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Filmset Kalkutta - bei der Hamburg Media School

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<strong>Filmset</strong> <strong>Kalkutta</strong>: Wie HMS-Studenten in Indien drehten und einen riesigen Auflauf verursachten<br />

Seite 04<br />

Z E I T U N G D E S S T U D I E N G A N G S J O U R N A L I S M U S D E R H a m b u r g m e d i a S c H o o l 0 3 . 0 1 . 2 0 1 1<br />

Aufbruch zu bekannten (aber immer wie<strong>der</strong> schönen) Ufern. Im ältesten ru<strong>der</strong>club Kontinentaleuropas<br />

trainiert <strong>der</strong> „alte Achter“ jeden Dienstag ab 6 Uhr 30. Natürlich auch im Winter.<br />

Durchschnittsalter <strong>der</strong> Athleten: 70 Jahre. Eine Fotoreportage von Philipp reiss Seite 8<br />

Geburtswehen und<br />

kühne Visionen<br />

100 Tage Mediencampus - Studenten und Professoren ziehen eine erste Bilanz<br />

V O N I N A K A ST,<br />

C h r I ST I N A L A C h N I T T U N D<br />

E L E N A B A rT E L S<br />

Eifrig schmiert Renate Schütze Brötchen.<br />

Im gut versteckten Café Finkenau,<br />

in einem Raum <strong>der</strong> Miami<br />

Ad <strong>School</strong>, verkauft sie belegte Brötchen,<br />

Suppe und Kaffee. „Der Anfang<br />

war etwas holprig“, erzählt die<br />

Angestellte des Studierendenwerks<br />

<strong>Hamburg</strong>. „Es gab für uns keinen<br />

Platz im Gebäude – wir wurden<br />

schlichtweg <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Planung vergessen.“<br />

Schütze bekam nur einen kleinen<br />

Raum im Innenhof des Mediencampus<br />

zugewiesen. Der liegt<br />

jedoch weit ab vom Schuss. Deswegen<br />

nutzen sie nun zusätzlich das<br />

leer stehende Pförtnerhaus im Eingangsbereich.<br />

Das neue Jahr verspricht<br />

Besserung: Ab April wird es<br />

im Innenhof des Mediencampus<br />

ein großes Zelt mit 200 Sitzplätzen<br />

geben.<br />

Das als Übergangslösung gedachte<br />

Mensazelt sollte bereits im<br />

Oktober errichtet werden. Da eine<br />

Baugenehmigung fehlte, wird das<br />

Zelt nun erst ein halbes Jahr später<br />

aufgerichtet. Zum Leid <strong>der</strong> Studenten<br />

und Dozenten: In <strong>der</strong> Mittagspause<br />

wan<strong>der</strong>n sie weiter auf S. 2<br />

Hausbesetzung<br />

Im Schanzenviertel<br />

kämpfen Anwohner<br />

gegen Spekulanten<br />

Seite 6<br />

auslän<strong>der</strong>politik<br />

<strong>Hamburg</strong> lagert<br />

Flüchtlinge aus und<br />

erschwert damit ihre<br />

Integration Seite 7<br />

Schlachten für allah<br />

Dogan Mezbaha<br />

schächtet Tiere nach<br />

Regeln des Islam - und<br />

den EU-Hygienevorschriften<br />

Seite 10/11<br />

Sex für 30 euro<br />

Wie Jenny H. <strong>der</strong><br />

Zwangsprostitution in<br />

St. Georg entkam<br />

Seite 13<br />

Weg mit <strong>der</strong> oma<br />

Wenn Mama und Papa<br />

eBay lernen Seite 17<br />

links außen<br />

Fussball mit Mission -<br />

wie die Hafenstraße St.<br />

Pauli entdeckte Seite 19


02 Campus<br />

Befeuerte die Diskussion um Anbau: Der Entwurf „Forum Finkenau“ <strong>der</strong><br />

hAW-Designstudenten Jonas Lauströer und Amir Andikfar<br />

Fortsetzung von S. 1 nun zur Mensa<br />

<strong>der</strong> Hochschule für bildende<br />

Künste (HfbK). Das Essen dort<br />

schmeckt gut, doch an manchen<br />

Tagen muss man bis zu einer halben<br />

Stunde in <strong>der</strong> Schlange stehen. Die<br />

Wartezeiten stoßen den Studenten<br />

sauer auf. „Die nächste Mensa in <strong>der</strong><br />

Armgartstraße ist zu weit weg. Und<br />

das Essen schmeckt nicht so lecker“,<br />

erklärt Marcel, Student <strong>der</strong> Hochschule<br />

für Angewandte Wissenschaften<br />

(HAW), sichtlich genervt.<br />

Die Probleme seien seit Jahren<br />

bekannt, sagt Reinhard Schulz-<br />

Schaeffer, stellvertreten<strong>der</strong> Leiter<br />

des Studienreformausschusses <strong>der</strong><br />

HAW und Leiter des Illustrationsstudiengangs.<br />

„Eine neue Mensa war<br />

anfangs gar nicht vorgesehen. Dass<br />

nächstes Jahr <strong>der</strong> Bau beginnt, war<br />

Großzügig, hell, kommunikativ:<br />

Das Büro<br />

Gerber Architekten<br />

gestaltet den Neubau<br />

„Kunst und Medien“, <strong>der</strong><br />

ab 2011 gebaut wird<br />

Alt und neu verbinden:<br />

Die Klinkerästhetik<br />

bleibt, hinzu kommt eine<br />

Caféterrasse mit Blick<br />

auf den Eilbekkanal<br />

ein langer Kampf.“ Die Stadt <strong>Hamburg</strong><br />

war <strong>der</strong> Meinung, dass die HfbK-Mensa<br />

für alle Studenten reiche.<br />

Über die Bedeutung einer gemeinsamen<br />

Mensa als zentralen Ort des<br />

Campuslebens scheint sich die damalige<br />

Koalition aus CDU, FDP und<br />

Ronald Schills Rechtsstaatlicher Offensive<br />

PRO nicht im Klaren gewesen<br />

zu sein.<br />

Auf dem Mediencampus Finkenau<br />

nämlich lernen und ar<strong>bei</strong>ten<br />

inzwischen rund 1700 Menschen,<br />

darunter etwa 1500 Studierende<br />

und 60 Professoren. Auf dem Gelände<br />

<strong>der</strong> ehemaligen Frauenklinik ist<br />

ein kreatives Ausbildungszentrum<br />

für den Bereich Medien und Kommunikation<br />

entstanden.<br />

Die <strong>Hamburg</strong> <strong>Media</strong> <strong>School</strong><br />

