Filmset Kalkutta - bei der Hamburg Media School
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Mode aus Mülltüten: Einmal die Woche erhalten die Asylbewerber im mecklenburgischen<br />
Weiler horst Klei<strong>der</strong>spenden /Sebastian Gänger<br />
Flucht aus <strong>der</strong><br />
Verantwortung<br />
<strong>Hamburg</strong> schickt seine Flüchtlinge aufs platte Land –<br />
und raubt ihnen so die Chance auf Anerkennung<br />
V O N N I C o L E W E h r<br />
Weiß getünchte Bäume säumen den<br />
Weg. Vereiste Äste glitzern in <strong>der</strong><br />
Sonne. Über dem weiten Land liegt<br />
sonntägliche Stille. Nur <strong>der</strong> schwarze<br />
VW-Kombi passt nicht in das<br />
Idyll. Menschen drängeln sich in<br />
einer Traube unter <strong>der</strong> offenen Kofferraumklappe.<br />
Sie tragen Badelatschen,<br />
manche sind barfuß. „Bitte<br />
nehmt keine ganzen Säcke!“, ruft<br />
Azimi Tamim in die Menge. Niemand<br />
hört ihm zu. Mit flinken Händen<br />
durchwühlen die Menschen die<br />
Säcke, grapschen nach Kleidungsstücken.<br />
Fast jeden Sonntag verteilt <strong>der</strong><br />
32-jährige Afghane Klei<strong>der</strong>spenden<br />
an die Flüchtlinge im Asylheim<br />
Nostorf/Horst. Seit Oktober ist er<br />
deutscher Staatsbürger, mit einem<br />
Fahrradgeschäft hat sich <strong>der</strong> Vater<br />
zweier Kin<strong>der</strong> selbstständig gemacht.<br />
„Aber ich war selber in dieser<br />
Situation, deshalb helfe ich hier.“<br />
Ein kleines Waldstück schottet<br />
das Asylheim, eine ehemalige Kaser-<br />
ne, vom Dorf ab. Drei Meter hoch<br />
ragt <strong>der</strong> Zaun auf, <strong>der</strong> den Gebäudekomplex<br />
umgibt. „Sieht doch aus<br />
wie ein Knast“, sagt Tamim und<br />
schüttelt den Kopf. Die nächste Bushaltestelle<br />
liegt vier Kilometer entfernt,<br />
die <strong>Hamburg</strong>er Innenstadt 65<br />
Kilometer.<br />
In dem 1000-Seelen-Dorf Horst<br />
entledigt sich <strong>Hamburg</strong> seiner Asylbewerber<br />
– und verhin<strong>der</strong>t jegliche<br />
Integration. Seit dem 1. Oktober<br />
2006 kooperiert die Hansestadt mit<br />
Mecklenburg-Vorpommern. Bis dahin<br />
gab es neben den noch immer<br />
bestehenden 70 Unterbringungsplätzen<br />
im Auffanglager Sportallee<br />
weitere 500 Plätze auf dem Wohnschiff<br />
„Bibby Altona“. In den Jahren<br />
vor seiner Schließung war das Schiff<br />
nicht mehr ausgelastet. Doch nun<br />
steigt die Zahl <strong>der</strong> Asylbewerber seit<br />
Monaten. In Horst wohnen <strong>der</strong>zeit<br />
232 Flüchtlinge – zehnmal so viele<br />
wie noch vor einem Jahr.<br />
Tamim muss seine Klei<strong>der</strong>spenden<br />
vor dem Zaun verteilen. Ihm<br />
wurde Hausverbot in Horst erteilt,<br />
ebenso wie Mitar<strong>bei</strong>tern des Flüchtlingsrats<br />
<strong>Hamburg</strong>. „Diese Personen<br />
haben die Einwohner zu Unruhe<br />
angestiftet“, sagt Wolf-Christoph<br />
Trzeba, Leiter des Landesamts für<br />
Migration und Flüchtlingsangelegenheiten<br />
in Mecklenburg-Vorpommern.<br />
Wie<strong>der</strong>holt betont er, dass das<br />
Heim kein Lager, son<strong>der</strong>n eine Erstaufnahme-Einrichtung<br />
sei.<br />
Durch die Schließung <strong>der</strong> „Bibby<br />
Altona“ und die Zusammenlegung<br />
<strong>der</strong> Unterkünfte werde viel Geld gespart,<br />
erklärt Trzeba. Nun müssten<br />
<strong>bei</strong>de Bundeslän<strong>der</strong> nur noch eine<br />
Einrichtung unterhalten. Franz<br />
Forsmann vom Flüchtlingsrat <strong>Hamburg</strong><br />
rechnet vor, dass die Unterbringung<br />
einer vierköpfigen Familie<br />
in Horst, inklusive Taschengeld von<br />
40,90 Euro im Monat, knapp 2.850<br />
Euro koste. Mit Hartz-IV-Hilfe könnte<br />
die Familie aber auch im <strong>Hamburg</strong>er<br />
Stadtgebiet wohnen. Das käme<br />
rund 1000 Euro günstiger. „Dahinter<br />
steckt systematische Ausgrenzung“,<br />
argumentiert <strong>der</strong> Aktivist, im<br />
