreren K<strong>in</strong>dern, zum Dienst <strong>in</strong> die Rüstung verpflichtet.”(6) …<br />

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden aus den<br />

Rüstungsbetrieben aller kriegstauglichen Männer zum Militärdienst e<strong>in</strong>gezogen.<br />

“ Da der Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr durch Deutsche gedeckt werden<br />

konnte, wurden aus den von den deutschen Truppen annektierten Gebieten<br />

massenweise Männer, Frauen, Jugendliche, sogar K<strong>in</strong>der gewaltsam nach<br />

Deutschland verschleppt und <strong>in</strong> die Rüstungsbetriebe gepresst. Auch für das<br />

Junkerswerk <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong> wurde der Nachschub an Arbeitskräften durch<br />

zwangsweise rekrutierte Fremdarbeiter, besonders aber durch sogenannte<br />

Ostarbeiter, gedeckt.<br />

Gegen Ende 1941 wurden bei Junkers <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong> die ersten sowjetischen<br />

Kriegsgefangenen und auch sowjetische Zwangsarbeiter e<strong>in</strong>gesetzt. Von diesen<br />

Menschen verlangte man bei e<strong>in</strong>er weit unzureichenden Verpflegung und<br />

notdürftigen Unterkunft das Höchstmaß an Arbeit. Wenn ich frühmorgens auf<br />

me<strong>in</strong>em Fahrrad zum Junkerswerk fuhr, begegnete ich e<strong>in</strong>er Kolonne<br />

sowjetischer Kriegsgefangener, die ebenfalls bei Junkers arbeiten mußten. Zu<br />

dieser Kolonne gehörte e<strong>in</strong> Gefangener, der <strong>in</strong> der gleichen Werkstatt arbeitete<br />

wie ich. Von Beruf war er Mechaniker, <strong>in</strong> Len<strong>in</strong>grad zu Hause. Zwischen uns<br />

und weiteren Kollegen entstand bald e<strong>in</strong> gutes Verhältnis. Unser Rotarmist war<br />

e<strong>in</strong> tüchtiger Facharbeiter… Wenn er mich nach dem Verlauf der<br />

Kampfhandlungen an den Fronten fragte, gab ich ihm bereitwillig Auskunft.<br />

Gaben wir ihm Brot und warmes Mittagessen, bedachte er dabei auch se<strong>in</strong>e<br />

Kameraden, von denen ja stets Kranke <strong>in</strong> der Baracke lagen. Unser Rotarmist<br />

fertigte auch für uns R<strong>in</strong>ge mit e<strong>in</strong>gravierten Namen an. Als Dank und<br />

Anerkennung gab ich ihm dafür e<strong>in</strong> halbes Brot und etwas Tabak. Den R<strong>in</strong>g von<br />

ihm habe ich heute noch und halte ihn <strong>in</strong> Ehren. E<strong>in</strong>es Morgens traf er auf<br />

se<strong>in</strong>em Arbeitsplatz nicht mehr e<strong>in</strong>.<br />

Es hieß dann, dass er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Spezialfach <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Werk <strong>in</strong><br />

Magdeburg e<strong>in</strong>gesetzt sei.<br />

Das Jahr 1944 begann mit verstärkten Bombenangriffen auf Städte und<br />

Rüstungswerke <strong>in</strong> Deutschland. Die Zahl der Beschäftigten bei Junkers war<br />

<strong>in</strong>zwischen auf<br />

8000 Männer, Frauen und Jugendliche angestiegen. Am 22. Februar 1944, um<br />

14.00 Uhr, erfolgte der erste Großangriff auf das Junkerswerk <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong>.<br />

Der Bombenteppich verursachte beträchtlichen Schaden an Werkhallen und<br />

E<strong>in</strong>richtungen. Auch das Werkgelände und die Straßen wurden <strong>in</strong><br />

Mitleidenschaft gezogen.<br />

Etwa 100 Menschen fanden den Tod oder wurden vermißt. Unter den Getöteten<br />

waren<br />

10 sowjetische Bürger. E<strong>in</strong>ige Tage nach dem Angriff wurden zum Zuschütten<br />

der Bombentrichter und für Aufräumungsarbeiten e<strong>in</strong>e Kolonne sowjetischer<br />

15


Kriegsgefangener e<strong>in</strong>gesetzt. E<strong>in</strong> Teil von diesen arbeitete nahe der Werkstatt, <strong>in</strong><br />

der ich beschäftigt war. Von früh bis abends, bei Hunger und Kälte, ohne<br />

w<strong>in</strong>terliche Bekleidung mußten sie im Freien schuften. Der Umgang mit<br />

Kriegsgefangenen war von der Werkleitung strengstens untersagt. Trotzdem<br />

haben viele me<strong>in</strong>er damaligen Kollegen und auch ich diesen Gefangenen von<br />

unserem warmen Mittagessen so viel wie möglich abgegeben. Anfangs haben<br />

wir es ganz öffentlich getan. Auf Grund e<strong>in</strong>es erneuten Verbotes, mußten wir<br />

unsere Taktik ändern. Wir füllten das gesammelte warme Essen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Eimer<br />

und stellten dann diesen unter den Treppenaufgang der gegenüberliegenden<br />

Halle 3. Unauffällig g<strong>in</strong>gen dann die Gefangenen, e<strong>in</strong>er nach dem anderen, zur<br />

Treppe, wo der Eimer stand, und nahmen sich von dem Essen. So machten wir<br />

es wochenlang, bis die Gefangenen an e<strong>in</strong>er anderen Stelle e<strong>in</strong>gesetzt wurden.<br />

E<strong>in</strong>en besonders guten Kontakt hatte ich zu e<strong>in</strong>er sowjetischen Zwangsarbeiter<strong>in</strong><br />

mit Vornamen Maria. Ihr Zuname ist mir entfallen. Zu Hause war sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

kle<strong>in</strong>en Ort bei Kiew <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e. 1942 wurde sie, ihr Mann und e<strong>in</strong>e<br />

schulpflichtige Tochter, mit Hunderten ihrer Landsleute gewaltsam nach<br />

Deutschland verschickt. E<strong>in</strong> Teil des Transportes - darunter Maria und<br />

Angehörige - kamen nach <strong>Aschersleben</strong> zu Junkers zum Arbeitse<strong>in</strong>satz.<br />

Unterkunft erhielten sie <strong>in</strong> den Baracken des sogenannten Lagers “Hochtrift”,<br />

welches am Ende der Schmidt-Straße gelegen hat.<br />

Als Maria me<strong>in</strong>e antifaschistische E<strong>in</strong>stellung erkannt hatte, wurde sie offener<br />

zu mir. Oft beklagte sie sich über die schlechte Verpflegung und Behandlung.<br />

Unterstützt habe ich sie mit Eßbarem, soweit es mir möglich war.<br />

Ich weiß nicht, wie oft ich ihr me<strong>in</strong> Glas mit Quark (me<strong>in</strong> Frühstück) und so<br />

manches Obst gegeben habe. Brotreste von zu Hause habe ich ihr fast täglich<br />

mitgebracht. In der Zeit des Hamsterfanges versorgte ich sie und ihre<br />

Angehörigen mit Hamsterfleisch.<br />

In der Reparaturwerkstatt der Elektriker arbeitete außerdem e<strong>in</strong> russisches<br />

Mädchen mit Vornamen Kathar<strong>in</strong>a. E<strong>in</strong>e me<strong>in</strong>er Mitarbeiter<strong>in</strong>nen, die Kolleg<strong>in</strong><br />

Ilse Fleischer, welche ebenfalls dienstverpflichtet war, hatte unsere Kathar<strong>in</strong>a<br />

besonders <strong>in</strong>s Herz geschlossen und ihr auch so manches zukommen lassen.<br />

E<strong>in</strong>es Tages erzählte Kathar<strong>in</strong>a der Kolleg<strong>in</strong> Fleischer, dass sie verlobt sei und<br />

gern heiraten möchte. Sie könne es aber nicht, da sie lt. ihrer Papiere erst 19<br />

Jahre alt sei, und erst mit 21 Jahren heiraten dürfe. Kolleg<strong>in</strong> Fleischer hat ihr mit<br />

Rat und List geholfen. Aus der 19jährigen wurde e<strong>in</strong>e 21jährige Kathar<strong>in</strong>a. Als<br />

Hochzeitsgeschenk bekam sie von der Kolleg<strong>in</strong> Fleischer e<strong>in</strong>en Rock, e<strong>in</strong>e<br />

Bluse und e<strong>in</strong>en Hochzeitskuchen, den sie zu Hause gebacken hatte.<br />

So wurde es möglich gemacht, daß auf dem Hochzeitstisch der jungen Eheleute<br />

e<strong>in</strong> Stück Kuchen kam. Ca. 1 ½ Jahre haben wir mit Maria und Kathar<strong>in</strong>a<br />

zusammengearbeitet und die Gefahren der Bombenangriffe geme<strong>in</strong>sam<br />

überstanden. Dennoch hat mancher von ihnen se<strong>in</strong>e Heimat nicht wiedergesehen.<br />

140 sowjetische Bürger, davon 42 K<strong>in</strong>der, mußten ihr Leben lassen bei<br />

Luftangriffen oder starben an Unterernährung und anderen Krankheiten.<br />

16


Die überlebenden Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter kehrten nach<br />

Kriegsende <strong>in</strong> ihre Heimatländer zurück.”(6)<br />

Paul Sommer war nach 1945 als Stadt-Archivar (<strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong>) tätig. Aus<br />

diesem Grund war es ihm möglich, e<strong>in</strong>e Übersicht zusammenzustellen, die die<br />

Anzahl der bei Junkers und anderen Betrieben <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong> e<strong>in</strong>gesetzten<br />

Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sowie KZ-Häftl<strong>in</strong>gen während des 2.<br />

Weltkrieges zeigen:<br />

- Sowjetische Kriegsgefangene 650<br />

- Französische Kriegsgefangene 350-400<br />

- Italienische Kriegsgefangene 200<br />

- Belgische Kriegsgefangene 150<br />

- Holländische Kriegsgefangene 200<br />

- Sowjetische Zivilarbeiter 1500<br />

- Französische Zivilarbeiter 200<br />

- Italienische Zivilarbeiter 250<br />

- Belgische Zivilarbeiter 150<br />

- Holländische Zivilarbeiter 100<br />

- Polnische Zivilarbeiter 700<br />

- Tschechische Zivilarbeiter 75-100<br />

- KZ-Häftl<strong>in</strong>ge Männer 400<br />

- KZ-Häftl<strong>in</strong>ge Frauen 250<br />

Lager für ausländische Zivil- bzw. Zwangsarbeiter <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong><br />

1. Hochtrift, Junkerswerke <strong>Aschersleben</strong><br />

2. Baracken an der Tonkuhle<br />

3. Am Seegraben (Buch)<br />

4. Burghaus, Waldschlößchen, Kegelbahn “Weiße Taube”, Landhaus<br />

5. Unterbr<strong>in</strong>gung bei Landwirten<br />

Kriegsgefangenenlager<br />

1. Russenlager an der Güstener - Gierslebener Straße<br />

2. Reichsbahn <strong>Aschersleben</strong><br />

3. Billeter und Klunz an der Wilslebener Straße<br />

4. Heeresmunitionsanstalt (Muna) an der Wilslebener Straße<br />

5. 11/3 Zuckerfabrik<br />

6. Artilleriekaserne<br />

7. Barackenlager an der Mehr<strong>in</strong>ger Straße<br />

8. Über den Ste<strong>in</strong>en (Pferdehandlung Schwabe)<br />

9. Staßfurter Höhe 40-42<br />

17


KZ-Lager<br />

Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald Junkerswerke <strong>Aschersleben</strong><br />

(Halle IV und V) 400 Männer und 250 Frauen. Von den 400 Männern waren 10<br />

Deutsche, die übrigen sowjetische, polnische, französische, belgische,<br />

niederländische und österreichische Bürger, und 250 Frauen jüdischer<br />

Abstammung aus Ungarn.<br />

Die Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

Als Unterbr<strong>in</strong>gung dienten Holzbaracken mit Stacheldrahtumzäunung,<br />

Pferdeställe, Garagen, Säle bzw. Veranden.<br />

Ausschließlich die SS bewachte die KZ-Lager, Wehrmachtsangehörige oder<br />

Hilfspolizei die anderen Lager.<br />

Die Verpflegung war katastrophal.<br />

Aussagen von ehemaligen deutschen Werkangehörigen der<br />

Junkers-Werke <strong>Aschersleben</strong> über das Außenlager:<br />

Die nachfolgenden Aussagen stammen von Werkangehörigen der Halle IV, die<br />

mit den Häftl<strong>in</strong>gen zusammengearbeitet haben.<br />

Die Halle IV diente als Lager und Arbeitsplatz für ca. 400 Häftl<strong>in</strong>ge.<br />

E<strong>in</strong>gerichtet<br />

wurde diese von der Werkleitung der Junkerswerke.<br />

Das Gebäude war mit e<strong>in</strong>em 3m hohen, mit Starkstrom geladenen Drahtzaun<br />

umgeben.<br />

Den Häftl<strong>in</strong>gen war es verboten die Ecken der Umzäunung zu betreten. Bei<br />

jeglichen Versuch machten die SS-Wachen von ihren Waffen gebrauch.<br />

Die Häftl<strong>in</strong>ge schliefen <strong>in</strong> sehr kle<strong>in</strong>en Räumen auf Holzpritschen.<br />

In Wechselschicht wurde Tag und Nacht gearbeitet. Der Lärm war <strong>in</strong> den<br />