(HMS), die Miami Ad <strong>School</strong>, die<br />

HAW, die HfbK sowie <strong>der</strong> Bürger-<br />

und Ausbildungskanal TIDE fügen<br />

sich nun zu einem Kunst- und Mediencampus.<br />

Der Umbau <strong>der</strong> Frauenklinik kostete<br />

über 30 Millionen Euro. „Das ist<br />

mehr, als ursprünglich für den Substanzerhalt<br />

und die Hochschulnutzung<br />

geplant war“, gibt Timo Friedrichs,<br />

Pressesprecher <strong>der</strong> Behörde<br />

für Wissenschaft und Forschung, zu.<br />

Bei den Umbauar<strong>bei</strong>ten im dreiflügeligen<br />

Fritz-Schumacher-Bau aus<br />

den Jahren 1911-1914 kamen Mängel<br />

in <strong>der</strong> alten Gebäudesubstanz<br />

zum Vorschein.<br />

Auch wurde noch während <strong>der</strong><br />

Umbauphase heftig um die Verteilung<br />

<strong>der</strong> Räumlichkeiten diskutiert.<br />

Der HAW, erklärt Schulz-Schaeffer,<br />

fehlten nach dem Umzug rund ein<br />

Fünftel <strong>der</strong> notwendigen Flächen.<br />

Abhilfe soll nun ein neuer Anbau<br />

parallel zur Uferstraße schaffen.<br />

Der Entwurf für den Anbau<br />

stammt aus dem Büro Gerber Architekten.<br />

Für noch mal 17,1 Millionen<br />

Euro wird im Innenhof ein neuer<br />

lichtdurchfluteter Campus entstehen:<br />

mit Bibliotheks- und Medienzentrum,<br />

Computerar<strong>bei</strong>tsräumen,<br />

einem Veranstaltungssaal, sowie Labors<br />

und Studios für die Ausbildung<br />

in Video-, Licht- und Tontechnik.<br />

Auch die lang ersehnte Mensa und<br />

eine Cafeteria sollen im Neubau einziehen.<br />

Für den Bürger- und Ausbildungssen<strong>der</strong><br />

TIDE stellt <strong>der</strong> neue<br />

Mediencampus einen Zugewinn<br />

dar. 2011 vergibt er zum ersten Mal<br />

den mit 1000 Euro dotierten „Fernsehpreis<br />

Fink“. „Er soll dazu <strong>bei</strong>tra-<br />

gen, dass die Institutionen des Mediencampus<br />

zusammenwachsen“,<br />

so Kathrin Heidinger, Assistentin<br />

<strong>der</strong> TIDE-Geschäftsführung. Ein Beispiel<br />

für eine gelungene Kooperation:<br />

Das Logo für den Preis gestalteten<br />

Studenten <strong>der</strong> HAW. Beim Mo<strong>der</strong>ationstraining<br />

für Fernsehen und Radio<br />

ar<strong>bei</strong>ten TIDE und die HMS<br />

schon lange zusammen.<br />

Im TIDE-Gebäude befindet sich<br />

auch das Medienlabor <strong>der</strong> HAW. Der<br />

Nutzen des Labors könne aber noch<br />

optimiert werden, sagt Wolfgang<br />

Willaschek, Professor für Medientechnik<br />

an <strong>der</strong> HAW. „Wir müssten<br />

viel mehr Workshops anbieten,<br />

wenn wir schon ein so Labor haben.“<br />

Dazu gehöre vor allem die<br />

interdisziplinäre Zusammenar<strong>bei</strong>t<br />

und Öffnung <strong>der</strong> Workshops für<br />

Studenten aller Einrichtungen. Die<br />

HMS macht es vor und bot HAW-<br />

Studenten freie Plätze in einem<br />

HMS-Seminar an.<br />

Im kommenden Jahr soll <strong>der</strong><br />

Campus weiter publik gemacht werden.<br />

Nach Auflösung <strong>der</strong> schwarzgrünen<br />

Koalition hofft Lars Krösche,<br />

kaufmännischer Leiter <strong>der</strong> HMS, auf<br />

weitere Unterstützung auch durch<br />

den neuen Senat. „Schließlich zeichnet<br />

ein solcher Standort die Stadt<br />

<strong>Hamburg</strong> als Medienstadt aus.“<br />

Weit entfernt vom politischen<br />

Kalkül zeigen sich auf studentischer<br />

Ebene erste Früchte <strong>der</strong> Zusammenar<strong>bei</strong>t.<br />

Diese Zeitschrift zählt dazu.<br />

Die Texte stammen vom Jahrgang<br />

J12 <strong>der</strong> HMS, die Bil<strong>der</strong> von einer<br />

Studentin des Studiengangs Fotodesign<br />

an <strong>der</strong> HAW und Studenten <strong>der</strong><br />

FH Hannover.


