Filmset Kalkutta - bei der Hamburg Media School
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V O N E L E N A B A rT E L S<br />
Es ist kalt auf dem Straßenstrich in<br />
St. Georg. Vor einem Schaufenster<br />
reibt sich eine junge Frau die Hände.<br />
Sie verschwindet fast in ihrer dicken<br />
Winterjacke. Die Besucher von dem<br />
angrenzenden Weihnachtsmarkt<br />
schlen<strong>der</strong>n an ihr vor<strong>bei</strong>, ohne die<br />
Frau zu bemerken. Sie ist eine von<br />
dreißig Prostituierten, die auf dem<br />
Steindamm an diesem Abend ihre<br />
Körper verkaufen.<br />
Wie viele Frauen freiwillig in St.<br />
Georg anschaffen gehen, weiß niemand<br />
genau. Das Landeskriminalamt<br />
<strong>Hamburg</strong> schätzt, dass sich 95<br />
Prozent unter Zwang verkaufen.<br />
Was für die <strong>Hamburg</strong>er weit weg zu<br />
liegen scheint, spielt sich in Wahrheit<br />
direkt vor ihren Augen ab:<br />
„<strong>Hamburg</strong> ist eine zentrale Drehscheibe<br />
für Zwangsprostitution in<br />
Europa“, sagt Ralf Kunz, Pressesprecher<br />
<strong>der</strong> Innenbehörde. In <strong>der</strong> Hansestadt<br />
werden vor allem Frauen aus<br />
Osteuropa verkauft und zur Prostitution<br />
gezwungen.<br />
Jenny H. gehörte lange Zeit zu<br />
den Frauen auf dem Straßenstrich in<br />
St. Georg. Die 37-Jährige hat nichts<br />
aus dieser Zeit vergessen. Mit 17 Jahren<br />
jobbte sie in einem Café und<br />
bekam das Angebot, in einer fremden<br />
Stadt als Kellnerin zu ar<strong>bei</strong>ten.<br />
Als sich die Bar als Bordell entpuppte,<br />
wollte sie zurück. „Einen Monat<br />
lang wurde ich in eine Wohnung<br />
eingesperrt und mehrfach am Tag<br />
misshandelt“, erzählt sie. Ihr Peiniger<br />
drückte Zigaretten auf ihrem<br />
Körper aus und lud seine männlichen<br />
Verwandten ein, die Frau zu<br />
vergewaltigen. „Da ist die halbe Türkei<br />
über mich rüber“, sagt sie.<br />
Weltweit werden nach Angaben<br />
<strong>der</strong> EU jährlich etwa 500.000 Frauen<br />
sexuell ausgebeutet. Wie viele es in<br />
<strong>der</strong> Hansestadt betrifft, bleibt unklar.<br />
Denn viele Frauen erstatten nie<br />
Anzeige. Und die Grenze von Prostitution<br />
zu Zwangsprostitution ist<br />
fließend: „Die Frauen betrachten<br />
sich häufig nicht als Opfer, son<strong>der</strong>n<br />
suchen die Schuld <strong>bei</strong> sich selbst“,<br />
sagt Detlef Ubben, Leiter einer<br />
Dienststelle des LKA gegen organisierte<br />
Kriminalität. An<strong>der</strong>e Frauen<br />
befürchten, selbst hinter Gitter zu<br />
Das Tor zur Rotlichtwelt<br />
<strong>Hamburg</strong> ist in Europa eine zentrale Drehscheibe<br />
für Zwangsprostitution und Menschenhandel<br />
landen – weil sie keine Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis<br />
besitzen. Denn <strong>der</strong> deutsche<br />
Staat reagiert hart: Wer sich illegal<br />
im Land aufhält, hat nach <strong>der</strong> Befreiung<br />
aus <strong>der</strong> Zwangsprostitution<br />
lediglich vier Wochen Zeit für eine<br />
Aussage. Stabilisierungsfrist heißt<br />
diese Regelung im Verwaltungsdeutsch.<br />
Doch was nach einer Stütze<br />
für die Opfer klingt, ist für die Frauen<br />