Hauptberuf Physiker.<br />
In ihrem Koalitionsvertrag von<br />
2008 vereinbarten CDU und Grüne<br />
Alternative Liste (GAL), die Beteiligung<br />
am Asylheim Horst vorzeitig<br />
zu beenden. Bis dahin wolle man<br />
nur die Mindestbelegung von 30<br />
Plätzen nutzen sowie Familien mit<br />
Kin<strong>der</strong>n grundsätzlich in <strong>Hamburg</strong><br />
unterbringen. „Von diesen politischen<br />
Absichtserklärungen ist aktuell<br />
nichts Realität“, sagt Forsmann.<br />
Real sind unzufriedene Flüchtlinge,<br />
die sich schikaniert fühlen.<br />
Selbst schulpflichtige Kin<strong>der</strong> wohnen<br />
in Horst – ein klarer Rechtsbruch.<br />
Insassen berichteten Medien<br />
über Hungerstreiks, eine Totgeburt<br />
und Schläge vom Sicherheitsdienst.<br />
Landesamtsleiter Trzeba weist alle<br />
Vorwürfe zurück: „Nichts von dem<br />
hat sich in <strong>der</strong> Form hier abgespielt.<br />
Das ist wie stille Post – je<strong>der</strong> erzählt<br />
etwas an<strong>der</strong>es.“<br />
Die Betroffenen sehen das an<strong>der</strong>s:<br />
„Alles ist schlecht hier“, sagt<br />
die Mazedonierin Saida Elemovska,<br />
während sie ihren vier Töchtern<br />
<strong>bei</strong>m Durchforsten <strong>der</strong> Klei<strong>der</strong>säcke<br />
zuschaut. 25 Jahre ist sie alt, und<br />
sieht doch älter aus mit ihren Augenringen<br />
und Zahnlücken. Das<br />
<strong>Hamburg</strong><br />
13<br />
Essen sei einseitig, die medizinische<br />
Versorgung katastrophal, die Beratung<br />
unzureichend.<br />
Diese Punkte kritisiert auch <strong>der</strong><br />
Flüchtlingsrat: „Die ersten drei Monate<br />
sind entscheidend für das Asylverfahren.<br />
In Horst werden den<br />
Flüchtlingen die Chancen auf Erfolg<br />
systematisch entzogen“, sagt Forsmann.<br />
Nur einmal in <strong>der</strong> Woche<br />
gebe es eine rechtliche Beratung,<br />
zudem sei <strong>der</strong> Aufbau eines sozialen<br />
Netzwerks in <strong>der</strong> Isolation nicht<br />
möglich. Auch zusätzlich in <strong>Hamburg</strong><br />
geplante Plätze seien keine Lösung:<br />
„Statt die Umstände in den<br />
Lagern zu verbessern, sollten diese<br />
abgeschafft werden“, for<strong>der</strong>t Forsmann.<br />
Die desolaten Zustände seien<br />
Kalkül <strong>der</strong> Stadt, glaubt auch Claudius<br />
Brenneisen, Anwalt für Asylrecht:<br />
„Das steht natürlich nirgends<br />
so geschrieben, aber es geht schon<br />
darum, den Flüchtlingen die Lage so<br />
unbequem wie möglich zu machen.<br />
Das soll sich herumsprechen.“<br />
Die GAL, einst wichtigster politischer<br />
Fürsprecher <strong>der</strong> Asylbewerber<br />
und bis Ende November Junior-Partner<br />
<strong>der</strong> Regierung, hat für den Koalitionsfrieden<br />
ihre Ideale aufgegeben.<br />
Ein Blick auf die letzten<br />
Parteiprogramme zeigt, dass so gut<br />
wie keine <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen umgesetzt<br />
wurde. „Die Flüchtlingspolitik<br />
wird immer geopfert“, sagt Flüchtlingsaktivist<br />
Forsmann. Das sieht<br />
Antje Möller, flüchtlingspolitische<br />
Sprecherin <strong>der</strong> GAL, an<strong>der</strong>s: „Wir<br />
haben vieles erreicht, was gar nicht<br />
im Koalitionsvertrag stand.“ Viel<br />
Konkretes kann sie dann jedoch<br />
nicht nennen.<br />
Azimi Tamim hat sein Vertrauen<br />
in die Politiker verloren. „Es wird so<br />
viel über die richtige o<strong>der</strong> falsche<br />
Unterbringung diskutiert. Keiner<br />
schaut auf die Ursachen von Flucht“,<br />
sagt er. Ob Son<strong>der</strong>müll- und Dumping-Exporte<br />
o<strong>der</strong> Waffenverkauf in<br />
Krisengebiete: Letztendlich seien<br />
die Industriemächte Schuld am<br />
Flüchtlingsstrom. „Niemand verlässt<br />
schließlich freiwillig seine Heimat“,<br />
sagt Tamim. Mit von <strong>der</strong> Kälte<br />
tauben Fingern schließt er den<br />
Kofferraum seines Wagens, setzt<br />
sich ans Steuer und rollt langsam<br />
vom Parkplatz in Horst.