Finkenau-Chic<br />

Stilwille in <strong>der</strong> Vielfalt: Simona Caminada und Linda<br />

Gerner haben sich auf die Suche begeben und einen ganz<br />

einzigartigen Mediencampus-Style ausgemacht<br />

L I E z ( 2 1 ) U N D<br />

L U K A S ( 2 2 ) ,<br />

ST U D I E R E N<br />

D E S I G N<br />

Lukas: „Ich bin an Gegenständen<br />

interessiert, die es<br />

schon gibt. Ich frage mich<br />

dann, warum die so sind,<br />

wie sie sind. Und wie sie<br />

besser wären. Ich betrachte<br />

immer meine Umwelt und<br />

denke darüber nach.“ Liez:<br />

„Mir ist nichts wichtig.“<br />

C h A r LoT T E ( 2 4 ) ,<br />

ST U D I E RT KO M M U N I -<br />

K AT I O N S D E S I G N<br />

„Ich mag Handwerk. Ich mache<br />

Schmuck, stricke o<strong>der</strong> ar<strong>bei</strong>te<br />

mit Le<strong>der</strong> und verkaufe die<br />

Sachen dann auch. Ich probiere<br />

alles aus. Gerne mag ich Stoffe,<br />

Material in <strong>der</strong> Hand – das ist<br />

ein Kontrast zu meiner<br />

Ar<strong>bei</strong>t am Computer.“<br />

M I C h A E L ( 2 4 ) ,<br />

ST U D I E RT D E S I G N<br />

„Ich habe einen inneren Antrieb,<br />

Neugier an allem, am Leben. Ich<br />

mache Musik und suche gerade<br />

eine Band. Ich spiele Bass, Gitarre,<br />

Piano und Schlagzeug. Wenn man<br />

einmal mit Musik anfängt, dann<br />

entwickelt sich das. Aus Neugier.“<br />

Campus<br />

P h I L L I P ( 2 2 ) ,<br />

ST U D I E RT<br />

J O U R N A L I S M U S<br />

C L A r A ( 2 4 ) ,<br />

ST U D I E RT<br />

K U N ST Pä DAG O G I K<br />

„Mich interessieren <strong>der</strong> Alltag<br />

und Alltagsgegenstände – die<br />

kleinen Phänomene, die da<strong>bei</strong><br />

entstehen. Ich habe gerade mit<br />

Süßigkeiten gear<strong>bei</strong>tet, mit<br />

starken Farben. Ich verfremde<br />

die Dinge gerne und stelle sie in<br />

einen neuen Kontext. Mich inspirieren<br />

aber auch Filme und<br />

Ausstellungen.“<br />

03<br />

„Ich brauche zum Leben Kaffee,<br />

Energy-Drinks und meine Freundin.<br />

Ich trage nur G-Star, weil<br />

das die geilste Marke <strong>der</strong> Welt<br />

ist. Aber ich bin voll <strong>der</strong> reduzierte<br />

Klamottenkäufer: Ich kaufe<br />

nur Markenklamotten, aber<br />

meistens reduzierte.“<br />

C L A r A : Stiefel Ebay, ca. 35 €, Mütze hat eine Freundin <strong>bei</strong> mir zu Hause vergessen, Schal H&M, T-Shirt H&M, Kleid Mango, ca. 30 €. C h A r LoT T E : Tasche Agentur Ambacht, 150 €, Schuhe<br />

Spontankauf <strong>bei</strong> Schuhkay, ca. 80 €, Socken Gestrickt von Oma, grüner Schal selber gestrickt, weißer Schal von einer Freundin, T-Shirt Second-Hand aus Kopenhagen, Mantel Ichi, ca. 100 €, hose<br />

Zara. M I C h A E L : Schuhe Zara London, hose Cheap Monday, Uhr Casio, Mütze River Island London, Jacke Topman London, Tasche St. Pauli Nachtmarkt, Brille Flohmarkt, Gläser von Fielmann.<br />

Alle Preise unbekannt, jedoch alles unter 100 € und „so billig wie möglich“. L I E z : hose Second-Hand, Klei<strong>der</strong>markt <strong>Hamburg</strong>, T-Shirts Second-Hand, Schuhe Geerbt von Oma, Brille Ray Ban.<br />

L U K A S : Schuhe H&M, ca. 30 Euro, Jacke Zara, hose Cheap Monday. AllePreise unbekannt: „Wir geben am liebsten gar kein Geld für Klamotten aus, kaufen nur die Basics neu und den Rest Second-<br />

Hand.“. P h I L L I P : hose G-Star, aus Wien, 150 € (aber ich habe auch nur zwei Jeans), Schuhe PF Flyer, aus München, 140 € – aber auf 70€ reduziert, Uhr Weihnachtsgeschenk, von Fossil, hemd<br />

Versace, 150 € im Outlet auf 35 Euro reduziert, Schal G-Star, 69 €, Gürtel G-Star, 89 € aber auf 79 runter gehandelt, Tasche G-Star, aus Wien, 69 €, Jacke Mc Neal, 180 €