Schlafräumen zu hören und ließ die arbeitsfreien Häftl<strong>in</strong>ge nicht zur Ruhe<br />

kommen.<br />

Kochen mussten die Häftl<strong>in</strong>ge selbst. An den vielen halbverhungerten Körpern<br />

konnte man feststellen, dass die Verpflegung äußerst schlecht war. Infolge der<br />

Unterernährung starben zahlreiche Häftl<strong>in</strong>ge.<br />

Die Unterhaltung mit Werkangehörigen war allen Häftl<strong>in</strong>gen verboten. Es<br />

erfolgte e<strong>in</strong>e Kontrolle und Überwachung durch SS-Leute.<br />

Es gab ke<strong>in</strong>e geregelten Arbeitszeiten. Wenn e<strong>in</strong> Term<strong>in</strong> nicht erfüllt wurde,<br />

musste länger gearbeitet werden. Arbeitsfehler wurden als Sabotage bestraft.<br />

18


Es gab folgende Arten von Bestrafungen:<br />

- bis zu 8 Tagen mit gekreuzten Armen stehen;<br />

- stundenlang <strong>in</strong> Kniebeuge sitzen;<br />

- mit dem Gesicht und Körper den ganzen Tag bei W<strong>in</strong>d und Wetter<br />

an der Wand stehen;<br />

- um die Halle robben;<br />

- Schläge und Fußtritte bei jeder Gelegenheit.<br />

Wenn am Tag Fliegeralarm gegeben wurde, durften die Häftl<strong>in</strong>ge erst als letzte<br />

das Werk zum Luftschutzbunker verlassen, <strong>in</strong> der Nacht durften sie die Halle gar<br />

nicht verlassen.<br />

E<strong>in</strong> polnischer Häftl<strong>in</strong>g, der versuchte zu fliehen, wurde von den SS-Wachen<br />

zusammengeschossen. Se<strong>in</strong> Leichnam wurde als Abschreckung 48 Stunden<br />

liegen gelassen.<br />

In Halle V befand sich e<strong>in</strong> weiteres KZ-Lager, <strong>in</strong> dem sich jüdische Frauen aus<br />

Ungarn befanden.<br />

Sie arbeiteten <strong>in</strong> der Halle, schliefen aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nebenstehenden Kle<strong>in</strong>baracke.<br />

Die Verpflegung bestand aus dünner Suppe und trockenem Brot.<br />

Die Tätigkeit aller Häftl<strong>in</strong>ge bestand <strong>in</strong> der Bearbeitung von Flugzeugteilen.<br />

Beide KZ-Lager wurden am 7. Juli 1944 e<strong>in</strong>gerichtet. Am 12. April 1945<br />

wurden die Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Richtung Harz abtransportiert und vermutlich von den<br />

Amerikaner <strong>in</strong> Obhut genommen.<br />

Diese Aussagen besitzen dokumentarischen Charakter. Sie wurden im Juni 1957<br />

von folgenden ehemaligen Werkangehörigen der Junkers-Werke, Zweigstelle<br />

<strong>Aschersleben</strong> gemacht: Herr Jagemann, Herr Richard Hebecker, Herr Otto<br />

Slarek, Herr Ernst Funke, Herr Werner Oskandi, alle <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong> wohnhaft.<br />

Bericht über die Jahre von 1941-1945<br />

Diesen Bericht legte Frau Lieselotte Eggert aus <strong>Aschersleben</strong> vor. Sie schildert,<br />

die Verb<strong>in</strong>dungen ihrer Familie zu sowjetischen Zwangsarbeitern.<br />

“Me<strong>in</strong> Mann, Otto Eggert, arbeitete bei der Firma Junkers, <strong>Aschersleben</strong>,<br />

Halle 5, im Rüstungsbetrieb.<br />

Nach dem Überfall der deutschen Faschisten auf die Sowjetunion kamen bald<br />

darauf die ersten sowjetischen Zwangsarbeiter <strong>in</strong> den Betrieb. Dazu wurden<br />

h<strong>in</strong>ter der<br />

Villa von Noé m<strong>in</strong>destens 10 große Baracken errichtet, wo die Zwangsarbeiter<br />

ihr Unterkommen fanden. E<strong>in</strong>e Anzahl von ihnen arbeitete <strong>in</strong> der Halle 5, wo<br />

dann me<strong>in</strong> Mann und Genosse Franz Behrens Verb<strong>in</strong>dung mit ihnen aufnahmen.<br />

Es waren alles durchweg sehr junge Menschen - im Alter von 14-18 Jahren -, die<br />

hier zusammengetrieben worden s<strong>in</strong>d. Viele von ihnen hatten von der Arbeit, die<br />

19


sie bei Junkers durchführen mußten, ke<strong>in</strong>e Ahnung, und wurden von den<br />

Vorarbeitern erst angelernt. Dazu kamen die schweren Lebensbed<strong>in</strong>gungen, die<br />

sie im Lager hatten.<br />

Die Verpflegung war äußerst dürftig und unzureichend. Die Suppen waren dünn,<br />

besonders im Frühjahr die Sp<strong>in</strong>atsuppen.<br />

Viele der jungen Menschen bekamen durch das schlechte Essen und die schwere<br />

Arbeit ganz dicke Füße, und e<strong>in</strong>e Anzahl starb daran. Bei me<strong>in</strong>em Mann<br />

arbeitete e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Gruppe junger sowjetischer Menschen. Es waren<br />

Peter Federowitsch Sachno<br />

Maria Juzjuta Triskowa<br />

Katja Korsakowa<br />

und e<strong>in</strong>e Olga.<br />

Da sie auch sehr dürftig gekleidet waren und immer Hunger hatten, sorgten wir<br />

für Kleidung und Essen. Das war aber nicht so leicht, wie man es heute<br />

dahersagt. Es gab e<strong>in</strong>e große Anzahl von Faschisten im Betrieb, die nur<br />

aufpassten, dass e<strong>in</strong> deutscher Arbeiter nicht mit den sowjetischen Menschen <strong>in</strong><br />

Kontakt kam. Alles das, was me<strong>in</strong> Mann ihnen mitbrachte, mußte heimlich unter<br />

die Werkzeugbank gelegt werden.<br />

Bei e<strong>in</strong>em passenden Moment machte me<strong>in</strong> Mann sie dann aufmerksam, wo<br />

etwas für sie lag.<br />

E<strong>in</strong>es Tages sah me<strong>in</strong> Mann, wie e<strong>in</strong> Meister e<strong>in</strong>en 14-jährigen sowjetischen<br />

Jungen schlug. Er sprang sofort dazu und riß den Jungen zur Seite und deckte<br />

ihn mit se<strong>in</strong>em Körper. E<strong>in</strong> anderer deutscher Arbeiter, e<strong>in</strong> gewisser Schade, der<br />

das sah (er war e<strong>in</strong> Faschist), zeigte me<strong>in</strong>en Mann daraufh<strong>in</strong> sofort an. Er wurde<br />

direkt <strong>in</strong> der Halle verhaftet und blieb 3 Tage fort.<br />

Doch wir ließen uns nicht e<strong>in</strong>schüchtern, wir halfen weiter, wo wir nur irgend<br />

konnten. Ich möchte aber bemerken, dass uns das Helfen <strong>in</strong> dieser schweren Zeit<br />

auch nicht leicht fiel. Was wir an Lebensmitteln zur Verfügung stellten, mußten<br />

wir von unserem Wenigen abgeben. Wir hatten e<strong>in</strong>en Garten und e<strong>in</strong> paar<br />

Kan<strong>in</strong>chen, so halfen wir, so gut wir konnten.<br />

Die Kleidung und Schuhe besorgte ich für die sowjetischen Freunde von<br />

Bekannten und Verwandten. Überall holte ich etwas zusammen. So zum Beispiel<br />

bei Frau Rektor Holtz, Fräule<strong>in</strong> Studienrat Franke und bei vielen anderen. Es<br />

war nicht gerade leicht, denn nicht alle durften wissen, für wen die Sachen<br />

bestimmt waren.<br />

Me<strong>in</strong> Mann und ich halfen ihnen aber nicht nur mit Essen und Kleidung,<br />

sondern sie konnten <strong>in</strong> unserer Wohnung Radio Moskau und Radio London<br />

hören. Dies war besonders wichtig für die sowjetischen Menschen, denn sie<br />

verbreiteten die gehörten Nachrichten gleich im Lager weiter, dies gab ihnen<br />

Kraft und ließ sie auf Befreiung hoffen.<br />

Peter, Maria, Katja und Olga konnten nicht so ohne weiteres <strong>in</strong> unsere Wohnung<br />

kommen. In unserem Haus wohnten Nazis, und die passten auf, wer uns<br />

besuchte. Unser Sohn Ottchen g<strong>in</strong>g den Freunden immer e<strong>in</strong> ganzes Stück<br />

20


entgegen und nahm ihnen Kleppermäntel mit, die sie sich dann überzogen, sie<br />

unkenntlich machten und vor allen D<strong>in</strong>gen das Zeichen “Ost” verdeckten.<br />

Peter war Dolmetscher und übersetzte den anderen alles <strong>in</strong> ihre Sprache.<br />

Am 22. Februar 1944 um 14.00 Uhr war e<strong>in</strong> großer schwerer Bombenangriff auf<br />

Junkers. An die 100 Menschen verloren dabei ihr Leben, darunter auch viele<br />

sowjetische Bürger, auch unsere Olga.<br />

Mit der Zeit verband uns mit den jungen sowjetischen Menschen e<strong>in</strong>e herzliche<br />

Freundschaft, so dass wir für sie wie Vater und Mutter wurden und sie uns auch<br />

so nannten.<br />

Am 3. Osterfeiertag 1945 wurde me<strong>in</strong> Mann noch nach Magdeburg e<strong>in</strong>gezogen.<br />

Ehe er g<strong>in</strong>g, bat er noch den Peter, mir beim Graben unseres Ackers (½ Morgen)<br />

zu helfen, da er dazu nicht mehr gekommen war. Ich war dann ganz erstaunt, als<br />

e<strong>in</strong>es Tages Peter und noch 6 sowjetische Männer bei mir mit Spaten<br />

aufkreuzten, um mir den Acker umzugraben. Ich war richtig gerührt, wie sie sich<br />

um mich sorgten. Zur Belohnung kochte ich für alle e<strong>in</strong>en großen Topf<br />

Erbsensuppe.<br />

Am 16. April 1945 nahmen die Amerikaner <strong>Aschersleben</strong> e<strong>in</strong>. Mit diesem<br />

Augenblick waren die sowjetischen Zwangsarbeiter, Kriegsgefangenen und alle<br />

anderen Zwangsarbeiter und Gefangenen aus so vielen Ländern frei. Peter<br />

wurde Kommandant des ehemaligen Lagers und mußte dort für Ordnung und<br />

Sicherheit sorgen. Nie werde ich den 1. Mai 1945 vergessen. Die sowjetischen<br />

Freunde beg<strong>in</strong>gen den Tag als ihren großen Festtag, zu dem ich, me<strong>in</strong> Sohn und<br />

me<strong>in</strong> Neffe e<strong>in</strong>geladen wurden. Von deutscher Seite waren noch zugegen:<br />

Genosse Franz Gre<strong>in</strong>er<br />

Genosse Fritz Stüber<br />

Genosse Otto Gehler<br />

Genosse Otto Arndt<br />

Peter, se<strong>in</strong>e Freunde und Genossen feierten mit uns bis zum frühen Morgen.<br />

Dies war eigentlich schon so e<strong>in</strong> bißchen Abschied.<br />

Denn nicht lange danach kamen die sowjetischen Mädchen und Frauen zurück<br />

<strong>in</strong> ihre Heimat. Nur die Männer blieben noch da. Viele von ihnen wurden als<br />

Dolmetscher e<strong>in</strong>gesetzt, so z.B. Peter, der als Dolmetscher nach Brandenburg<br />

kam.<br />

Andere wurden e<strong>in</strong>gezogen und Soldaten der Roten Armee.<br />

Die Mädchen haben uns nicht vergessen. Sie schrieben uns, dass sie die Mutter<br />

von Peter besucht haben und dass diese glücklich sei, dass Peter noch lebt. Alle<br />

Männer aus se<strong>in</strong>er Familie s<strong>in</strong>d entweder gefallen oder von den Faschisten<br />

ermordet worden.<br />

Die Mutter von Peter hat dann auch selbst an uns geschrieben. Im August kam<br />

Peter noch e<strong>in</strong>mal nach <strong>Aschersleben</strong>, erst als Dolmetscher, dann wurde er<br />

Kommandant und blieb bis September, bis er zur Roten Armee e<strong>in</strong>gezogen<br />

wurde.<br />

Damit brach die Verb<strong>in</strong>dung ab.”(6)<br />

21


5. Zeitzeugen berichten<br />

5.1. Fred Kollwitz über die Deportation Adolf Conitzers<br />

Die Deportation von Adolf Conitzer beschreibt der <strong>Aschersleben</strong>er Bürger Fred<br />

Kollwitz aus se<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung:<br />

„Es war an e<strong>in</strong>em trüben Novembertag 1942, ich war damals sechs Jahre alt und<br />

er<strong>in</strong>nere mich noch ganz genau an die Vorgänge, die sich an diesem Tag am<br />

Haus Worthstr. 12 zutrugen. Vor dem Haus stand e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Transporter, wie<br />

ich mich er<strong>in</strong>nere war es e<strong>in</strong> Opel Blitz mit e<strong>in</strong>er von e<strong>in</strong>er Plane bedeckten<br />

Ladefläche. Wie lange der Wagen dort stand, kann ich nicht mehr sagen.<br />

Plötzlich kamen Männer aus dem Haus Worthstraße 12 <strong>in</strong> grünen Uniformen<br />

und <strong>in</strong> Zivil. In ihrer Mitte hatten sie e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en älteren Mann mit Mantel und<br />

