Filmset Kalkutta - bei der Hamburg Media School
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16 Panorama<br />
Auf den Pflastersteinen,<br />
die die Welt bedeuten<br />
Inmitten einer Demonstration unterhalten Cosma Dujat<br />
und Andreas Jahncke mit einem Gassentheater<br />
Er möchte mit Pissoirs die Kunst revolutionieren, sie versinkt in ihrer rolle: Das Schauspiel-Duo Jahncke und Dujat<br />
V O N A D r I A N S o L L E r sich die Demonstranten auf <strong>der</strong><br />
Strassenkreuzung vor dem Balkon.<br />
„Ich habe Angst“, flüstert Cosma und<br />
blickt auf die Strasse. Sie kneift sich<br />
in ihren linken Handrücken. Die<br />
Stimmen im Nebenraum sind verstummt.<br />
Sirenengeheul erobert das<br />
Zimmer. Cosma tritt einen Schritt<br />
von <strong>der</strong> Balkontür zurück. Sie schüttelt<br />
ihren Körper und beginnt mit<br />
ihren Fäusten auf die Brust zu schlagen.<br />
Im Nebenraum beginnt ein<br />
Mann mit tiefer Stimme zu singen.<br />
Draussen vor dem Balkon stehen<br />
sechs vermummte Gestalten in<br />
schwarzer Kleidung vor einer grünweissen<br />
Front aus Polizisten. Sie demonstrieren<br />
gegen die Innenministerkonferenz<br />
in <strong>Hamburg</strong>. Aus den<br />
Seitengassen strömen immer mehr<br />
Schwarzgekleidete in die Susannenstrasse.<br />
Wie dunkles Blut, das auf<br />
einer Wunde verkrustet, vermengen<br />
Oben im Zimmer klatscht Cosma<br />
nun abwechslungsweise mit den<br />
Handflächen auf ihren Nacken und<br />
gurrt da<strong>bei</strong> wie ein Taube. Nebenan<br />
ahmt die Männerstimme einen<br />
Zweitaktmotor nach. „Sollen wir<br />
das wirklich durchziehen, Andreas?“,<br />
fragt Cosma mit ungewöhnlich<br />
hoher Stimme. Der Motor verstummt.<br />
„Ja! Lass es uns machen!“,<br />
ertönt es. Ein Mann mit nacktem<br />
Oberkörper betritt den Raum und<br />
geht mit schnellen Schritten ans<br />
Fenster. Mit einer kurzen Handbewegung<br />
streicht er sich durch sein<br />
blondes Haar. Aufmerksam verfolgt<br />
er das Geschehen auf <strong>der</strong> Strasse. „Es<br />
wird uns schon nix passieren!“, besänftigt<br />
er.<br />
Eine Stunde früher ist Cosma<br />
noch ganz entspannt: Mit den Bei-<br />
nen eng am Körper sitzt sie auf einem<br />
weichen Sofa im hintersten Eck<br />
ihrer Lieblingsbar. Im Hintergrund<br />
ertönt mexikanische Rockmusik aus<br />
einem Lautsprecher. Ihre Augen hat<br />
sie nur einen kleinen Spalt weit geöffnet,<br />
auf ihrer Oberlippe perlt<br />
Milchschaum. Ihr Schauspielkollege<br />
Andreas geht den bevorstehenden<br />
Auftritt Szene für Szene durch.<br />
Seine Wörter formen sich mehr und<br />
mehr zu einem kleinen Strom <strong>der</strong><br />
Begeisterung. Die sechs Jahre jüngere<br />
Cosma schweigt. Nur selten platziert<br />
sie ein Wort <strong>der</strong> Zustimmung<br />
im reissenden Fluss seiner Erzählung.<br />
Sie blickt auf den Zeigefinger<br />
ihrer linken Hand, als ob sie ihn gerade<br />
erst entdeckt hätte.<br />
Cosma Dujat und Andreas Jahncke<br />
treten seit Mai 2010 regelmässig<br />
zusammen auf. Sie spielen in <strong>der</strong> U-<br />
Bahn, auf Strassen, auf öffentlichen<br />
Plätzen o<strong>der</strong> in Schaufenstern. Die<br />
Auftritte sollen „Theater mit dem<br />
Alltag aller Menschen verbinden“.<br />
Heute Abend ist die Susannenstrasse<br />
im Schanzenviertel ihre Bühne.<br />
Cosma sagt von sich, dass sie es liebt<br />
unter den ungewöhnlichen Bedingungen<br />
des Gassentheaters an ihre<br />
Grenzen zu stoßen. Zufrieden lässt<br />
sie sich in die weichen Kissen ihrer<br />
Lieblingscouch sinken, und ahnt<br />
noch nicht, dass sie heute inmitten<br />
<strong>der</strong> Wirrungen einer Grossdemonstration<br />
spielen wird.<br />
Unter dem Balkon verschmilzt<br />
Sirenengeheul mit monotonen<br />
Politparolen zu einer aggressiven<br />
Geräuschkulisse. Cosma wendet<br />
sich vom Geschehen auf <strong>der</strong> Strasse<br />
ab. Andreas trägt unterdessen ein<br />
weisses Hemd. Er nickt ihr zu und<br />
verlässt wortlos den Raum. Sie bleibt<br />
ganz allein im Dunkel des Zimmers<br />
zurück. Ihr Atem wird ruhiger. Ihre<br />
Augen blicken starr an die mit Blumen<br />
bemusterte Tapete, die im blauen<br />
Licht <strong>der</strong> Sirene pulsiert. Cosma<br />
wird mit jedem Ton ihrer Stimmübung<br />
mehr und mehr zu Sophie.<br />
Sophie ist ein zynischer Mensch.<br />
Sie wirkt sehr ernst – zuweilen böse.<br />
Beim Sprechen schiebt sie ihr Kinn<br />
leicht nach vorne, signalisiert Bereitschaft<br />
zum Angriff. Zwischen<br />
ihren graublauen Augen bahnen<br />
sich zwei tiefe Furchen ihren Weg<br />
durch die sanfte Haut.<br />
Unten auf <strong>der</strong> Strasse knallt es.<br />
Ein Sprengkörper. Die Polizisten formieren<br />
sich im Wutrot bengalischen<br />
Feuers zu einer kleinen Armee. Unmittelbar<br />
unter dem Balkon positioniert<br />
sich ein olivgrünes Panzerfahrzeug.<br />
Aus dem Rohr des<br />
Wasserwerfers tropft Wasser. Davor<br />
vermengen sich Menschen zu einem<br />
Brei <strong>der</strong> Gewalt. Die meisten<br />
Demonstranten sind schwarz gekleidet<br />
- die Gesichter in Tücher gehüllt.<br />
Plötzlich löst sich ein Mann<br />
aus <strong>der</strong> Masse und rennt schreiend<br />
auf den Balkon zu.<br />
„Sophie, Sophie!“, schreit er aufgeregt.<br />
Ein kleiner Handscheinwerfer<br />
geht an. Cosma tritt auf den Balkon:<br />
„Anton, was machst du hier?“<br />
Sie knallt jedes Wort dieses Satzes<br />
mit <strong>der</strong> Wucht ihrer Theaterstimme<br />
auf die Frontscheibe des Panzerfahr-