04 Campus<br />

Wo ist Raju?<br />

Studenten <strong>der</strong> HMS haben in Indien ihren Abschlussfilm<br />

gedreht - und wurden dort wie Stars belagert<br />

V O N P h I L L I P W E B E r<br />

Ein deutsches Ehepaar adoptiert in<br />

Indien ein Waisenkind. Als <strong>der</strong> kleine<br />

Raju plötzlich verschwindet,<br />

merken die neuen Eltern, dass sie<br />

mit ihrem Kin<strong>der</strong>wunsch den kriminellen<br />

Menschenhandel angefeuert<br />

haben. Um dieses Drama auf Film<br />

zu bannen, flogen Max Zähle (Regie),<br />

Stefan Gieren (Produktion), Sin<br />

Huh (Kamera) und Florian Kuhn<br />

(Drehbuch) bis nach <strong>Kalkutta</strong>.<br />

Einen Abschlussfilm außerhalb<br />

Europas, das gab es an <strong>der</strong> HMS<br />

noch nie. Und die vier Filmstudenten<br />

waren sich nicht immer sicher,<br />

ob <strong>der</strong> Film jemals fertig wird. Denn<br />

Drehar<strong>bei</strong>ten in <strong>Kalkutta</strong> bedeuteten<br />

Fiebererkrankungen, fehlende<br />

Drehgenehmigungen und Hun<strong>der</strong>te<br />

von schaulustigen In<strong>der</strong>n.<br />

„Sobald du mit <strong>der</strong> Kamera draußen<br />

bist, kannst du nicht mehr proben“,<br />

erinnert sich Zähle. „Teilweise<br />

standen die Menschen so nah, dass<br />

sie durch das Objektiv geschaut haben.“<br />

Um eine Szene auf einem belebten<br />

Markt zu drehen, täuschten<br />

die Filmemacher sogar am einen<br />

Ende <strong>der</strong> Straße einen Dreh vor, um<br />

die Schaulustigen abzulenken.<br />

„Meine Freundin tat so, als sei sie<br />

ein großer Star – und hat die ganze<br />

Meute fortgelockt.“<br />

Mit seinem Abschlussfilm wollte<br />

Zähle etwas Nachhaltiges schaffen<br />

– mehr als einen Film, <strong>der</strong> benotet<br />

wird und anschließend im Archiv<br />

verschwindet. „Hat man das Recht<br />

auf ein Kind?“, fragt <strong>der</strong> Regisseur<br />

und beantwortet die Frage gleich<br />

selber: „I don’t know.“ Eine einfache<br />

Botschaft will er mit dem Kurzfilm<br />

„Raju“ nicht geben, auch wenn er<br />

eine persönliche Meinung zum Thema<br />

habe. Ob Auslandsadoption<br />

sinnvoll sei, hänge von vielen Faktoren<br />

ab. „Manchen Kin<strong>der</strong>n geht es<br />

definitiv besser, nachdem sie adoptiert<br />

wurden. Manchen geht es aber<br />

auch extrem schlecht, weil sie ihren<br />

sozialen Wurzeln entrissen wurden“,<br />

schil<strong>der</strong>t Zähle.<br />

In „Raju“ beleuchtet er die Hintergründe,<br />

weshalb ein Pärchen in<br />

<strong>Kalkutta</strong> ein Kind adoptieren möchte.<br />

In Indien, wo eine Adoption einfacher<br />

und schneller abgewickelt<br />

werden kann als in Europa – scheinbar<br />

legal, aber häufig eben doch<br />

nicht. Und er will zeigen, in welche<br />

Konflikte ein Pärchen dadurch kommen<br />

kann.<br />

Bereits im März 2010 war Zähle<br />

zum ersten Mal in Indien, um eine<br />

Dokumentation über das Thema zu<br />

drehen – so sieht es <strong>der</strong> Lehrplan des<br />

regisseur Max zähle<br />

(in <strong>der</strong> Mitte) drehte mit<br />

seinen Kommilitonen<br />

auch in einem alten Palast<br />

in <strong>Kalkutta</strong>. Unterstützt<br />

wurden sie von<br />

Studenten <strong>der</strong> dortigen<br />

Filmhochschule<br />

Filmstudiums an <strong>der</strong> HMS vor. Aufbauend<br />

auf die Recherche <strong>der</strong> Doku<br />

entstand das Drehbuch zu „Raju“.<br />

Vor Ort wurde das Projekt maßgeblich<br />

von <strong>der</strong> Hilfsorganisation Terre<br />

des hommes unterstützt, die dem<br />

Filmteam <strong>bei</strong>spielsweise Zugang zu<br />

den Slums verschaffte. Auch die Kooperation<br />

<strong>der</strong> HMS mit <strong>der</strong> Filmhochschule<br />

in <strong>Kalkutta</strong> war ein Mosaikstein,<br />

um ein solches Projekt<br />

stemmen zu können. Die Hauptrollen<br />

übernahmen die bekannten<br />

Schauspieler Julia Richter und Wilke<br />

Wotan Möhring.<br />

„Raju“ hat Zähle fast ein Jahr<br />

lang beschäftigt. Rückblickend<br />

kann <strong>der</strong> junge Regisseur über die<br />

Beson<strong>der</strong>heiten lachen, die ein<br />

Dreh in Indien mit sich bringt. Der<br />

Film wird bereits in <strong>der</strong> Liste <strong>der</strong><br />

„Deutschen Kurzfilme 2011“ geführt<br />

und wurde außerdem für den<br />

renommierten „Max-Ophüls-Preis“<br />

nominiert.<br />

Weitere Infos zum Film und zum<br />

Spielplan www.raju-film.de


Tatort U-Bahn<br />

Seit drei Monaten läuft die Kampagne „Ich drück für dich“.<br />

Zu mehr Zivilcourage wird sie kaum führen<br />

V O N A N N A M I L L E r<br />

Mel taumelt, steigt mit letzter Kraft<br />

die Stufen zur U-Bahn-Station Jungfernstieg<br />

hinunter. Blut fließt aus<br />

seinem Körper. Sekunden später ist<br />

<strong>der</strong> 19-Jährige tot. Zwei Hochbahn-<br />

Beamte versuchen den jungen<br />

Mann zu reanimieren, <strong>der</strong> am 14.<br />

Mai 2010 willkürlich von einem erst<br />

17-Jährigen erstochen wird. Doch<br />

jede Hilfe kommt zu spät.<br />

Der Mord an Mel war <strong>der</strong> aufsehenerregendste<br />

Fall in einer Reihe<br />

von Gewaltdelikten, die im Sommer<br />

2010 über den öffentlichen Nahverkehr<br />

<strong>Hamburg</strong>s hereinbrachen. Mit<br />

Konsequenzen für die Hochbahn:<br />

Das Image des Unternehmens sank,<br />

Menschen fuhren weniger o<strong>der</strong> gar<br />

nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln.<br />

Das Unternehmen<br />

reagierte rasch: Im September lancierte<br />

es die PR-Kampagne „Ich<br />

drück für dich“.<br />

Große Plakate machen seither<br />

auf die Notrufknöpfe und -säulen an<br />

den Stationen und in den U-Bahn-<br />

Zügen aufmerksam. Die Hochbahn<br />

hilfe ist einen Knopfdruck entfernt<br />

– wenn jemand drückt/X. zarafu<br />

braucht im Kampf gegen Gewalt offensichtlich<br />

die Hilfe ihrer Fahrgäste.<br />

Denn die über 5500 Kameras und<br />

345 Mitar<strong>bei</strong>ter <strong>der</strong> Hochbahnwache<br />

konnten die Überfälle im Sommer<br />

nicht verhin<strong>der</strong>n.<br />

Dass die Kampagne tatsächlich<br />

zu mehr Zivilcourage führt, ist umstritten.<br />

„Ein direkter Effekt ist ausgeschlossen.<br />

Höchstens indirekt<br />

könnte die Kampagne ihre Wirkung<br />

entfalten,“ glaubt Nils Zurawski, Sozialpsychologe<br />

an <strong>der</strong> Universität<br />

<strong>Hamburg</strong>.<br />

Allerdings trägt sie zu einem positiveren<br />

Image <strong>bei</strong> – und rentiert<br />

sich so für die Hochbahn. „Sicherheit<br />

ist nicht nur Nächstenliebe,<br />

son<strong>der</strong>n auch ein Wirtschaftsfaktor.<br />

Wir wollen mit <strong>der</strong> Kampagne Fahrgäste<br />

gewinnen, die bisher aus<br />

Sicherheits-Überlegungen nicht mit<br />

den öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

gefahren sind“, sagt Arndt Malyska,<br />

Chef <strong>der</strong> Hochbahnwache.<br />

Dass die Image-Kampagne in Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> Gewaltwelle<br />

im Sommer stehe, streitet das Unternehmen<br />

ab. Da<strong>bei</strong> scheint es nur<br />

konsequent, im Anschluss an einen<br />

solchen Mord eine Kampagne für<br />

mehr Zivilcourage zu schalten. So<br />

geschehen in München, nachdem<br />

drei Jugendliche den Geschäftsmann<br />

Dominik Brunner tödlich<br />

verletzt hatten.<br />

Allerdings ist München bis heute<br />

deutschlandweiter Spitzenreiter,<br />

was die Sicherheit im öffentlichen<br />

Verkehr betrifft. Die gefühlte Unsicherheit<br />

hat mit <strong>der</strong> tatsächlichen<br />

Kriminalitätsrate im öffentlichen<br />

Verkehr nichts zu tun.<br />

Die <strong>Hamburg</strong>er Hochbahn ist<br />

sich dieser eigentlich irrationalen<br />

Ängste ihrer Fahrgäste bewusst –<br />

und versucht nun mit <strong>der</strong> Plakat-<br />

Kampagne „Ich drück für dich“ den<br />

Leuten wie<strong>der</strong> zu einem besseren<br />

Gefühl zu verhelfen.<br />

Ko M M E N TA r<br />

<strong>Hamburg</strong><br />

Rückzug gilt nicht<br />

Auch wenn sie diskriminiert werden, müssen die Sinti<br />

offensiver auftreten und ihre Stimme erheben<br />

Psychoterror Pendeln<br />

Die einst so idyllischen Bahnhöfe sind zu Stress-Stationen<br />

voll frecher Reisen<strong>der</strong> verkommen<br />

05<br />

Min<strong>der</strong>jährige Räuberbanden, die Weihnachtsmärkte überfallen; organisierte<br />

Bettler, die Behin<strong>der</strong>ungen vortäuschen. Die Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Sinti<br />

und Roma leidet unter vielen Vorurteilen. Die Sinti, also <strong>der</strong> deutsche<br />

Stamm <strong>der</strong> Ethnie <strong>der</strong> Roma, leben seit mehr als fünf Jahrhun<strong>der</strong>ten hierzulande.<br />

Sie besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft, zahlen Steuern.<br />