Hut, der über der Schulter e<strong>in</strong>e aufgerollte Decke trug. Die Bordwand des Opels<br />

Blitz wurde geöffnet, der alte Mann wurde verladen, die Männer <strong>in</strong> Zivil und<br />

Uniform stiegen e<strong>in</strong> und der Transporter setzte sich <strong>in</strong> Bewegung. Der Mann,<br />

der dort mit unbekanntem Ziel abgeholt wurde, war Adolf Conitzer, e<strong>in</strong><br />

angesehener und unbescholtener Bürger unserer Stadt, e<strong>in</strong> Jude. Erst viele Jahre<br />

später erfuhr ich, dass Herr Conitzer nach Theresienstadt transportiert wurde,<br />

von wo er nie zurückkehrte.“ (abgedruckt <strong>in</strong>: Mitteldeutsche Zeitung,<br />

14.05.2005)<br />

5.2. Thomas Geve<br />

Anlässlich des 3. Bernburger Schlossgespräches am 21.02.2009 stand uns der<br />

Zeitzeuge Thomas Geve als <strong>in</strong>teressanter Gesprächspartner zur Verfügung. Wer<br />

ist er?<br />

Thomas wurde 1929 <strong>in</strong> Stett<strong>in</strong> als Sohn e<strong>in</strong>es Arztes geboren. Als Hitler an die<br />

Macht kam, war er 3 Jahre alt. Von 1938 bis 1943 lebte er mit se<strong>in</strong>en Eltern bei<br />

se<strong>in</strong>en Großeltern <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong> Großvater diente im 1. Weltkrieg, wurde<br />

verwundet und erbl<strong>in</strong>dete daraufh<strong>in</strong>. So las Thomas se<strong>in</strong>em Großvater aus<br />

Zeitungen vor und erzählte ihm von se<strong>in</strong>en Streifzügen durch Berl<strong>in</strong>s Straßen.<br />

Das Judentum spielte ke<strong>in</strong>e Rolle im Leben der Familie. Es gab ke<strong>in</strong>e<br />

Speisenvorschriften. Die Familie lebte als moderne Menschen. Wie uns Thomas<br />

berichtete lernte er <strong>in</strong> der Schule nur das, was er glaubte. Während se<strong>in</strong>em Vater<br />

Anfang 1939 die Flucht nach England gelang, gelang ihm und se<strong>in</strong>er Mutter<br />

diese Flucht nach Ausbruch des 2. Weltkrieges nicht.<br />

Nachdem Mitte 1942 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> alle Schulen geschlossen wurden, begann er auf<br />

dem Friedhof zu arbeiten. Se<strong>in</strong>e Mutter arbeitete nachts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fabrik. In dieser<br />

Zeit fühlte er sich sehr alle<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>sam. Im Jahre 1942 begannen die<br />

Massendeportationen der Juden und so gab es Anfang 1943 kaum noch<br />

22


jüdisches Leben <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Die Juden glaubten zu dieser Zeit, dass sie <strong>in</strong><br />

Arbeitslager verschickt werden.<br />

1943 wurde auch Thomas verhaftet. Da er aber e<strong>in</strong> wichtiger Arbeiter auf dem<br />

Friedhof war, wurde er wieder entlassen. Doch Mitte 1943 erfolgt auch Für<br />

Thomas Geve und se<strong>in</strong>e Mutter die Deportation über Birkenau nach Auschwitz.<br />

Erst 14jährig wurde er als arbeitsfähig e<strong>in</strong>gestuft und musste fortan schwere<br />

Arbeiten auf dem Bau verrichten. Se<strong>in</strong>e Mutter, die im Lager nebenan lebte, sah<br />

er noch e<strong>in</strong>mal ehe sie dort umkam. Das Lagerleben schildert er uns als<br />

unerträglich und menschenunwürdig -im Sommer bei starker Hitze und im<br />

W<strong>in</strong>ter bei klirrender Kälte. Se<strong>in</strong>e Hände waren durch die kantigen Ste<strong>in</strong>e und<br />

die schwere Arbeit auf dem Bau so zerschunden, dass sie noch am nächsten Tag<br />

bluteten, wo er doch erneut mit diesen Händen arbeiten musste. Jeder kämpfte<br />

um das nackte Überleben. So kam es auch zu Anfe<strong>in</strong>dungen unter den<br />

Häftl<strong>in</strong>gen. Weiter berichtet er uns, dass die Menschen im Lager Nummern<br />

waren. Die Nummer wurde tief <strong>in</strong> die Haut e<strong>in</strong>tätowiert und beweist noch heute<br />

den Lageraufenthalt. Auch Herr Geve zeigt uns se<strong>in</strong>e Nummer.<br />

In regelmäßigen Abständen kam es im Lager Auschwitz zu Selektionen. Bei der<br />

Selektion musste man sich nackt ausziehen und an den SS-Leuten vorbeilaufen.<br />

Wurde e<strong>in</strong>e Verletzung festgestellt, wurde man „aussortiert“ und war für die<br />

Gaskammer bestimmt. Auch Herr Geve hat 4 bis 5 solcher Selektionen erlebt.<br />

Aufgrund der nahenden Roten Armee wurde das Lager Auschwitz im Januar<br />

1945 durch die SS evakuiert. Thomas Geve wurde <strong>in</strong> das KZ Groß-Rosen<br />

getrieben. Dort gab es kaum Essen und Unterkünfte und so trieb man die<br />

Häftl<strong>in</strong>ge weiter bis nach Buchenwald. Es war e<strong>in</strong> kalter W<strong>in</strong>ter und so<br />

überlebten nur wenige den Transport <strong>in</strong> offenen Güterwagen. In Buchenwald<br />

angekommen warteten die ausgemergelten Überlebenden auf die<br />

vorgeschriebene Des<strong>in</strong>fektion. Aber durch Bombardierungen wurden<br />

Wasserleitungen zerstört und so mussten die Ankömml<strong>in</strong>ge weitere zwei Tage<br />

bei Kälte und Hunger ausharren ehe sie auf das Lager aufgeteilt wurden. Viele<br />

erfroren. Im Lager Buchenwald erhält Thomas die Nummer 127158 und wird <strong>in</strong><br />

den K<strong>in</strong>derblock 66 im Kle<strong>in</strong>en Lager e<strong>in</strong>gewiesen. Über das Lagerleben erzählt<br />

er uns, dass z. B. für die Essene<strong>in</strong>nahme ke<strong>in</strong> Essbesteck bereit stand, sondern<br />

die Wassersuppe aus Blechschüsseln geschlürft wurde, dass die<br />

Toilettenbenutzung nicht nach Bedarf erfolgte, sondern blockweise zu<br />

bestimmten Zeiten, dass aus Wasserhähnen nur frühmorgens kaltes Wasser lief.<br />

Mit der Befreiung des Lagers Buchenwald am 11. April 1945 gehörte Thomas<br />

Geve zu den 903 K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen, die das Konzentrationslager<br />

überlebten. 22 Monate Hölle hatte er nun überstanden. Leider war der nun<br />

15Jährige noch zu schwach, um den Weg <strong>in</strong> die Freiheit anzutreten. Er musste<br />

noch e<strong>in</strong>ige Monate länger <strong>in</strong> Buchenwald bleiben. Dort malte er mit Buntstift-<br />

Stummeln das Lagerleben. Se<strong>in</strong>e 80 „K<strong>in</strong>derzeichnungen“ dokumentieren die<br />

Lagerwelt, erzählen vom Alltag im KZ, vom Terror der SS, von Krankheiten,<br />

23


Arbeit, Essenausgabe. Es s<strong>in</strong>d die Bilder e<strong>in</strong>es „k<strong>in</strong>dlichen Historikers“, wie<br />

Herr Geve sich selbst bezeichnet.<br />

1946 reiste Thomas Geve zunächst zu se<strong>in</strong>em Vater nach England aus. Dort<br />

übergab er se<strong>in</strong>e Zeichnungen se<strong>in</strong>em Vater, der sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tresor verschloss,<br />

denn nach Kriegsende fehlte das Interesse an diesen Schicksalen. 1985 übergab<br />

Herr Geve die Zeichnungen an die Gedenkstätte Buchenwald und e<strong>in</strong>e enge<br />

Zusammenarbeit nahm ihren Lauf. 1997 reiste Thomas Geve an die Orte der<br />

Er<strong>in</strong>nerung <strong>in</strong> Buchenwald zurück und es entstand der Film „Nichts als das<br />

Leben“, <strong>in</strong> dem er se<strong>in</strong>e Lebensgeschichte erzählt. Ebenso wurden se<strong>in</strong>e<br />

Zeichnungen <strong>in</strong> dem Buch „Hier waren ke<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der“ veröffentlicht.<br />

Heute lebt Thomas Geve <strong>in</strong> Haifa, Israel.<br />

5.3. Margarete L<strong>in</strong>demann<br />

E<strong>in</strong> schrecklicher Abschnitt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben<br />

Margaretes Familie<br />

Ich, Margarete L<strong>in</strong>demann, wurde am 11.09.1940 <strong>in</strong> der Slowakei (Mayerska)<br />

geboren.<br />

Me<strong>in</strong> Vater war Deutscher, me<strong>in</strong>e Mutter jedoch Slowak<strong>in</strong>. Zu Hause sprachen<br />

wir demnach nur slowakisch.<br />

Im Oktober 1945 musste me<strong>in</strong>e Familie, die aus me<strong>in</strong>er Mutter, me<strong>in</strong>em Vater,<br />

me<strong>in</strong>en zwei Brüdern und mir bestand, die Slowakei sofort verlassen, da me<strong>in</strong><br />

Vater ke<strong>in</strong> Slowake war.<br />

Wir packten all unsere persönlichen Sachen zusammen, sattelten das Pferd und<br />

24


legten die Gegenstände <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Wagen, die wir nicht mehr am Leib tragen<br />

konnten.<br />

Nach e<strong>in</strong>er kurzen Strecke, welche wir gelaufen s<strong>in</strong>d, überfielen uns Slowaken,<br />

die uns all die Habseligkeiten wegnahmen, die wir nicht bei uns tragen konnten.<br />

Auf dem Treck, sahen wir über uns die Flugzeuge kreisen und nach wenigen<br />

M<strong>in</strong>uten sprangen alle <strong>in</strong> die nebenliegenden Gräben, um sich vor den Fliegern<br />

zu schützen, jedoch standen viele nicht mehr auf.<br />

E<strong>in</strong>e Frau, die den ganzen Weg schon mit uns mitgegangen war, trug <strong>in</strong> ihren<br />

Armen ihr totes Baby. Sie behielt es bei sich, weil sie es e<strong>in</strong>fach nicht übers<br />

Herzen br<strong>in</strong>gen konnte, ihr K<strong>in</strong>d so ungeschützt <strong>in</strong> den Graben zu legen.<br />

Irgendwann kam e<strong>in</strong> Gebüsch, welches die Frau als Gelegenheit sah, ihr totes<br />

Baby dort h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zulegen. Auf dem weitern Weg drehte sie sich immer wieder<br />

um, um sich e<strong>in</strong>fach nur zu versichern, dass das Gebüsch noch da ist, bis wir<br />

e<strong>in</strong>e Kurve passierten. Danach schaute sie nur noch auf den Boden und we<strong>in</strong>te.<br />

Wir wurden aus unserer Heimat vertrieben und kamen <strong>in</strong> das ehemalige<br />

Konzentrationslager Nowaki, welches jetzt als Umerziehungslager diente.<br />

Nach e<strong>in</strong>em sehr langen Fußmarsch erreichten wir das Umerziehungslager <strong>in</strong><br />

Nowaki.<br />

Vor dem E<strong>in</strong>lass <strong>in</strong>s Lager mussten wir nun alle persönlichen Sachen abgeben,<br />

die wir bis dah<strong>in</strong> noch am Körper trugen, wie Geld, Schmuck und Ähnliches.<br />

Diese Sachen warfen wir auf, e<strong>in</strong>en schon bestehenden, großen Haufen.<br />

Danach brachte man uns <strong>in</strong>s Lager und zeigte uns unsere Schlafplätze.<br />

Diese Baracken waren voller Wanzen, die sich mit Vorliebe an den Decken und<br />

Ecken ansiedelten.<br />

Nur beim H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gucken wussten wir schon, das wir dort nicht schlafen würden,<br />

deswegen schliefen wir unter freiem Himmel.<br />

Nachdem wir die erste Nacht überstanden haben, kontrollierten uns die Aufseher<br />

auf Läuse. Bei den Leuten, wo Läuse auftraten, wurden die Haare sofort<br />

entfernt.<br />

Um mir me<strong>in</strong>e Haare zu erhalten, wurden diese mit der Hilfe me<strong>in</strong>er Mutter zu<br />

Zöpfen gebunden, die dann unter e<strong>in</strong>er Mütze versteckt wurden.<br />

Die hygienischen Verhältnisse waren sehr schlecht, denn das, was man Toiletten<br />

nannte, waren Löcher <strong>in</strong> der Erde, über denen Bretter als Sitzfläche dienten.<br />

Zum Essen kann ich nicht viel sagen, denn es war e<strong>in</strong>fach nur schlecht und es<br />

gab für jeden nur circa e<strong>in</strong>e Handvoll pro Tag.<br />

Doch wir hatten Glück denn nach e<strong>in</strong>igen Monaten wurden wir aus dem<br />

Umerziehungslager geholt.<br />

E<strong>in</strong> Freund me<strong>in</strong>es Onkels mütterlicher Seite holte uns dort heraus, denn bei<br />

e<strong>in</strong>em Gespräch s<strong>in</strong>d unsere Namen gefallen. Das war unsere Rettung.<br />