in Wahrheit ein Dilemma: Wer<br />
nicht gegen die Menschenhändler<br />
aussagt, wird in sein Heimatland<br />
ausgewiesen.<br />
Die EU-Osterweiterung hat die<br />
Situation für den Menschenhandel<br />
in <strong>Hamburg</strong> begünstigt. Durch die<br />
Möglichkeit einer legalen Einreise<br />
innerhalb <strong>der</strong> EU gibt es einen<br />
scheinbar endlosen Nachschub an<br />
Frauen. „Mittlerweile kostet eine<br />
halbe Stunde Sex ohne Kondom nur<br />
noch 30 Euro“, sagt Sozialar<strong>bei</strong>ter<br />
Olaf Engelmann. Bei Temperaturen<br />
jenseits des Gefrierpunkts stehen<br />
Frauen wie Jenny bis zu 14 Stunden<br />
am Tag an <strong>der</strong> Straße. Zuhälter prü-<br />
geln sie nach draußen, wenn sie sich<br />
in den Bars aufwärmen wollen – diese<br />
Gewalt prägt den Alltag für die<br />
Zwangsprostituierten in St. Georg.<br />
<strong>Hamburg</strong>s Rolle als Drehscheibe<br />
für Zwangsprostitution kommt<br />
nicht von ungefähr: „Für Menschenhändler<br />
ist <strong>Hamburg</strong> so attraktiv,<br />
weil die Stadt für Sextourismus<br />
bekannt ist“, erklärt Kunz von <strong>der</strong><br />
Innenbehörde. Für die Hansestadt<br />
ist die Vergnügungsmeile Reeperbahn<br />
ein unverzichtbarer Magnet<br />
für Touristen. Da<strong>bei</strong> wird in Kauf<br />
genommen, dass diese Art von Tourismus<br />
einen Nährboden für sexuelle<br />
Ausbeutung schafft.<br />
Jenny H. hat den Ausstieg vor<br />
einigen Monaten geschafft. Sie fasste<br />
Vertrauen zu <strong>der</strong> Gruppe um Sozialar<strong>bei</strong>ter<br />
Engelmann. Schließlich<br />
erzählte sie ihre Geschichte. Engelmann<br />
half ihr, einen deutschen Pass<br />
zu erhalten, besorgte ihr eine Wohnung.<br />
Wenn sie heute von ihrem<br />
Weg in die Zwangsprostitution und<br />
<strong>der</strong> Zeit in St. Georg erzählt, wirkt<br />
<strong>Hamburg</strong><br />
07<br />
Der Kiez ist ein Touristenmagnet. Bitterer Beigeschmack: Das Viertel begünstigt zwangsprostitution/X. zarafu<br />
sie seltsam abgeklärt. Das Erlebte<br />
herunterzuspielen, ist laut Engelmann<br />
eine typische Reaktion <strong>bei</strong><br />
Opfern von sexueller Gewalt. „Viele<br />
<strong>der</strong> Frauen ar<strong>bei</strong>ten unter einem an<strong>der</strong>en<br />
Namen. Die Schmerzen werden<br />
nur dem zweiten Ich zugefügt.<br />
Dann ist es leichter, die Situation zu<br />
ertragen.“<br />
Menschenhandel ist nach Drogen-<br />
und Waffenhandel das <strong>der</strong>zeit<br />
lukrativste Geschäft <strong>der</strong> Welt. Nach<br />
Schätzungen <strong>der</strong> Internationalen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsorganisation verdienen Men-<br />
schenhändler jährlich 28 Milliarden<br />
US-Dollar allein durch sexuelle Ausbeutung.<br />
Zyniker erkennen darin<br />
marktwirtschaftliche Prinzipien:<br />
Die Nachfrage bestimmt das Angebot.<br />
Solange Freier auf den Straßenstrich<br />
in St. Georg kommen, werden<br />
die Frauen hier stehen. Manchmal,<br />
wenn ihr Hartz IV aufgebraucht ist,<br />
steht auch Jenny wie<strong>der</strong> an ihrer alten<br />
Ecke. „Wenn das passiert“, sagt<br />
Engelmann, „reden wir mit ihr und<br />
bringen sie nach Hause.“