Früher haben die Deutschen die Wäscheleine eingezogen, wenn die Sinti<br />

in ihren Wohnwagen in die Dörfer eingefahren sind. Heute gilt die Sorge<br />

nicht mehr <strong>der</strong> Wäsche. Aber immer noch werden „die Zigeuner“ für<br />

Diebstähle und Verbrechen verantwortlich gemacht.<br />

Auf die ständige Diffamierung haben die Sinti mit völligem Rückzug aus<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit reagiert. Sie wohnen meist in Siedlungen wie jener in<br />

<strong>Hamburg</strong> Wilhelmsburg, wo eine Großfamilie von 500 Sinti abgeschottet<br />

von <strong>der</strong> restlichen Bevölkerung lebt.<br />

Doch diese Abgeschiedenheit ist einer besseren Akzeptanz abträglich.<br />

Die Sinti müssten in <strong>der</strong> Öffentlichkeit offensiver auftreten, um ihre Integration<br />

zu beweisen und Vorurteile zu wi<strong>der</strong>legen. Ein Leben in assimilierter<br />

Unsichtbarkeit genügt nicht.<br />

Natürlich sind die Sinti hier<strong>bei</strong> auf Unterstützung angewiesen. Die Interessenverbände<br />

<strong>der</strong> Sinti und Roma, die auf ehrenamtlicher Ar<strong>bei</strong>t basieren,<br />

können diese Herkulesaufgabe alleine nicht schaffen. Die Initiative<br />

aber muss von den Sinti selber ausgehen. Dennis Bühler<br />

Bahnhöfe und die darin verkehrenden Maschinen und Menschen faszinierten<br />

mich als Kind. Ganze Samstage lang betrachtete ich einfahrende<br />

Züge o<strong>der</strong> Männer in orangen Westen, die eine Lokomotive einrangierten.<br />

Die Zeit schien stillzustehen. Bahnhöfe strahlten etwas Magisches aus.<br />

Zwanzig Jahre später haben sich Bahnhöfe in mo<strong>der</strong>ne Karawansereien<br />

verwandelt. Und ich starre nicht mehr entspannt die Rotwein trinkenden<br />

Rentner im Speisewagen an, son<strong>der</strong>n enerviere mich über die kollektive<br />

Dummheit, welche die Menschen überfällt, sobald sie mit dem öffentlichen<br />

Verkehr reisen.<br />

Bahnhöfe machen mich heute aggressiv. Es gibt nichts Schlimmeres als<br />

gestresste Pendler, die auf <strong>der</strong> Jagd nach dem besten Sitzplatz bereits<br />

<strong>bei</strong>m Aussteigen <strong>der</strong> Passagiere die Lücke suchen, um in den Korridor des<br />

Zugwaggons einzudringen. Bewaffnet mit Kin<strong>der</strong>wagen, Koffer o<strong>der</strong> Fahrrad<br />

kämpfen sie sich durch – koste es, was es wolle. Zu früh einsteigende<br />

Menschen sind unausstehlich.<br />

Während <strong>der</strong> Fahrt geht das Malheur weiter. Gefühlte zwanzig Minuten<br />

vor <strong>der</strong> Ankunft am Zielbahnhof macht sich erneute Hektik breit. Die<br />

wahnsinnigen Pendler springen panisch von ihren Sitzen, räumen ihren<br />

Platz. Die Schlacht beginnt von neuem. Wer darf als Erster aussteigen?<br />

Auf welcher Seite befindet sich <strong>der</strong> Ausstieg am Zielort? Die Erfahrenen<br />

setzen sich meist durch – und belächeln all jene, die sich für die falsche<br />

Tür entschieden haben. Bahnhöfe und Zugfahrten: Sie sind nicht mehr<br />

das, was sie mal waren. Sebastian Gänger


06 <strong>Hamburg</strong><br />

Streitobjekt: das leer stehende haus neben <strong>der</strong> roten Flora/Xenia zarafu<br />