Auf der Flucht trafen wir me<strong>in</strong>e Großeltern, doch unsere Wege teilten sich<br />

wieder, da sie e<strong>in</strong>e andere Richtung e<strong>in</strong>schlagen wollten.<br />

Im April 1946 kamen me<strong>in</strong>e Familie und ich <strong>in</strong> Grimmen (Mecklenburg<br />

Vorpommern) an.<br />

25


Bei e<strong>in</strong>em Bauern <strong>in</strong> Deyelsdorf, der eigentlich ke<strong>in</strong>e Flüchtl<strong>in</strong>ge aufnehmen<br />

wollte, kamen wir unter.<br />

Es war e<strong>in</strong> eher sehr unfreundlicher und menschenfe<strong>in</strong>dlicher Bauer, denn me<strong>in</strong><br />

Vater übersetzte uns, dass der Bauer der Me<strong>in</strong>ung war, dass man alle Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

auf die Koppel scheuchen müsste und er mit der Peitsche h<strong>in</strong>terher rennen sollte.<br />

Alle die dabei überleben würden und noch arbeiten könnten, würden nicht<br />

erschlagen werden.<br />

Me<strong>in</strong>e Brüder und ich durften, da wir Slowaken waren, nicht auf die Straße<br />

gehen. Wir wurden von Morgens bis Abends im Zimmer e<strong>in</strong>gesperrt. Me<strong>in</strong>e<br />

Eltern dagegen arbeiteten den ganzen Tag auf dem Acker, um dem Bauern zu<br />

helfen und ihn gnädig zu stimmen.<br />

Später wohnten wir als Umsiedler im Schloss von Deyelsdorf. E<strong>in</strong> Teil me<strong>in</strong>er<br />

Geschwister wurde <strong>in</strong> den Orten <strong>in</strong> der näheren Umgebung sesshaft.<br />

Nach me<strong>in</strong>er Schulzeit die ich dort verlebte, begann ich me<strong>in</strong>e Ausbildung <strong>in</strong><br />

Bans<strong>in</strong>.<br />

Margarete L<strong>in</strong>demann heute<br />

26


me<strong>in</strong>e Heimat<br />

5.4. Helmut Ehrig<br />

Interview<br />

Herr Ehrig, ich bedanke mich zuerst e<strong>in</strong>mal dafür, dass Sie die Zeit gefunden<br />

haben, me<strong>in</strong>e Fragen h<strong>in</strong>sichtlich des Nationalsozialismus zu beantworten.<br />

Zuerst e<strong>in</strong>mal möchte ich e<strong>in</strong>ige persönliche Fragen an Sie stellen:<br />

Wie alt waren Sie zu dieser Zeit und wo wohnten Sie?<br />

Me<strong>in</strong> Name ist Helmut Ehrig, Jahrgang 1929, <strong>in</strong> <strong>Aschersleben</strong> geboren, und<br />

habe <strong>in</strong> dieser Stadt me<strong>in</strong>e ganze Jugend verbracht.<br />

Dann habe ich e<strong>in</strong>ige Fragen vorbereitet, Sie müssen natürlich diese nicht<br />

beantworten, ich fahre dann weiter mit me<strong>in</strong>en Fragen fort.<br />

Welche Er<strong>in</strong>nerungen haben Sie noch zu der damaligen Zeit?<br />

Also als Jugendlicher waren die Verpflichtungen, ohne unser E<strong>in</strong>verständnis,<br />

sehr groß - man kann schon sagen, sie waren dem Alter der Jugendlichen nicht<br />

entsprechend.<br />

27


Was war für Sie damals am ungewöhnlichsten?<br />

Am ungewöhnlichsten waren die Kriegsjahre von 1933 bis 1945, natürlich mit<br />

ihren katastrophalen Folgen.<br />

Wie wurde Ihnen die Ideologie des Nationalsozialismus vermittelt?<br />

Die Frage ist e<strong>in</strong>fach zu beantworten: Schon <strong>in</strong> der Schulzeit wurde den<br />

Schulanfängern mit 6 Jahren durch meist ausgesuchte Lehrer, die treue<br />

Nationalsozialisten waren, die Ideologie, also die Erziehung zum<br />

Nationalsozialismus, beigebracht.<br />

Welches Ereignis war das E<strong>in</strong>schneidendste für Sie <strong>in</strong> dieser Zeit?<br />

Zu dieser Frage muss ich schon sagen, es war nicht normal, dass ich und viele<br />

andere Jugendliche im Alter von nicht ganz 16 Jahren, zur militärischen<br />

Ausbildung, z.B. zum Volkssturm und anderen militärischen Ausbildungen,<br />

e<strong>in</strong>gezogen wurden.<br />

Wurden Sie oder auch andere Familienmitglieder als Soldat e<strong>in</strong>gezogen?<br />

Wie <strong>in</strong> vielen Familien musste me<strong>in</strong>e Mutter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Munitionsfabrik arbeiten,<br />

me<strong>in</strong> Vater wurde gleich 1939 zur Wehrmacht, also zum Militär, e<strong>in</strong>gezogen.<br />

Ich wurde, wie schon erwähnt, mit 15,5 Jahren bis Kriegsende zu e<strong>in</strong>em<br />

militärischen Ausbildungslager im ehemaligen Protektorat Böhmen und Mähren,<br />

dem heutigen Tschechien, denn zu dieser Zeit war dieses Gebiet von<br />

Deutschland besetzt, e<strong>in</strong>gezogen.<br />

Hatten Sie freundschaftlichen Kontakt zu Juden im Wohnort?<br />

In <strong>Aschersleben</strong> waren viele jüdische Geschäfte und die meisten Familien haben<br />

dort genauso gut, ja manchmal sogar preiswerter e<strong>in</strong>gekauft.<br />

Was ist <strong>in</strong> der Jugend im Nationalsozialismus anders gewesen als heute?<br />

Die Anforderungen an die Jugend im Nationalsozialismus waren sehr groß, der<br />

Jugend <strong>in</strong> diesem Staat wurde vieles mit Zwang und Verpflichtungen<br />

aufgetragen.<br />

Danke Herr Ehrig, für ihre Offenheit.<br />

28


6. Manipulation durch Sprache<br />

Die Nationalsozialisten verstanden es schon sehr bald die öffentliche Me<strong>in</strong>ung<br />

über die Massenmedien wie Rundfunk und Film zu kontrollieren. Eigens dafür<br />

richteten sie e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>isterium für Volksaufklärung und Propaganda unter der<br />

Leitung von Joseph Goebbels e<strong>in</strong>. Die Gleichschaltung der Presse und des<br />

Kulturbetriebes wurden <strong>in</strong> Angriff genommen. Verb<strong>in</strong>dliche Sprachregelungen<br />

gaben Inhalte und Form der Berichterstattung vor. Ab 1936 wurde die<br />

Verbreitung der nationalsozialistischen Propaganda durch den massenhaften<br />

Verkauf des sogenannten „Volksempfängers“ möglich. Jeder Bürger konnte sich<br />

dieses billige Radio leisten. Das geme<strong>in</strong>same Anhören von „Führerreden“ zu<br />

Hause, <strong>in</strong> der Schule und <strong>in</strong> Betrieben sollte die „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ fördern.<br />

Die Idee der „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ ist wohl die zugkräftigste Propagandaformel.<br />

Von Anfang an s<strong>in</strong>d die Grenzen der „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ scharf umrissen: Nur<br />

wer sich politisch une<strong>in</strong>geschränkt zur nationalsozialistischen Herrschaft<br />

bekennt und wer nach rassischen Kriterien als Deutscher betrachtet wird, kann<br />

zu ihr gehören. In diesem S<strong>in</strong>ne heißt es <strong>in</strong> den „Nürnberger Gesetzen“:<br />

„Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen und artverwandten Blutes,<br />

der durch se<strong>in</strong> Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, <strong>in</strong> Treue dem<br />

Deutschen Volk und Reich zu dienen.“ Alle anderen, die diese Bed<strong>in</strong>gungen<br />

nicht erfüllen, stehen außerhalb der „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ und s<strong>in</strong>d als Fe<strong>in</strong>de zu<br />

betrachten. Sie s<strong>in</strong>d dem nationalsozialistischen Terrorsystem ausgeliefert, zu<br />

deren Handlanger sich die Justiz une<strong>in</strong>geschränkt macht.<br />

In se<strong>in</strong>en Tagebüchern setzt sich Victor Klemperer (1881-1960) mit der<br />

Manipulation der Menschen durch Sprache ause<strong>in</strong>ander. Se<strong>in</strong>e Tagebücher<br />

enthalten erschütternde Details aus dem Alltagsleben e<strong>in</strong>es verfolgten Juden im<br />

Nazideutschland. Er überlebte den Nationalsozialismus dank se<strong>in</strong>er Ehe mit<br />

e<strong>in</strong>er Nichtjüd<strong>in</strong>.<br />

6.1. Schülerarbeiten<br />

„Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das,<br />

was geme<strong>in</strong>t ist. Ist das, was gesagt wird, nicht das, was geme<strong>in</strong>t ist, so<br />

kommen die Werke nicht zustande. Kommen die Werke nicht zustande, so<br />

gedeihen Moral und Kunst nicht. Gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft<br />

das Recht nicht. Trifft das Recht nicht, so weiß die Nation nicht, woh<strong>in</strong><br />

Hand und Fuß setzen.<br />

Also dulde man ke<strong>in</strong>e Willkürlichkeit <strong>in</strong> den Wörtern, das ist es, worauf es<br />

ankommt.“<br />

(Zitat Konfuzius 551-479 v. Chr.)<br />

29


Schülerbeitrag1<br />

„Worte können se<strong>in</strong>, wie w<strong>in</strong>zige Arsendosen.“(Victor Klemperer „LTI“), ist<br />

rückblickend wahrsche<strong>in</strong>lich die treffendste metaphorische Aussage über die Art<br />

und Weise der Manipulation zur Zeit des Nationalsozialismus. Durch die<br />

ger<strong>in</strong>ge Menge „Gift“ entfalte sich die Wirkung erst nach e<strong>in</strong>em längeren<br />

Zeitraum und dann sei es zu spät: Das „Gift“ der Manipulation lähme die<br />

Gedanken und mache sie anfällig für rassistische Gedankenäußerung. Wie die<br />

Immunkrankheit AIDS, die das Immunsystem schwächt und für e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache<br />

Grippe extrem anfällig macht. So auch haben die verachtenden Reden von Hitler<br />

und se<strong>in</strong>es Reichspropagandam<strong>in</strong>isters Joseph Goebbels mit jedem weiteren<br />

mehr E<strong>in</strong>lass <strong>in</strong>s Unterbewusstse<strong>in</strong> der Bevölkerung gefunden. Irgendwann<br />

werden die Reden gebilligt, akzeptiert und nicht weiter beachtet. Hitler und<br />

Goebbels waren zweifellos Meister der Manipulation. Tag für Tag liefen die<br />

verachtenden Reden von Goebbels durch den Volksempfänger und verführten<br />

und verführten die Bevölkerung tröpfchenweise mit ihrem kommunikativen<br />

Gift. Das war die tägliche Arsendosis. Tausendfach wurden die Reden<br />

wiederholt und tausendfach konnte man sich nicht dagegen wehren, bis man es<br />

nicht mehr <strong>in</strong> Frage stellt. So ist es vielleicht zu erklären, dass Millionen von<br />

Menschen Hitlers Idealen folgten ihn umjubelten und vergötterten. Oft<br />

bedienten sich Hitler und Goebbels der Euphemisierung von Begriffen. Zu<br />

dieser Zeit entstand zum Beispiel die euphemistische Wortfügung „Endlösung<br />

der Judenfrage.“ Endlösung – zum e<strong>in</strong>en, aus Sicht der Nationalsozialisten,<br />

Lösung für e<strong>in</strong> Problem, dass beseitigt werden müsste, um die Bevölkerung zu<br />

schützen. Zum anderen Erlösung, um die Juden von ihrem „Leiden“ <strong>in</strong><br />

Deutschland zu befreien, ihnen vielleicht sogar e<strong>in</strong>en Gefallen zu tun, um so das<br />

eigentliche Vorhaben, die Ausrottung der jüdischen Rasse, vor den Augen der<br />

Bevölkerung geheim zu halten, zu verschleiern und zu verstecken. „Judenfrage“<br />

– abgeleitet von „Sozialer Frage“, soll den E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>es gesamtnationalen<br />

Problems erwecken. Jeder Deutsche soll sich dadurch angesprochen fühlen und<br />

ist aufgefordert, mit zu helfen, im Kampf gegen die „bösen“, verhassten und<br />

verjagten Juden.<br />

Besonders im Nationalsozialismus war die Manipulation durch Sprache an der<br />

Tagesordnung. Doch auch heute prasseln täglich Wortfügungen auf uns e<strong>in</strong>, die<br />

unser Handeln bee<strong>in</strong>flussen. Doch obwohl wir heute besser Bescheid wissen,<br />

lassen wir uns manipulieren, was oft auf emotionale Bequemlichkeit<br />

zurückzuführen ist.<br />

30


Schülerbeitrag 2<br />

Sprache kann manipulieren! So zum Beispiel nutzen kle<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der, oft mehr<br />

oder weniger bewusst, sprachliche Manipulation, um ihren Willen bei den Eltern<br />

durchzusetzen. Das machen sie auf e<strong>in</strong>e schon fast mitleiderregende Art und<br />

Weise, oftmals auch mit e<strong>in</strong>er Träne im Auge, die e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> dazu dient,<br />

ihr Ziel zu erreichen, welches zumeist die Süßigkeiten im Regal e<strong>in</strong>es<br />