Häuserkampf<br />

im Schanzenviertel<br />

Mit Hausbesetzungen wehren sich Anwohner gegen<br />

Spekulanten. Die Stadt nimmt in Kauf, dass immer mehr<br />

sozial Schwache aus dem In-Viertel vertrieben werden<br />

V O N C h r I ST I N A L A C h N I T T<br />

Vor <strong>der</strong> haustüre von Charlotte<br />

Schmidt im Schanzenviertel drängen<br />

sich rund 300 Schwarzgekleidete.<br />

„Haut ab! Haut ab“, rufen sie,<br />

werfen Flaschen in Richtung <strong>der</strong><br />

unzähligen Polizisten, lassen Böller<br />

in die Luft steigen. Die Beamten versuchen<br />

<strong>der</strong>weil die Eingangstüre zu<br />

Schmidts Haus mit einem Rammbock<br />

aufzubrechen. Nach einer langen<br />

halben Stunde blitzen die Lichtkegel<br />

ihrer Taschenlampen durch<br />

die dunklen Räume des fast leerstehenden<br />

Gebäudes. Kurze Zeit später<br />

führen die Polizisten sieben vermummte<br />

Hausbesetzer ab.<br />

Das Haus, in dem Charlotte<br />

Schmidt wohnt, steht trotz Komplettsanierung<br />

seit vier Jahren fast<br />

leer. Während <strong>der</strong> Eigentümer alle<br />

an<strong>der</strong>en Mieter erfolgreich aus ihren<br />

Wohnungen vertrieben hat,<br />

bleibt sie standhaft: „Das Haus hat<br />

schon immer Spekulanten gehört.<br />

Seit ich in dem Haus wohne, hat<br />

viermal <strong>der</strong> Vermieter gewechselt“.<br />

Die allein erziehende Mutter lebt<br />

seit 24 Jahren in ihrer Wohnung am<br />

Schulterblatt. Hier sind ihre Wurzeln.<br />

Das als „Geisterhaus“ bekannte<br />

Gebäude wurde nicht zufällig besetzt.<br />

Es ist eines <strong>der</strong> prominentesten<br />

leer stehenden Gebäude im<br />

Schanzenviertel. Auf diesen Zustand<br />

wollten die Hausbesetzer mit ihrer<br />

Aktion aufmerksam machen. Auf<br />

großen Bannern for<strong>der</strong>ten sie:<br />

„Leerstand zu Wohnraum“ und<br />

„Miethaie zu Fischstäbchen“.<br />

Noch immer fehlen geeignete<br />

Mittel, um den spekulativen Leerstand<br />

an Wohnungen zu erfassen<br />

und zur Anzeige zu bringen. Das haben<br />

mittlerweile auch die Politiker<br />

erkannt. „Wir for<strong>der</strong>n eine Meldepflicht<br />

für Wohnraum, Leerstände<br />

müssen angezeigt und dementsprechend<br />

sanktioniert werden. In Zukunft<br />

soll ein Bußgeld von bis zu 50<br />

000 Euro in diesen Fällen verhängt<br />

werden, <strong>der</strong>zeit sind es nur 5000<br />

Euro“, erklärt Andy Grote, SPD-<br />

Fachsprecher für Stadtentwicklung.<br />

Grote for<strong>der</strong>t dies seit langem, fand<br />

im Senat jedoch kein Gehör.<br />

Die schwarz-grüne Regierung bezeichnet<br />

das Viertel als Erfolgsstory:<br />

Die Schanze hat sich in den letzten<br />

zehn Jahren von einem armen Problemviertel<br />

mit einer florierenden<br />

Drogenszene zu einem aufgewerteten<br />

Trendviertel gewandelt. Wo früher<br />

die Junkies Ausschau nach Dealern<br />

hielten, trinken heute Touristen<br />

Latte Macchiato.<br />

Die Stadt <strong>Hamburg</strong> verfolgte aktiv<br />

eine „Politik <strong>der</strong> wachsenden<br />

Stadt“, so Jürgen Oßenbrügge, Geowissenschaftler<br />

<strong>der</strong> Uni <strong>Hamburg</strong>.<br />

Dadurch sollten zahlungskräftige<br />

Bürger in die Innenstadt gelockt<br />

werden. Das Schanzenviertel sollte<br />

da<strong>bei</strong> als „Abenteuerspielplatz“ für<br />

den Tourismus interessant gemacht<br />

werden.<br />

Zu spät reagierten die Stadtplaner<br />

darauf, dass dadurch die ärmere Bevölkerung<br />

an die Stadträn<strong>der</strong> verdrängt<br />

wird. Auf <strong>der</strong> Jagd nach zahlungskräftiger<br />

Klientel hatten es die<br />

Politiker verpasst, mehr für den sozialen<br />

Wohnbau in <strong>der</strong> Innenstadt<br />

Ko M M E N TA r<br />

Kurswechsel<br />

in <strong>der</strong> Hafencity<br />

zu tun. Stattdessen schufen sie teuren<br />

Wohnraum und exklusive Bürogebäude.<br />

„Das Wohnen in <strong>der</strong> Innenstadt<br />

hat in den letzten Jahren an Attraktivität<br />

gewonnen, auch für Familien<br />

mit Kin<strong>der</strong>n“, bestätigt Oßenbrügge.<br />

Viel zu spät hätten die Referenten<br />

erkannt, dass dadurch natürlich<br />

ärmere Menschen verdrängt werden.<br />

Dennoch hält er das Schanzenviertel<br />

noch nicht für verloren. Es<br />

könne gut sein, dass sich <strong>der</strong> Hype<br />

um das Schanzenviertel in ein paar<br />

Jahren gelegt habe. Lei<strong>der</strong> bedeute<br />

dies aber nicht, dass die Mieten wie<strong>der</strong><br />

sinken werden, so <strong>der</strong> Geowissenschaftler.<br />

Charlotte Schmidt gibt sich<br />

kämpferisch. Sie will mit allen Mitteln<br />

in “ihrem” Haus bleiben. Seit<br />

die Mieten im Schanzenviertel so<br />

stark gestiegen sind, kann sie sich<br />

keine vergleichbare Wohnung leisten.<br />

Sie unterstützt daher die For<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Besetzer: „Die Hausbesetzung<br />

war erst <strong>der</strong> Auftakt. Ich<br />

denke, dass es bald noch richtig<br />

knallen wird“.<br />

Luxus zieht nicht mehr: Nach <strong>der</strong> Wirtschaftskrise soll<br />

jetzt Wohnraum für Normalverdiener entstehen<br />

Mit dem neuen Masterplan 2010 für die Hafencity verpasst die Stadt<br />

dem Hafenquartier einen sozialen Anstrich: Neben den Luxusbauten,<br />

die bisher entstanden sind, sollen nun in <strong>der</strong> nächsten Ausbauphase<br />

günstige Wohnungen für die Mittelschicht entstehen.<br />

Wohnungsbaukoordinator Michael Sachs sagt, die Stadt sei zur Einsicht<br />

gekommen, dass eine Monokultur keine langfristige Siedlungspolitik sei.<br />

„Für viele Reichen ist die Residenz am Hafen nur ein Durchreiseort. Für<br />

eine nachhaltige Belebung des Quartiers braucht es die Mittelschicht.“<br />

Während sich die Stadt angesichts <strong>der</strong> neuen Einsicht auf die Schulter<br />

klopft, vermutet Joachim Bischoff, Fachsprecher für Stadtentwicklung<br />

<strong>der</strong> Linken, einen viel pragmatischeren Grund hinter <strong>der</strong> Neuausrichtung:<br />

„Mit <strong>der</strong> Wirtschaftskrise hat die Nachfrage nach Gewerbefläche stark<br />

abgenommen, deshalb will die Stadt nun ein Wohnviertel erbauen.“<br />

Der Kurswechsel kommt spät. Es scheint, als habe die Stadt die Mittelschicht<br />

erst als Klientel entdeckt, als klar wurde, dass die Hafencity<br />

sonst zu einer Geisterstadt verkommt. Die Zukunft wird zeigen, ob die<br />

Stadt langfristig an <strong>der</strong> neuen Politik festhält o<strong>der</strong> <strong>bei</strong> dem nächsten<br />

Wirtschaftsaufschwung wie<strong>der</strong> lieber an reiche Investoren verkauft.<br />

Laurina Waltersperger


V O N E L E N A B A rT E L S<br />

Es ist kalt auf dem Straßenstrich in<br />

St. Georg. Vor einem Schaufenster<br />

reibt sich eine junge Frau die Hände.<br />

Sie verschwindet fast in ihrer dicken<br />

Winterjacke. Die Besucher von dem<br />

angrenzenden Weihnachtsmarkt<br />

schlen<strong>der</strong>n an ihr vor<strong>bei</strong>, ohne die<br />

Frau zu bemerken. Sie ist eine von<br />

dreißig Prostituierten, die auf dem<br />

Steindamm an diesem Abend ihre<br />

Körper verkaufen.<br />

Wie viele Frauen freiwillig in St.<br />

Georg anschaffen gehen, weiß niemand<br />

genau. Das Landeskriminalamt<br />

<strong>Hamburg</strong> schätzt, dass sich 95<br />

Prozent unter Zwang verkaufen.<br />

Was für die <strong>Hamburg</strong>er weit weg zu<br />

liegen scheint, spielt sich in Wahrheit<br />

direkt vor ihren Augen ab:<br />

„<strong>Hamburg</strong> ist eine zentrale Drehscheibe<br />

für Zwangsprostitution in<br />

Europa“, sagt Ralf Kunz, Pressesprecher<br />

<strong>der</strong> Innenbehörde. In <strong>der</strong> Hansestadt<br />

werden vor allem Frauen aus<br />

Osteuropa verkauft und zur Prostitution<br />

gezwungen.<br />

Jenny H. gehörte lange Zeit zu<br />

den Frauen auf dem Straßenstrich in<br />

St. Georg. Die 37-Jährige hat nichts<br />

aus dieser Zeit vergessen. Mit 17 Jahren<br />

jobbte sie in einem Café und<br />

bekam das Angebot, in einer fremden<br />

Stadt als Kellnerin zu ar<strong>bei</strong>ten.<br />

Als sich die Bar als Bordell entpuppte,<br />

wollte sie zurück. „Einen Monat<br />

lang wurde ich in eine Wohnung<br />

eingesperrt und mehrfach am Tag<br />

misshandelt“, erzählt sie. Ihr Peiniger<br />

drückte Zigaretten auf ihrem<br />

Körper aus und lud seine männlichen<br />

Verwandten ein, die Frau zu<br />

vergewaltigen. „Da ist die halbe Türkei<br />

über mich rüber“, sagt sie.<br />

Weltweit werden nach Angaben<br />

<strong>der</strong> EU jährlich etwa 500.000 Frauen<br />

sexuell ausgebeutet. Wie viele es in<br />

<strong>der</strong> Hansestadt betrifft, bleibt unklar.<br />

Denn viele Frauen erstatten nie<br />

Anzeige. Und die Grenze von Prostitution<br />

zu Zwangsprostitution ist<br />

fließend: „Die Frauen betrachten<br />

sich häufig nicht als Opfer, son<strong>der</strong>n<br />

suchen die Schuld <strong>bei</strong> sich selbst“,<br />

sagt Detlef Ubben, Leiter einer<br />

Dienststelle des LKA gegen organisierte<br />

Kriminalität. An<strong>der</strong>e Frauen<br />

befürchten, selbst hinter Gitter zu<br />

Das Tor zur Rotlichtwelt<br />

<strong>Hamburg</strong> ist in Europa eine zentrale Drehscheibe<br />

für Zwangsprostitution und Menschenhandel<br />

landen – weil sie keine Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis<br />

besitzen. Denn <strong>der</strong> deutsche<br />

Staat reagiert hart: Wer sich illegal<br />

im Land aufhält, hat nach <strong>der</strong> Befreiung<br />

aus <strong>der</strong> Zwangsprostitution<br />

lediglich vier Wochen Zeit für eine<br />

Aussage. Stabilisierungsfrist heißt<br />

diese Regelung im Verwaltungsdeutsch.<br />

Doch was nach einer Stütze<br />

für die Opfer klingt, ist für die Frauen<br />

in Wahrheit ein Dilemma: Wer<br />

nicht gegen die Menschenhändler<br />

aussagt, wird in sein Heimatland<br />

ausgewiesen.<br />

Die EU-Osterweiterung hat die<br />

Situation für den Menschenhandel<br />

in <strong>Hamburg</strong> begünstigt. Durch die<br />

Möglichkeit einer legalen Einreise<br />

innerhalb <strong>der</strong> EU gibt es einen<br />

scheinbar endlosen Nachschub an<br />

Frauen. „Mittlerweile kostet eine<br />

halbe Stunde Sex ohne Kondom nur<br />

noch 30 Euro“, sagt Sozialar<strong>bei</strong>ter<br />

Olaf Engelmann. Bei Temperaturen<br />

jenseits des Gefrierpunkts stehen<br />

Frauen wie Jenny bis zu 14 Stunden<br />

am Tag an <strong>der</strong> Straße. Zuhälter prü-<br />

geln sie nach draußen, wenn sie sich<br />

in den Bars aufwärmen wollen – diese<br />

Gewalt prägt den Alltag für die<br />

Zwangsprostituierten in St. Georg.<br />

<strong>Hamburg</strong>s Rolle als Drehscheibe<br />

für Zwangsprostitution kommt<br />

nicht von ungefähr: „Für Menschenhändler<br />

ist <strong>Hamburg</strong> so attraktiv,<br />

weil die Stadt für Sextourismus<br />

bekannt ist“, erklärt Kunz von <strong>der</strong><br />

Innenbehörde. Für die Hansestadt<br />

ist die Vergnügungsmeile Reeperbahn<br />

ein unverzichtbarer Magnet<br />

für Touristen. Da<strong>bei</strong> wird in Kauf<br />

genommen, dass diese Art von Tourismus<br />

einen Nährboden für sexuelle<br />

Ausbeutung schafft.<br />

Jenny H. hat den Ausstieg vor<br />

einigen Monaten geschafft. Sie fasste<br />

Vertrauen zu <strong>der</strong> Gruppe um Sozialar<strong>bei</strong>ter<br />

Engelmann. Schließlich<br />

erzählte sie ihre Geschichte. Engelmann<br />

half ihr, einen deutschen Pass<br />

zu erhalten, besorgte ihr eine Wohnung.<br />

Wenn sie heute von ihrem<br />

Weg in die Zwangsprostitution und<br />

<strong>der</strong> Zeit in St. Georg erzählt, wirkt<br />

<strong>Hamburg</strong><br />

07<br />

Der Kiez ist ein Touristenmagnet. Bitterer Beigeschmack: Das Viertel begünstigt zwangsprostitution/X. zarafu<br />

sie seltsam abgeklärt. Das Erlebte<br />

herunterzuspielen, ist laut Engelmann<br />

eine typische Reaktion <strong>bei</strong><br />

Opfern von sexueller Gewalt. „Viele<br />

<strong>der</strong> Frauen ar<strong>bei</strong>ten unter einem an<strong>der</strong>en<br />

Namen. Die Schmerzen werden<br />

nur dem zweiten Ich zugefügt.<br />

Dann ist es leichter, die Situation zu<br />

ertragen.“<br />

Menschenhandel ist nach Drogen-<br />

und Waffenhandel das <strong>der</strong>zeit<br />

lukrativste Geschäft <strong>der</strong> Welt. Nach<br />

Schätzungen <strong>der</strong> Internationalen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsorganisation verdienen Men-<br />

schenhändler jährlich 28 Milliarden<br />

US-Dollar allein durch sexuelle Ausbeutung.<br />

Zyniker erkennen darin<br />

marktwirtschaftliche Prinzipien:<br />

Die Nachfrage bestimmt das Angebot.<br />

Solange Freier auf den Straßenstrich<br />

in St. Georg kommen, werden<br />

die Frauen hier stehen. Manchmal,<br />

wenn ihr Hartz IV aufgebraucht ist,<br />

steht auch Jenny wie<strong>der</strong> an ihrer alten<br />

Ecke. „Wenn das passiert“, sagt<br />

Engelmann, „reden wir mit ihr und<br />

bringen sie nach Hause.“


Wasserzeichen setzen! Mit ihrem Achter ru<strong>der</strong>n die ältesten Mitglie<strong>der</strong> des ältesten hamburger ru<strong>der</strong>clubs Germania jeden Dienstag um halb sieben<br />

auf <strong>der</strong> Alster – auch im Winter. Ihre Lieblingsroute: Von <strong>der</strong> Außenalster bis nach ohlsdorf und zurück<br />