Supermarktes darstellt.<br />

Doch an dieser Stelle soll weniger auf das Ziel sprachlicher Manipulation<br />

e<strong>in</strong>gegangen werden, als auf die Art, wie sie <strong>in</strong> der Vergangenheit Anwendung<br />

fand. Die metaphorische H<strong>in</strong>führung zum Thema verbale und nonverbale<br />

Manipulation durch Kommunikation sollte dem Leser dazu dienen, diese<br />

Thematik vor Augen zu führen.<br />

Denn <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung war die Manipulation sehr offensichtlich, denn die<br />

„Opfer“ waren sich ihrer Opferrolle durchaus bewusst, doch im Enddefekt<br />

br<strong>in</strong>gen es Eltern eher selten übers Herz, dem K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> die Augen zu blicken und<br />

ihm e<strong>in</strong> klar def<strong>in</strong>iertes „Ne<strong>in</strong>!“ Sozusagen an den Kopf zu werfen. Diese Art<br />

der Manipulation stellt ke<strong>in</strong>e allzu große Gefahr dar, da die Manipulierten<br />

wissen, dass sie im Begriff s<strong>in</strong>d manipuliert zu werden.<br />

Doch es gab auch e<strong>in</strong>e kaum auffällige Art der Manipulation, die nur das<br />

Unterbewusstse<strong>in</strong> ansprach. Zur Anwendung ist diese Art der<br />

Manipulationsweise während der Führungsphase des Diktators und Tyrannen<br />

Adolf Hitler gekommen.<br />

Denn er und se<strong>in</strong>e „rechte Hand“, Joseph Goebbels, waren Meister im Umgang<br />

mit Sprache und nutzten beziehungsweise erweiterten ihr Wissen stetig. Diese<br />

Sprachgenies verfolgten jedoch nicht die Absicht mit ihrem Wissen Gutes zu<br />

tun, sondern bauten e<strong>in</strong> Regime auf, welches durch Sprachmanipulation das<br />

Denken und Handeln der Bevölkerung <strong>in</strong> die, von ihnen vorgesehene Richtung<br />

lenkte. Wer nicht <strong>in</strong> dieses Regime passte oder wer sich gar widersetzte wurde<br />

kurzerhand elim<strong>in</strong>iert.<br />

E<strong>in</strong> gutes Beispiel, wie die Nationalsozialisten manipulierten, ist das Nomen<br />

„Euthanasie“. Bei näherer Betrachtung dieses Substantivs ist zuerst auffällig,<br />

dass es sich um e<strong>in</strong> Fremdwort handelt und somit nur von e<strong>in</strong>em Teil der<br />

Bevölkerung verstanden werden konnte. Der ger<strong>in</strong>ge Prozentsatz derer, die es<br />

übersetzen konnten, verstanden es als „schöner Tod“. Diese Übersetzung weckt<br />

Assoziationen, die dazu führen, dass das Substantiv im Unterbewusstse<strong>in</strong> se<strong>in</strong>es<br />

eigentlichen S<strong>in</strong>ngehaltes entzogen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Kontext gebracht wird.<br />

Denn „schöner Tod“ kl<strong>in</strong>gt nach „frei gewählter Tod“ oder „Tod im Schlaf“ und<br />

das ist ke<strong>in</strong>esfalls der wahre H<strong>in</strong>tergrund dieses Wortes. Doch was bedeutet<br />

dieses Wort wirklich? Es bedeutet, dass Tausende von Menschen aufgrund von<br />

geistigen und/oder körperlichen E<strong>in</strong>schränkungen verfolgt, verschleppt und<br />

vergast wurden. Mord auf brutalste Art, das steckt h<strong>in</strong>ter diesem Wort, rechtlich<br />

ermöglicht durch die Diktatur e<strong>in</strong>es Mannes, der die perfekte Menschenrasse<br />

31


erschaffen wollte. Doch wer sollte dieses Nomen so verstehen? Die<br />

Nationalsozialisten waren ständig dabei, unmoralische und unmenschliche taten<br />

durch stilistische Beschönigungen und Verschleierungen vor den Augen der<br />

Menschen zu verstecken. Doch dies war nur e<strong>in</strong> w<strong>in</strong>ziger Auszug aus der<br />

grenzenlos sche<strong>in</strong>enden Wortarsenalkiste Hitlers und se<strong>in</strong>es<br />

Propagandam<strong>in</strong>isters Goebbels.<br />

Also sollten Menschen, wenn sie etwas sehen, hören oder lesen, stets darauf<br />

bedacht se<strong>in</strong>, dass sich Manipulation h<strong>in</strong>ter jedem Wort, jedem Bild und jedem<br />

Ton verbergen kann. Jeder Mensch sollte das ihm „Vorgesetzte“ verarbeiten,<br />

kritisch begutäugen und danach se<strong>in</strong>e Entscheidungen treffen!<br />

Schülerbeitrag 3<br />

,,Das Dritte Reich hat die wenigsten Wörter se<strong>in</strong>er Sprache selbstschöpferisch<br />

geprägt, vielleicht, wahrsche<strong>in</strong>lich sogar, überhaupt ke<strong>in</strong>es “ (Zitat - Victor<br />

Klemperer: LTI). Wenn diese These se<strong>in</strong>e Richtigkeit hat, dann stellt sich die<br />

Frage, wie die Nationalsozialisten durch Sprache so viel Erfolg haben konnten?<br />

Mit Wörtern wie z.B. ,,Endlösung” konnte man die Menschen so manipulieren,<br />

dass sie das Grauenhafte des eigentlichen Inhalts, der dem Wort <strong>in</strong>begriffen war,<br />

nicht erkannten. Das Wort ,,Endlösung” deutet zuerst e<strong>in</strong>mal die endgültige<br />

Lösung e<strong>in</strong>es Problems an, doch eigentlich steckt die <strong>in</strong>dustrielle Vernichtung<br />

von Menschen dah<strong>in</strong>ter. Dieser Begriff ist e<strong>in</strong> Euphemismus, das Sterben bzw.<br />

der Tod wird durch diese Bezeichnung verhüllt. Es handelt sich dabei um e<strong>in</strong>en<br />

positiv behafteten Begriff. Statt ,,sterben” könnte man auch den Ausdruck<br />

,,jemanden <strong>in</strong>s Himmelreich holen” verwenden. Der Begriff ,,Endlösung” setzt<br />

sich aus den beiden Worten ,,Ende” und ,,Lösung” zusammen. Mit dem Wort<br />

,,Ende” assoziiert man Ziel oder Schluss. Man erkennt, dass die positiven<br />

Assoziationen zu diesem Wort überwiegen. Mit dem Wort ,,Lösung” assoziiert<br />

man Problemlösung, Erfolg oder auch Erleichterung. Es handelt sich also hierbei<br />

um e<strong>in</strong>e positive Konnotation. Die Nationalsozialisten übernahmen Wörter, die<br />

schon existierten, veränderten jedoch manche Bestandteile. So entstand durch<br />

e<strong>in</strong> bereits existierendes Wort e<strong>in</strong> neuer Begriff mit anderer Bedeutung, Für die<br />

<strong>in</strong>dustrielle Vernichtung von Menschen, was äußerst negativ ist, wurde somit e<strong>in</strong><br />

neuer hochwertiger Wort<strong>in</strong>halt geschaffen. E<strong>in</strong> anderes Beispiel für gezielte<br />

Manipulation ist das Wort ,,Sonderbehandlung” , welches eigentlich die<br />

systematische Tötung von Juden be<strong>in</strong>haltet. Bei diesem Begriff denkt man sofort<br />

an etwas Sonderbares, etwas Ungewöhnliches. Dieses Wort erweckt zuerst e<strong>in</strong>en<br />

unguten Verdacht. Doch nach genauerer Ause<strong>in</strong>andersetzung könnte man auch<br />

e<strong>in</strong>e besondere oder zuvorkommende Behandlung assoziieren. Auch bei<br />

folgenden Wörtern wird der Begriff ,,Töten” <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wortbedeutung<br />

umgangen: ,,Abwandern , Evakuieren oder Ausmerzen”. Auch diese Wörter<br />

32


e<strong>in</strong>halten ebenso wie ,,Sonderbehandlung”, die Tötung von Juden, wobei bei<br />

,,Sonderbehandlung” die eigentliche Bedeutung total entfremdet wurde.<br />

Deswegen kommt man zu dem Entschluss, dass die Nationalsozialisten Künstler<br />

der Sprache waren. Sie haben zwar, genau wie Klemperer sagte, diese Wörter<br />

nicht erfunden, haben sie aber durch Euphemisierung perfekt <strong>in</strong> Szene gesetzt<br />

und die eigentlich grausamen Inhalte taktisch klug vor der breiten Masse der<br />

Bevölkerung verhüllt. Durch diesen ausgeklügelten Umgang mit der Sprache<br />

wurden sehr viele Menschen manipuliert oder sogar bis <strong>in</strong> ihre Vernichtung<br />

getrieben.<br />

Schülerbeitrag 4<br />

Sprache kann manipulativ gebraucht werden und wenn dies gezielt e<strong>in</strong>gesetzt<br />

wird, kann dadurch die gesamte Menschheit manipuliert werden. Doch meist<br />

wird diese Manipulation durch Sprache so angewandt, dass sie von der breiten<br />

Masse nicht bemerkt wird, sondern e<strong>in</strong>fach unbewusst <strong>in</strong> ihr Denken und<br />

Handeln übergeht. Um dies genauer zu verdeutlichen, ist die sprachliche<br />

Manipulation <strong>in</strong> der Zeit des Nationalsozialismus e<strong>in</strong> gut gewähltes Beispiel,<br />

denn zu dieser zeit wurden von Adolf Hitler und se<strong>in</strong>en Anhängern sehr viele<br />

Worte beschönigend, ruhigstellend oder so gebraucht, dass sie e<strong>in</strong>e ganz andere<br />

Bedeutung hatten. Die Sprache wurde oft euphemisiert oder so emotional<br />

aufgebläht, dass die Worte am Ende e<strong>in</strong>e komplett gegensätzliche Bedeutung, zu<br />

dem, was sie eigentlich aussagen würden, hatten. Die Nationalsozialisten setzten<br />

sprachliche Manipulation gezielt e<strong>in</strong>, um so viele Menschen wie möglich auf<br />

ihre Seite zu ziehen und sie von ihrer Me<strong>in</strong>ung zu überzeugen. Besonders mit<br />

dem Begriff des Tötens wurde sehr euphemistisch umgegangen. Zum Beispiel<br />

benutzte man sehr bewusst das Substantiv ,,Evakuierung” für den Abtransport<br />

und die Vergasung oder sonstige Vernichtung tausender Juden. Wenn man<br />

jedoch das Verb ,,evakuieren” genauer betrachtet , fällt auf , dass es zu diesem<br />

Bedeutungsh<strong>in</strong>tergrund nicht passt , denn ,,evakuieren” heißt soviel wie die<br />

Juden ,,retten” und sie vor etwas Schlimmen zu bewahren , und dieser Fakt trifft<br />

wohl kaum zu , wenn dah<strong>in</strong>ter der Tod tausender Menschen steht. Doch der<br />

Großteil der Bevölkerung nahm diese Bedeutungsänderung gar nicht wahr. Es<br />

war den Menschen zum Teil gar nicht bewusst , dass so etwas grauenhaft<br />

Schlimmes dah<strong>in</strong>ter steckte und wenn es ihnen doch bewusst war , waren sie<br />

durch andere sprachliche Mittel schon so manipuliert , dass sie es quasi ,,gut”<br />

fanden , dass die Juden vernichtet wurden , da sie die deutsche Rasse<br />

verunre<strong>in</strong>igen würden und dass sie es nicht wert wären , unter arisch re<strong>in</strong>en<br />

Deutschen zu leben. Erschreckend ist dass die Menschen diese grauenvolle<br />

Manipulation nicht bemerkten. Doch heutzutage, heute wissen wir, wie sehr der<br />

Mensch durch Sprache manipuliert werden kann und müssen achtsam se<strong>in</strong>,<br />

dieser Steuerung unseres eigenen Denkens nicht zu unterliegen. Alles Gesehene,<br />

33


Gehörte oder Gelesene muss genauestens geprüft und abgewogen werden, damit<br />

e<strong>in</strong>e solche Manipulation der Menschheit nie wieder geschehen kann.<br />

Schülerbeitrag 5<br />

“Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch me<strong>in</strong> Gefühl.” Zu<br />

dieser Erkenntnis, dass Sprache manipuliert kam Victor Klemperer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

1946 verfassten ,,LTI”. Im Nationalsozialismus wurden Worte gezielt als<br />

Propagandamittel genutzt. Zahlreiche Euphemismen wie zum Beispiel<br />

,,Euthanasie” oder ,,Konzentrationslager”, welche verwendet wurden, um die<br />

tatsächlichen zumeist zu meist grausamen Taten, wie die Massenvernichtung der<br />

Juden zu verheimlichen, zu verschleiern und letztendlich zu verfälschen.<br />

Hört man das Wort ,,Konzentrationslager”, denkt man an nichts Grausames, an<br />

ke<strong>in</strong>en Ort, an dem Millionen Menschen starben. E<strong>in</strong>e ,,Konzentration” f<strong>in</strong>det<br />

statt, wenn sich etwas an e<strong>in</strong>em bestimmten Ort sammelt. Also erweckt das<br />

zusammengesetzte Substantiv ,,Konzentrationslager” die Assoziation, dass sie<br />

Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lager zusammen f<strong>in</strong>den, ja dass sie sogar sicher s<strong>in</strong>d. Aber<br />

genau das s<strong>in</strong>d sie nicht. Hitler und se<strong>in</strong>e rechte Hand Goebbels benutzten<br />

gezielt Euphemismen wie diese um die Menschen zu bee<strong>in</strong>flussen. Besonders<br />

wenig gebildete Menschen können diese Art der Manipulation nicht deuten und<br />

fallen so auf die Lenkung des eigenen Denkens durch Fremde h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. In<br />

Zeitungen waren so nicht Bezeichnungen wie ,,Vernichtungslager” zu lesen,<br />

sondern stattdessen die Bezeichnung ,,Konzentrationslager”. So wird die<br />

eigentliche Wortbedeutung verschleiert. Dieses Wort ist nur e<strong>in</strong>es von vielen<br />

Euphemismen, welche beweisen, dass Sprache manipulieren kann.<br />

Schülerbeitrag 6<br />

„…Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch me<strong>in</strong> Gefühl, sie<br />

steuert me<strong>in</strong> ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster<br />

ich mich ihr überlasse.“<br />

Dieses Zitat, von Victor Klemperer aus „LTI“, weist auf den E<strong>in</strong>fluss der<br />

Sprache auf das Denken der Menschen, h<strong>in</strong>. Die Sprache der Nationalsozialisten<br />

manipulierte die Deutschen systematisch <strong>in</strong> ihrer Denkrichtung. Es gab<br />

zahlreiche, sprachliche Möglichkeiten, dies mit Hilfe von Euphemismen und<br />

anderen rhetorischen Figuren zu tun. Euphemismen sollten zum Beispiel die<br />

wahren Absichten der Nazis verharmlosen, diese Stilfiguren wurden geschickt<br />

durch Medien und Reden <strong>in</strong> das Unterbewusstse<strong>in</strong> der Menschen impliziert und<br />

ließen damit weniger Zweifel bei dem deutschen Volk aufkommen. E<strong>in</strong><br />

treffendes Beispiel der Manipulation der Sprache beim E<strong>in</strong>satz von<br />

Euphemismen ist das zusammengesetzte Substantiv „Schutzstaffel“, das für die,<br />

mit Sonderaufgaben vertraute und Angst und Schrecken verbreitende „Waffen-<br />

SS“, steht. Schutzstaffel weckt den Gedanken, dass es etwas Heilbr<strong>in</strong>gendes sei,<br />

34


das wird besonders durch das Nomen „Schutz“ hervorgehoben, dadurch dachte<br />

e<strong>in</strong> Großteil des Volkes, dass die SS es beschützen würde. Und „Staffel“<br />

erweckt den E<strong>in</strong>druck, dass die SS e<strong>in</strong>e diszipl<strong>in</strong>ierte und geordnete E<strong>in</strong>heit sei,<br />

die als homogene Masse auftritt und für Ordnung sorgt. Also verschleiert der<br />

Euphemismus, „Schutzstaffel“, die schrecklichen Taten des Todeskommandos<br />

der SS. Dies beweist, dass die Gedanken der Menschen, im dritten Reich, <strong>in</strong><br />

gewisse von der Führung provozierte Bahnen gelenkt wurden. Deutlich wird das<br />

vor allem dadurch, dass nur die Wenigsten um die wahre Bedeutung und<br />

Aufgaben der „Schutzstaffel“ Bescheid wussten und so der Manipulation<br />

ausgeliefert waren.<br />

Schülerbeitrag 7<br />

„…Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch me<strong>in</strong><br />

Gefühl“(Victor Klemperer „LTI“ 1946). Diesen Effekt der Sprache, dass sie<br />

unsere Gefühle steuern kann und unsere Gedanken lenkt und verändert, nutzen<br />

nicht nur Politiker unserer Zeit, ihre Ideale durchzusetzen, ne<strong>in</strong>, dieses Wissen<br />

über die Sprache hatten auch schon Adolf Hitler und se<strong>in</strong>e Gefolgsleute <strong>in</strong> der<br />

Zeit des Nationalsozialismus und sie nutzten es schamlos aus. Sie veränderten<br />

die s<strong>in</strong>ngebenden Inhalte verschiedenster Wörter zu ihrem eigenen Nutzen und<br />

zur Vertuschung ihrer eigentlichen Gräueltaten. Sie nutzen Euphemismen zur<br />

Beschönigung ihrer Machenschaften und um die Menschen, das Volk, zu<br />

steuern und sie dazu zu br<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> jeder Situation h<strong>in</strong>ter ihnen zu stehen und<br />

ihnen den Rücken zu stärken. Es gibt viele verschiedene Beispiele für diese<br />

Tatsache der Manipulation. E<strong>in</strong>es der besten ist wohl das zusammengesetzte<br />

Substantiv „Reichskristallnacht“. Wenn man dieses Wort hört, und den<br />

Zusammenhang <strong>in</strong> dem dieses Wort geprägt wurde nicht kennt, hört es sich an<br />

wie e<strong>in</strong>e Art wunderschönes großes Volksfest oder e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er Feiertag, wie<br />

zum Beispiel Heiligabend oder Weihnachten. Das erste Substantiv „Reich“<br />

vermittelt das Gefühl von zusammenhält e<strong>in</strong>es Volkes, e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit. Die beiden<br />

nachstehenden Substantive „Kristall“ und „Nacht“ bewirken dann e<strong>in</strong> empf<strong>in</strong>den<br />

der Schönheit. Kristalle s<strong>in</strong>d etwas Wunderschönes. Etwas glänzendes, fe<strong>in</strong>es<br />

und seltenes. Das Substantiv „Nacht“ verstärkt diese Wirkung noch weiter. In<br />

der Nacht leuchten die Sterne und es gibt wohl kaum etwas Schöneres als e<strong>in</strong>e<br />

laue Sommernacht am Strand zu verbr<strong>in</strong>gen. Aber <strong>in</strong> Wirklichkeit beschreibt das<br />

Wort „Reichskristallnacht“ nur e<strong>in</strong>e weiter der vielen Schreckenstaten der<br />

Nationalsozialisten, denn am 9 November 1938 zerstörten Nationalsozialisten <strong>in</strong><br />

der Nacht viele Geschäfte und Läden von jüdisch stämmigen Menschen. Sie<br />

warfen Ste<strong>in</strong>e <strong>in</strong> die Fenster und zündeten die Läden an. Dieser Name<br />

„Reichskristallnacht“ wurde geschaffen, weil viele Menschen, behaupteten dass<br />

die Glasscherben auf dem Boden durch das Feuer wie tausend kle<strong>in</strong>e Kristalle<br />

leuchteten und glänzten. Alle<strong>in</strong> dieses Beispiel zeigt sehr bee<strong>in</strong>druckend die<br />

35


Wirkung und die Bee<strong>in</strong>flussung durch Wörter. Die Nazis wussten wie sie die<br />

Menschen zu ihrem Zweck nutzen und manipulieren konnten, sodass diese <strong>in</strong><br />

jeder Situation ihr Leben anvertrauten und alle ihre Lügen für bare Münzen<br />

nehmen würden.<br />

Schülerbeitrag 8<br />

Wer kennt es nicht, es ist Freitag Nachmittag und man will den Stress des<br />

Alltags vergessen - man schaltet den Fernseher e<strong>in</strong>. Doch wie so oft flimmert<br />

Reklame über die Mattscheibe. Jeder erkennt die Intention der kapitalgeilen,<br />

emotionskalten Unternehmen, welche versuchen den Zuschauer an se<strong>in</strong>er<br />

schwächsten Stelle zu treffen - auf der Suche nach dem Glück. Diese Absichten<br />

verfolgen sie mit hoch<strong>in</strong>telligenten, raff<strong>in</strong>ierten sprachlichen Ausarbeitungen,<br />

welche <strong>in</strong> wenigen Sekunden sofort die Absicht der Unternehmen dem<br />

Zuschauer verdeutlichen, wie zum Beispiel der Slogan e<strong>in</strong>er<br />

Süßwarenproduktion namens Haribo, der die Zuschauer mit ,,Haribo macht<br />

K<strong>in</strong>der froh und Erwachsene ebenso.”, ködert. Dieser Slogan soll dem<br />

Zuschauer verdeutlichen, dass se<strong>in</strong> Glücksempf<strong>in</strong>den sich steigern werde, wenn<br />

er e<strong>in</strong> Produkt eben dieser Süßwarenproduktion kauft und konsumiert.<br />

Jedoch ist diese Manipulation durch Sprache ke<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung der Neuzeit, es<br />

gibt sie bereits, seitdem Menschen sich der verbalen Kommunikation bedienen.<br />

Die Manipulation durch Sprache erlebt ihre Hochzeit <strong>in</strong> dem Aufsteigen und<br />

Bestehen des Nationalsozialismus. Hitler und se<strong>in</strong> Gefolge bedienten sich<br />

tagtäglich dieser Manipulation durch Sprache, <strong>in</strong>dem sie dem Volk predigten,<br />

was es hören wollte: ,,Arbeit für Alle”. Die arische Rasse stünde über allen<br />

anderen Rassen und die Ursachen für die Weltwirtschaftskrise und allen Übels<br />

läge bei den Juden, Ausländern und Andersgläubigen. Jedoch sprachen die Nazis<br />

niemals öffentlich über ihre Vorhaben, sie verpackten sie <strong>in</strong> schöne Wortgebilde,<br />

um e<strong>in</strong>e möglichst breite Masse anzusprechen und diese letztendlich zu<br />

manipulieren. In dieser Form brachten die Nazis das Volk dazu, dass es<br />

beispielsweise dem totalen Krieg jubelnd beistimmte, der Endlösung zusagte<br />

und sogar der Zerstörung der Weimarer Republik, um somit e<strong>in</strong>e Diktatur zu<br />

errichten.<br />

So beschlossen die Nazis auch, dass ab 1937 die ,,entartete” Kunst zerstört<br />

werden müsse. ,,Entartet” - eigentlich e<strong>in</strong> Wort, welches etwas Abnormales<br />

darstellt, etwas, das aus den ,,Fugen” geraten ist. Das Wort ,,entartet” setzt sich<br />

aus dem Präfix ,,ent-” und dem Wortstamm ,,Art” zusammen. Das Präfix ,,ent-”<br />

beschreibt die Distanz, die Abgrenzung von der Kunst. Mit dem Wortstamm<br />

,,Art” <strong>in</strong> der Zusammensetzung mit dem Präfix ,,ent-” weckt negative<br />

Assoziationen, wie sie auch bei ,,ausarten” oder ,,aus der Art geschlagen”<br />

vorkommen. Die Nazis verstanden jene Kunst als ,,entartete Kunst”, welche<br />

durch Juden, Andersgläubige oder Menschen der Weimarer Republik geschaffen<br />

36


wurden. Man verstand ab sofort nur noch Kunst als würdig für die Menschen<br />

Deutschlands, welche der NS-Ideologie entsprachen. Dies ist e<strong>in</strong> Beispiel für die<br />

starke E<strong>in</strong>schränkung der persönlichen Freiheit e<strong>in</strong>es jeden E<strong>in</strong>zelnen des<br />

Volkes. Die Nazis versuchten durch Zäsur der Medien, der Parteien und auch der<br />

Kunst ihr politisches System und ihre Weltanschauung aufrecht zu erhalten und<br />

zu schützen. So wurden zum Beispiel Werke von weltbekannten Künstlern wie<br />

Otto Dix, Max Beckmann oder Käthe Kollwitz für immer vernichtet, und so hat<br />

auch die Nachwelt oft ke<strong>in</strong>e Möglichkeit mehr, jene Meisterwerke zu betrachten.<br />

Mit diesem Beispiel lässt sich sehr gut darstellen, dass wir heute noch immer mit<br />

den Fehlern, bezüglich des Missbrauchs der Sprachmanipulation, unserer<br />

Vorfahren umgehen und leben müssen. Mit diesem politischen System, welchen<br />

den Menschen <strong>in</strong> Dritten Reich nur Leid und Schmerz bereitete, müssen wir<br />

noch heute mit dem Folgen der beschränkten Intelligenz der großen Masse des<br />

Volkes im Dritten Reich, leben.<br />

37


7. Die „Euthanasieaktion“ T4<br />

7.1. Begriff<br />

Mit dem heute gebräuchlichen Kürzel „Aktion T4“ wird die durch<br />

mediz<strong>in</strong>isches Personal der SS durchgeführte systematische Vernichtung von<br />

weit über 70.000 Patienten aus psychiatrischen E<strong>in</strong>richtungen, sowie körperlich<br />

und/oder geistig beh<strong>in</strong>derter Menschen bezeichnet, die <strong>in</strong> den Jahren 1940-1941<br />

stattfand. Die Nationalsozialisten verfolgten damit nicht nur ihre Vorstellungen<br />

der Rassenhygiene und Eugenik, sondern bezogen auch kriegswirtschaftliche<br />

Aspekte maßgebend <strong>in</strong> die Planung und Organisation dieser Aktion mit e<strong>in</strong>.<br />

Wie auch <strong>in</strong> manchen anderen Bereichen zu f<strong>in</strong>den und auf manch andere<br />

Beispiele anwendbar, lässt sich beobachten, dass die Nationalsozialisten auch<br />

für ihre Vernichtungspläne im Rahmen der Aktion T4 euphemistisch wirkende<br />

Decknamen und Umschreibungen erfanden – so zum Beispiel „Aktion<br />

Gnadentod“.<br />

Nach dem Krieg entstand die Bezeichnung Aktion T4, was auf den Sitz der<br />

Zentrale für die Leitung der Ermordung beh<strong>in</strong>derter Menschen im gesamten<br />

Deutschen Reich, e<strong>in</strong>er Villa <strong>in</strong> der Berl<strong>in</strong>er Tiergartenstraße Hausnummer 4<br />

zurückzuführen ist. (8)<br />

Bei der begrifflichen Bestimmung muss zwischen 3 leicht differenzierten Arten<br />

von Euthanasie gesprochen werden: der Erwachsenen-, der K<strong>in</strong>der- sowie der<br />

wilden (ab 1942 stattf<strong>in</strong>denden) dezentralen Euthanasie. In bis heute erhaltenen<br />

damaligen Dokumenten lässt sich die Bezeichnung „Aktion T4“ ansche<strong>in</strong>end<br />

nicht f<strong>in</strong>den. Gebräuchlich waren damals „Eu-Aktion“ bzw. „E-Aktion“.<br />

Ursprünglich stammt das Wort Euthanasie aus dem griechischen und bedeutete<br />

lange Zeit e<strong>in</strong>en „guten, selbst gewählten Tod“ und stand somit für den Suizid.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs wird heute die Verwendung des Begriffes wohl nicht ohne<br />

entsprechende Assoziationen möglich se<strong>in</strong>. Auch an diesem konkreten,<br />

abstrusen Beispiel zeigt sich, wie manipulierbar Sprache ist – und wie sie <strong>in</strong> der<br />

Zeit des Dritten Reiches manipuliert wurde – denn die Tausenden Menschen<br />

suizidierten sich nicht. Sie wurden unter Vorspiegelung falscher Gründe<br />

ermordet.<br />

38


7.2. Historische H<strong>in</strong>tergründe und Entwicklung<br />

Bereits seit ungefähr 1920 prägte sich durch die Übertragung der Darw<strong>in</strong>’schen<br />

Lehre von den natürlichen Auswahlmechanismen <strong>in</strong> Flora und Fauna auf den<br />

Menschen, welche der Zoologe Ernst Haeckel anstellte, e<strong>in</strong>e Idee, die unter<br />

anderem von Erw<strong>in</strong> Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz propagiert und durch<br />

Alfred Ploetz unter dem Namen „Rassenhygiene“ bekannt wurde. Diese stand <strong>in</strong><br />

engem Zusammenhang mit dem <strong>in</strong> der nationalsozialistischen Ideologie<br />

verankertem Endziel der „Vernichtung lebensunwertem Lebens“.<br />

Auch Adolf Hitler nahm bereits <strong>in</strong> den 20er Jahren an dieser Diskussion teil und<br />

schrieb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „Me<strong>in</strong> Kampf“:<br />

„Denn da das M<strong>in</strong>derwertige der Zahl nach gegenüber dem Besten immer<br />

überwiegt, würde bei gleicher Lebenserhaltung und Fortpflanzungsmöglichkeit<br />

das Schlechtere sich so viel schneller vermehren, dass endlich das Beste<br />

zwangsläufig <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund treten müsste. E<strong>in</strong>e Korrektur zugunsten des<br />

Besseren muss also vorgenommen werden. […] Es ist e<strong>in</strong>e Halbheit, unheilbar<br />

kranken Menschen die dauernde Möglichkeit e<strong>in</strong>er Verseuchung der übrigen<br />

Gesunden zu gewähren. Es entspricht dies e<strong>in</strong>er Humanität, die, um dem e<strong>in</strong>en<br />

nicht wehe zu tun, hundert andere zugrunde gehen lässt. Die Forderung, dass<br />

defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen<br />

unmöglich gemacht wird, ist e<strong>in</strong>e Forderung klarster Vernunft und bedeutet <strong>in</strong><br />

ihrer planmäßigen Durchführung die humanste Tat der Menschheit. Sie wird<br />

Millionen von Unglücklichen unverdiente Leiden ersparen, <strong>in</strong> der Folge aber zu<br />

e<strong>in</strong>er steigenden Gesundung überhaupt führen.“ (9)<br />

Aktion T4 ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e stufenweise verlaufende Verwirklichung<br />

nationalsozialistisch-ideologischer Ziele e<strong>in</strong>zureihen, welche als „Aufartung“<br />

des deutschen Volkes bezeichnet wurden. Andere Maßnahmen zum Erreichen<br />

dieser Ziele waren Ehestandsdarlehen, K<strong>in</strong>derbeihilfen und<br />

Steuererleichterungen. Ebenfalls sollte von nun an jede „Bee<strong>in</strong>trächtigung des<br />

deutschen Volkskörpers“ durch gesetzlich verbriefte Unterb<strong>in</strong>dung von Zeugung<br />

rassisch unerwünschtem oder (verme<strong>in</strong>tlich?) erbkrankem Nachwuchs<br />

abgewendet werden. Bald schon erstreckten sich die dazu dienlichen<br />

Maßnahmen weiter bis zur Tötung „lebensunwerten Lebens“.<br />

Der Reichsm<strong>in</strong>ister des Innern, Wilhelm Frick, schuf die gesetzlichen<br />

Grundlagen zur Durchsetzung eben genannter Ziele. Ihre E<strong>in</strong>leitung fand diese<br />

Entwicklung mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“<br />

welches am 14.07.1933 im Reichsgesetzblatt (RGBl) 1933 I, 529 veröffentlicht<br />

wurde und besagte, dass Menschen mit verme<strong>in</strong>tlichen erblichen Krankheiten zu<br />

sterilisieren seien, um zu verh<strong>in</strong>dern, dass diese auf den eventuellen Nachwuchs<br />

übertragen werden könnten. Der Wirkung dieses Gesetzes fielen Schätzungen<br />

39


zufolge ungefähr 400.000 Männer und Frauen zum Opfer, wobei auch<br />

Todesfälle nicht ausgeschlossen blieben. (10)<br />

Durch das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken<br />

Nachwuchses“, welches am 26.06.1935 (RGBl 1935 I, 773) <strong>in</strong> Kraft trat, wurde<br />

zusätzlich der Schwangerschaftsabbruch bei e<strong>in</strong>wandfrei diagnostizier barer<br />

Erbkrankheit legalisiert. Zusätzlich zur bereits bestehenden mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Indikation kam 1938 die rassische, sowie 1943 die ethische Indikation. Seit dem<br />

15.09.1935 war es durch das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der<br />

deutschen Ehre“ (RGBl 1935 I, 1146) verboten, Verkehr mit „fremdrassigen“<br />

Menschen zu praktizieren, geschweige denn diese zu ehelichen. In Fortsetzung<br />

bzw. Ausweitung dessen wurde per „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des<br />

deutschen Volkes – Ehegesundheitsgesetz“ (RGBl 1935 I, 1246) die<br />

Eheschließung von Menschen mit e<strong>in</strong>er Erbkrankheit oder e<strong>in</strong>er geistigen<br />

Beh<strong>in</strong>derung mit e<strong>in</strong>em gesunden Menschen untersagt.<br />

Der nächste Schritt auf dem Weg <strong>in</strong> die Euthanasie war die 1939 e<strong>in</strong>geführte<br />

Tötung von erbkranken, kognitiv oder körperlich benachteiligten K<strong>in</strong>dern und<br />

Säugl<strong>in</strong>gen, im Rahmen derer ca. 5000 K<strong>in</strong>der und Säugl<strong>in</strong>ge ermordet wurden.<br />

Dies sollte sich als Vorstufe der kurz danach folgenden Euthanasie erweisen, die<br />

sich gegen Erwachsene richtete. Hier ist die Zahl der Opfer aus Pflegeanstalten<br />

und Heimen für beh<strong>in</strong>derte Menschen auf ca. 70.000 zu dotieren.<br />

Im August 1941 wurde die „Aktion T4“ durch die Berl<strong>in</strong>er Zentrale offiziell<br />

e<strong>in</strong>gestellt, die Euthanasie wurde jedoch – dezentral und deshalb weniger<br />

offensichtlich – fortgesetzt.<br />

Nach diesem angeblichen „Ende“ der Euthanasie kamen <strong>in</strong> der weiteren Zeit<br />

durch die „Aktion 14f 13“ noch weitere 20.000 KZ-Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> den Anstalten<br />

der früheren T4 und <strong>in</strong> der „Aktion Brandt“ etwa 30.000 Menschen ums Leben.<br />

Aktion Brandt hatte den Zweck, Krankenhäuser aufgrund zunehmender<br />

Luftangriffe und somit zu erwartender steigender Anzahl an Verletzten zu<br />

leeren, um Platz zu schaffen.<br />

7.3. Anfangsplanung und Organisation von T4<br />

Im Juli des Jahres 1939 beriet sich Hitler mit Leonardo Conti,<br />

Reichsgesundheitsführer, sowie Hans He<strong>in</strong>rich Lammers, Chef der<br />

Reichskanzlei, und Mart<strong>in</strong> Bormann, Leiter der NSDAP-Parteikanzlei, wie die<br />

Fortsetzung der „Vernichtung nicht lebenswerten Lebens“ durch die Ermordung<br />

psychisch Kranker im Anschluss an die K<strong>in</strong>dereuthanasie zu realisieren sei.<br />

In Folge der Beratung wurde dem Leiter der Kanzlei des Führers (KdF), Philipp<br />

Bouhler, die entsprechende Durchführung anvertraut, da dieser bereits <strong>in</strong> der<br />

K<strong>in</strong>dereuthanasie die Verantwortung trug. Am 10.08.1939 fand e<strong>in</strong> Gespräch<br />

mit Leonardo Conti, Karl Brandt, Herbert L<strong>in</strong>den vom Reichsm<strong>in</strong>isterium des<br />

Innern, Oberdienstleiter Viktor Brack, Hans Hefelmann von der KdF und<br />

e<strong>in</strong>igen Ärzten, welche zur mediz<strong>in</strong>ischen Realisierung benötigt wurden, statt.<br />

Unter E<strong>in</strong>beziehung von Prof. Werner Heyde aus Würzburg, welchem die<br />

40


mediz<strong>in</strong>ische Leitung unterstand, wurde dann der Kreis der Mitarbeiter<br />

festgesetzt.<br />

Somit war die organisatorische Basis geschaffen. In e<strong>in</strong>em auf den 01.09.1939<br />

datierten Dokument (11) erteilte Hitler dem Chef der KdF Bouhler und Dr. med.<br />

Brandt die Ermächtigung zur organisatorischen Realisierung der Tötung von<br />

„lebensunwertem Leben“. Dieses damals strenger Geheimhaltung unterliegende<br />

Dokument ist der e<strong>in</strong>zige Befehl zur Tötung von Menschen, den Adolf Hitler<br />

jemals persönlich unterschrieb.<br />

Da die Kanzlei des Führers (KdF) mit all jenen Entscheidungen nicht <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung gebracht werden sollte, wurde e<strong>in</strong>e Sonderverwaltung <strong>in</strong> der<br />

Tiergartenstraße 4 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gerichtet. Diese war seit April 1940 dort ansässig<br />

und stand unter der Leitung von Dietrich Allers. Diese Zentraldienststelle war<br />

nach außen h<strong>in</strong> <strong>in</strong> 4 Organisationen untergliedert: die Reichsarbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

„Heil- und Pflegeanstalten“ (RAG) war für die Erfassung der Opfer durch die<br />

mediz<strong>in</strong>ische Abteilung unter Führung Prof. Heyde’s zuständig und beherbergte<br />

außerdem die Verwaltung; die „Geme<strong>in</strong>nützige Krankentransport GmbH“<br />

verlegte und transportierte die Opfer <strong>in</strong> die Zwischen- oder Tötungsanstalten;<br />

die „Geme<strong>in</strong>nützige Stiftung für Anstaltspflege“ wurde als offizieller<br />

Arbeitgeber der ungefähr 400 T4-Beschäftigten angegeben und die<br />

„Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“ war mit der<br />

Kostenabwicklung des Programms betraut.<br />

Zur Auswahl der Opfer fungierten 40 Ärzte als sogenannte Gutachter. Ihre<br />

Aufgabe bestand dar<strong>in</strong>, anhand e<strong>in</strong>er Patientenbeschreibung auf Meldebögen (12)<br />

über lebenswert oder nicht lebenswert zu entscheiden. Hierbei war die Frage zu<br />

stellen, ob die betreffende Person heilbar und arbeitsfähig ist oder ob ke<strong>in</strong>e<br />

„Produktivität für den Staat“ erreicht werden kann. Die gesamte<br />

Auswahlprozedur wurde durchgeführt, ohne dass die Gutachter die Menschen,<br />

über deren Schicksal sie mit e<strong>in</strong>em roten + (für „töten“) oder e<strong>in</strong>em blauen –<br />

(für „weiterleben“) entschieden, <strong>in</strong> Augensche<strong>in</strong> nahmen. Die Entscheidung<br />

wurde ausschließlich auf Basis der Meldebögen getroffen.<br />

Am 09.10.1939 wurde die Zahl der potenziellen „Patienten“ auf ungefähr<br />

70.000 festgelegt – mit dem Ziel unheilbare Erbkrankheiten, wenn möglich,<br />

auszurotten und als planwirtschaftlicher Nebeneffekt die Anstaltskosten zu<br />

senken. Zu dieser Beratung sollte der Chef des Reichskrim<strong>in</strong>alamtes, SS-<br />

Gruppenführer Arthur Nebe, e<strong>in</strong>e zu diesem Zwecke geeignete Tötungsmethode<br />

vorschlagen. Vom Leiter der chemisch-physikalischen Abteilung des<br />

Krim<strong>in</strong>altechnischen Institutes, Dr. Albert Widmann, wurde das geruchsneutrale<br />

Gas Kohlenmonoxid empfohlen. Per Erlass wurden die entsprechenden Heil-<br />

und Pflegeanstalten zur Benennung zutreffender Patienten aufgefordert. Sie<br />

sollten die bereits erwähnten Meldebögen mithilfe beiliegender Merkblätter (13)<br />

detailliert ausfüllen – über die H<strong>in</strong>tergründe dieses großen Arbeitsaufwandes<br />

wurden die Anstalten allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>in</strong>formiert. Die vom Anstaltspersonal<br />

ausgefüllten Meldebögen wurden an die T4-Zentrale versandt, wo sie kopiert<br />

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und an Gutachter geschickt wurden. Nach der Beurteilung wurden sie zurück <strong>in</strong><br />

die Zentrale geschickt. Dort wurden die Entscheidungen <strong>in</strong> die Orig<strong>in</strong>ale<br />

e<strong>in</strong>getragen und e<strong>in</strong>em der zwei Obergutachter vorgelegt (Werner Heyde und<br />

Herbert L<strong>in</strong>den) zur abschließenden Begutachtung. Die mit e<strong>in</strong>em +<br />

gekennzeichneten Bögen wurden samt Kopien an den Leiter der<br />

„Geme<strong>in</strong>nützigen Krankentransport GmbH“, Re<strong>in</strong>hold Vorberg, übergeben, von<br />

wo aus die Bögen an die entsprechenden Anstalten geschickt wurden. Auf diese<br />

Weise konnten die eventuellen Transporte organisiert werden.<br />

7.4. Die verme<strong>in</strong>tlichen Heil- und Pflegeanstalten<br />

Den Meldebögen, die den e<strong>in</strong>zelnen Anstalten zugesandt wurden, waren auch<br />

zusätzliche Fragebögen über die Anstalten selbst beigelegt. In diesen wurden die<br />

E<strong>in</strong>richtungen aufgefordert, ihre Kompetenzen, räumliche Gegebenheiten sowie<br />

Besonderheiten offenzulegen, welche für die Durchführbarkeit der Euthanasie<br />

unerlässlich waren. Auf diesem Wege sollte <strong>in</strong> Erfahrung gebracht werden,<br />

welche Anstalten die erforderlichen Merkmale bieten konnten und somit<br />

zweckmäßig wären. Waren solche Anstalten für e<strong>in</strong> bestimmtes E<strong>in</strong>zugsgebiet<br />

gefunden, legte man (bspw. <strong>in</strong> Württemberg) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gespräch mit dem<br />

jeweilig zuständigen Gesundheitsdienst fest, welche Anstalt für die Zwecke der<br />

Euthanasie gebraucht werden solle. War diese Entscheidung getroffen, wurde <strong>in</strong><br />

der betreffenden Anstalt der normale Dienst nur <strong>in</strong> dem jeweiligen Gebäude<br />

oder ganz e<strong>in</strong>gestellt und das Areal meist weiträumig abgesperrt und somit vor<br />

Zivilisten gesichert. Diese systematische Abschirmung übernahm die SS, welche<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Radius Wachposten errichtete. Anschließend begannen <strong>in</strong><br />

der Anstalt oder auf dem Gelände die Umbauarbeiten im S<strong>in</strong>ne der<br />

Nationalsozialisten. Es wurden luftdichte Gaskammern errichtet, e<strong>in</strong>e Anlage<br />

zur Zufuhr des Gases <strong>in</strong>stalliert, eventuell e<strong>in</strong> Krematorium errichtet und<br />

ähnliches. Selbstverständlich wurde zuvor die gesamte E<strong>in</strong>richtung oder der Teil<br />

der von für die Aktion „T4“ von den Ländern gemietet wurde, von Patienten und<br />

dem normalen Personal geräumt. Nach Abschluss der Umbauarbeiten arbeitete<br />

dort nur noch „zuverlässiges“ Personal, meist von der SS gestellt. Sechs solcher<br />

Anstalten wurden zwischen 1939 und 1941 auf dem Gebiet des deutschen<br />

Reiches errichtet bzw. e<strong>in</strong>gerichtet.<br />

Die „Euthanasie“ – Anstalt <strong>in</strong> Bernburg übernahm ab Herbst 1940 den Dienst<br />

der Anstalt Brandenburg (Brandenburg an der Havel).<br />

42


7.5. Landes – Heil- und Pflegeanstalt Bernburg<br />

In e<strong>in</strong>em abgetrennten Teilkomplex der Landes-Pflege- und Heilanstalt befand<br />

sich zwischen dem 21.11.1939 und dem 30.06.1943 e<strong>in</strong>e Euthanasieanstalt der<br />

Nationalsozialisten im Rahmen der „Aktion T4“. Rund 18.000 Menschen aus<br />

Konzentrationslagern und psychiatrischen E<strong>in</strong>richtungen wurden dort <strong>in</strong> der<br />

speziell e<strong>in</strong>gerichteten Gaskammer ermordet. Jeder Anstalt war e<strong>in</strong> festgelegtes<br />

E<strong>in</strong>zugsgebiet zugeordnet, aus welchem die Menschen <strong>in</strong> die E<strong>in</strong>richtungen<br />

transportiert wurden. Dieses E<strong>in</strong>zugsgebiet bestand aus Berl<strong>in</strong>, Hamburg,<br />

Mecklenburg, Braunschweig, Schleswig-Holste<strong>in</strong>, Sachsen und Brandenburg.<br />

Aus diesem Areal wurden Menschen direkt oder über Zwischenstationen nach<br />

Bernburg gebracht, um dort im Gas den Tod zu f<strong>in</strong>den. Zwischenanstalten<br />

waren z.B. Uchtspr<strong>in</strong>ge (auch heute noch als psychiatrische E<strong>in</strong>richtung <strong>in</strong><br />

Betrieb), Jerichow, Neurupp<strong>in</strong> und Königslutter. Die Ermordung der „Patienten“<br />

wurde von mediz<strong>in</strong>ischem Personal durchgeführt, was darauf zurückzuführen<br />

ist, dass das Ermächtigungsschreiben Hitlers sich ausschließlich auf Ärzte<br />

bezog. Die <strong>in</strong> Bernburg zuständigen Ärzte waren Dr. med. Irmfried Eberl und<br />

Dr. med. He<strong>in</strong>rich Bunke. Die Ärzte traten nach außen h<strong>in</strong> nicht mit ihrem<br />

richtigen Namen auf, sondern verwendeten Decknamen. Die Anstalt Bernburg<br />

übernahm den Dienst der Anstalt Brandenburg an der Havel. Beide<br />

E<strong>in</strong>richtungen hatten dasselbe E<strong>in</strong>zugsgebiet, welches 15 Millionen Menschen<br />

umfasste. Der Kanzlei des Führers zufolge, sollte von 1000 Menschen 1 Person<br />

von der Aktion erfasst werden. Bis zum 24.8.1941 wurde dieses Ziel mit über<br />

18.000 Opfern allerd<strong>in</strong>gs deutlich übererfüllt.<br />

7.6. Der „Gnadentod“<br />

In großen Bussen der Reichspost wurden die Menschen <strong>in</strong> die Anstalten<br />

transportiert. Die Busse fuhren direkt bis <strong>in</strong> die Garage der E<strong>in</strong>richtung. Erst<br />

wenn diese geschlossen war, wurde den Opfern gestattet, die Busse zu verlassen.<br />

Von der Garage aus wurden die Menschen durch e<strong>in</strong>en Korridor <strong>in</strong>s<br />

Untergeschoss der Anstalt gebracht. Die ankommenden Transporte wurden von<br />

e<strong>in</strong>em Arzt, dem Verwaltungschef und Pflegepersonal <strong>in</strong> Empfang genommen.<br />

Die Verwaltung sollte nur zugegen se<strong>in</strong>, um etwaige bürokratische Irrtümer<br />

ausschließen zu können – z.B. kam es vor, dass zu e<strong>in</strong>em Patienten e<strong>in</strong>e falsche<br />

Akte mitgeschickt wurde. Im Keller mussten sich die Patienten entkleiden und<br />

ihre Wertgegenstände dem Pflegepersonal aushändigen, welches sie zur<br />

„Aufbewahrung“ entgegennahmen. E<strong>in</strong>e Sekretär<strong>in</strong> registrierte sämtlichen<br />

Nachlass. Anschließend wurden die Menschen von dem anwesenden Arzt kurz<br />

<strong>in</strong> Augensche<strong>in</strong> genommen, um e<strong>in</strong>e fungierte – jedoch plausible –<br />

Todesursache festzulegen. Danach wurden sie e<strong>in</strong>zeln fotografiert. Durch die<br />

Anwesenheit von Schwestern und Pflegern wurde bis zuletzt Normalität<br />

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vorgetäuscht. Das Pflegepersonal führte dann die Menschen <strong>in</strong> Gruppen von bis<br />

zu 70 Personen <strong>in</strong> die Gaskammer. Luftdicht verschlossen wurde dann durch<br />

e<strong>in</strong>en Arzt das Kohlenmonoxid e<strong>in</strong>geleitet. Nach etwa e<strong>in</strong>er Stunde war so die<br />

ganze Gruppe durch Erstickung ermordet wurden. E<strong>in</strong>e Anlage zur Entlüftung<br />

re<strong>in</strong>igte nun die Luft und die Türen wurden wieder geöffnet. Die Leichenbrenner<br />

begannen dann damit, die Körper vone<strong>in</strong>ander zu trennen und aus der<br />

Gaskammer zu tragen. Um weiteren Nutzen aus den Toten zu ziehen, wurden<br />

e<strong>in</strong>ige von ihnen für nationalsozialistische „Forschungszwecke“ seziert.<br />

Vorwiegend wurden dabei Gehirne entnommen. Alle anderen Toten wurden <strong>in</strong><br />

den Leichenraum verbracht, um anschließend im Krematorium verbrannt zu<br />

werden. Die Asche wurde (personenunspezifisch) <strong>in</strong> Urnen gefüllt und den<br />

H<strong>in</strong>terbliebenen mitsamt e<strong>in</strong>em Totensche<strong>in</strong> zugeschickt.<br />

Alle diese von uns beschriebenen Greueltaten der Menschenverachtung<br />

geschahen unter Billigung der Justiz im Nationalsozialismus.<br />

„Nie darf e<strong>in</strong> Mensch so tief s<strong>in</strong>ken, dass er e<strong>in</strong>en anderen Menschen hasst.“<br />

Mart<strong>in</strong> Luther K<strong>in</strong>g<br />

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8. Quellen<br />

(1) Deutschland 1933 – 1945 Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft,<br />

Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke Hans – Adolf Jacobsen (Hrsg.),<br />

Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte, 1992 Droste Verlag GmbH,<br />

Düsseldorf, Ralf Angermund, „Recht ist, was dem Volke nutzt.“<br />

(2) ebenda, Wolfgang Benz, „Die Juden im 3. Reich“<br />

(3) http://www.nationalsozialismus.de/dokumente/textdokumente/gesetz-zum-des-<br />

deutschen-blutes-und-der-deutschen-ehre-vom-15091935<br />

(4) Reichsbürgergesetz: Reichsgesetzblatt 1935, S. 1146<br />

Schönfeder, Deutsch Reichsgesetze, Beck 1944<br />

Sartorius, Sammlung von Reichsgesetzen Staats - und verwaltungsrechtlichen<br />

Inhaltes, Beck, 1935 – 1937<br />

(5)<br />

• Unterlagen aus dem Stadtarchiv<br />

• Zur Geschichte der Juden <strong>in</strong> Deutschland, Sachsen – Anhalt und <strong>Aschersleben</strong><br />

E<strong>in</strong>e Chronologie, Teil II 1826 bis heute<br />

(6) Euer Opfer ist uns Mahnung und Verpflichtung, erarbeitet von Mitgliedern des<br />

Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR<br />

Kreiskomitee Quedl<strong>in</strong>burg/<strong>Aschersleben</strong><br />

Franz Timme<br />

Erna Paul<strong>in</strong>g<br />

Hanne – Lotte Kynast<br />

(7) www.wikipedia.de<br />

www.3kleeblaetter-freimaurer-aschersleben.de<br />

(8) Andreas Baumgartner: Die vergessenen Frauen von Mauthausen, 1. Auflage,<br />

Verlag Österreich,<br />

Wien 1997, ISBN 3-7046-1088-7 (Seite 18, Fußnote 25)<br />

(9) Adolf Hitler, Me<strong>in</strong> Kampf, 107.-III.A., München 1934, Seite 313<br />

(10)Adolf Hitler, Me<strong>in</strong> Kampf, 107.-III.A., München 1934, Seite 297 f.<br />

(11) http://www.akens.org/akens/texte/journal/heesch.html<br />

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(12) http://www.ev-stift-<br />

gymn.guetersloh.de/fileadm<strong>in</strong>/Unterrichtsforum/paedagogik/sterbehilfe/euthanasiebefe<br />

hl.html<br />

(13) http://www.lpb-bw.de/pubilkationen/euthana/euthanasie.pdf Seite 52 M16<br />

(14) http://www.lpb-bw.de/pubilkationen/euthana/euthanasie.pdf Seite 52 M17<br />

(15) http://deathcamps.org/euthanasia/grafeneck.html<br />

(16) Todesursache:“Ang<strong>in</strong>a“, M<strong>in</strong>isterium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt, Ute<br />

Hoffmann, 1. Auflage<br />

(17) http://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4<br />

(18) Text: LTI-Notizbuch e<strong>in</strong>es Philologen (1946) von Viktor Klemperer<br />

(19) Text: Zur Euphemisierung von Begriffen von Wolfgang Bergsdorf<br />

(20) Text: Schule und Gegenwart von Barbara Bondy<br />

(21) Zeitzeugen: Helmut Ehrig, Margarte L<strong>in</strong>demann, Thomas Geve<br />

(22) Mitteldeutsche Zeitung (Aussage von Fred Kollwitz)<br />

(23) Schülerbeiträge: Autoren möchten nicht namentlich erwähnt werden<br />

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