Logenblick auf die Altstadt: Das Clubhaus liegt am Westufer <strong>der</strong><br />

Außenalster. Von hier können die ru<strong>der</strong>er direkt in See stechen<br />

Wer jede Woche ru<strong>der</strong>t,<br />

bleibt im Alter<br />

schlank. Dank Disziplin<br />

zeigt die Waage<br />

optimalgewicht<br />

hart im Nehmen: Trotz<br />

hohen Alters bleibt <strong>bei</strong>m<br />

Training nur selten ein<br />

Platz unbesetzt


Bereit zur Abfahrt: Bei dem schweren holz-Achter müssen alle mit<br />

anpacken, um das filigrane Boot zu Wasser zu lassen<br />

Die Bil<strong>der</strong> zeigen einen idyllischen<br />

hamburger herbsttag. Nun treiben<br />

aber seit Wochen Eisschollen über<br />

die Alster. Bei diesem Wetter bleiben<br />

Sie doch im Clubhaus, o<strong>der</strong>?<br />

Selbstverständlich nicht. In meinem<br />

Alter lasse ich mich von ein<br />

wenig Eis nicht abschrecken. Seit<br />

mehr als 50 Jahren ru<strong>der</strong>e ich zwei<br />

Mal wöchentlich – auch im Winter.<br />

Da sind Sie aber ganz schön hart im<br />

Nehmen. Wer ru<strong>der</strong>t mit Ihnen?<br />

Jeden Dienstag ru<strong>der</strong>n wir Senioren<br />

morgens um halb sieben im Holz-<br />

Achter. Danach essen wir gemeinsam<br />

Frühstück. Das Durchschnittsalter<br />

<strong>der</strong> Besatzung ist über 70 Jahre<br />

alt. Altersschwäche ist aber nicht zu<br />

spüren.<br />

Nicht nur Ihr holz-Achter dürfte einer<br />

<strong>der</strong> ältesten <strong>der</strong> Welt sein.<br />

Wir sind <strong>der</strong> älteste Ru<strong>der</strong>club Kon-<br />

Portfolio<br />

INTERVIEW<br />

„Eis schreckt mich<br />

nicht ab“<br />

09<br />

Werner Spamann (67) ru<strong>der</strong>t im „alten Achter“ und<br />

ist Vorsitzen<strong>der</strong> des ältesten Ru<strong>der</strong>clubs Kontinentaleuropas.<br />

Laurina Waltersperger und Dennis Bühler<br />

sprachen mit ihm übers Kurshalten auch <strong>bei</strong> Kälte<br />

tinentaleuropas. Nur <strong>der</strong> Lean<strong>der</strong><br />

Boat Club in Oxford ist noch einige<br />

Jahre älter. Englische Händler haben<br />

den Ru<strong>der</strong>sport nämlich schon<br />

recht früh nach <strong>Hamburg</strong> gebracht.<br />

Im Sommer 1836 haben reiche Kaufmannsleute<br />

dann den Club gegründet.<br />

Ru<strong>der</strong>n war ein gesellschaftlicher<br />

Anlass, <strong>der</strong> die Massen<br />

begeistert hat. Beim allerersten<br />

olympischen Ru<strong>der</strong>wettbewerb<br />

1900 in Paris hat Germania die<br />

Goldmedaille errungen.<br />

Ist ru<strong>der</strong>n ein Massensport?<br />

Bei uns steht <strong>der</strong> Breitensport im<br />

Zentrum. Mit mehr als 800 Mitglie<strong>der</strong>n,<br />

davon 150 Junioren, sind wir<br />

in <strong>Hamburg</strong> verankert.<br />

Welche Bedeutung hat <strong>der</strong> Club für<br />

Sie?<br />

Germania ist meine zweite Heimat.<br />

Und das seit Jahrzehnten.<br />

z U r P E r S o N : Philipp reiss studierte in <strong>Hamburg</strong> Geographie<br />

und ar<strong>bei</strong>tete als freier Fotograf. Im vergangenen September begann er<br />

sein Studium in Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an <strong>der</strong><br />

Fachhochschule Hannover.<br />

www.philreiss.de


10 <strong>Hamburg</strong><br />

Ein scharfes Messer bringt den Tod<br />

Dogan Mezbaha opfert für seine muslimische Kundschaft bis zu 300 Schafe. An einem Tag<br />

Prüfen<strong>der</strong> Blick: Während des opferfestes hat Schlachter Dogan Mezbaha alle hände voll zu tun/Philipp Weber(3)<br />

V O N A D r I A N M E Y E r<br />

Sein Kopf lugt schräg über den Rand<br />

des kleinen Anhängers. Wenige Meter<br />

von seinen großen, schwarzen<br />

Augen entfernt spritzen zwei Männer<br />

in Gummistiefeln mit grimmigen<br />

Mienen Plastiktonnen ab. Ihre<br />

weißen Overalls sind mit roten<br />

Striemen übersät, ihre Haare unter<br />

Hygienehauben verdeckt. Weinrotes<br />

Blut fließt aus den umgekippten<br />

Behältern auf den nassen Steinboden,<br />

vermischt sich dort mit Fäkalien,<br />

Stroh und Urin, bevor es durch<br />

eine Rinne im Garten daneben versickert.<br />

Die braunrote Brühe riecht<br />

wie ranziger Käse.<br />

Der Bulle gibt keinen Ton von<br />

sich. In <strong>der</strong> klammen Kälte dieses<br />

Morgens dampfen seine regelmäßigen<br />

Atemstöße in den tiefhängenden,<br />

nebligen Himmel. Nur einmal<br />

bäumt er sich kurz auf, wirft sein<br />

schwarzes Fell gegen die Wagenwände<br />

und kotet unkontrolliert,<br />

ohne den Schwanz zu heben.<br />

Dann tätschelt ihm <strong>der</strong> Fahrer<br />

des Traktors sanft auf die Schnauze,<br />

legt ihm ein Seil um den Hals, öffnet<br />

das Gatter und zieht seinen kräftigen<br />

Bullenkörper in einen dunklen<br />

Nebenstall. In den nächsten Stunden<br />

beruhigt er sich dort, bevor ihm<br />

im Raum nebenan ein Bolzenschuss<br />

ins Gehirn die Sinne raubt und ein<br />

gezielter Schnitt durch die Kehle das<br />

Blut entzieht.<br />

Je<strong>der</strong> gläubige Muslim, <strong>der</strong> es<br />

sich finanziell leisten kann, ist verpflichtet,<br />

jährlich zu Ehren des Propheten<br />

Ibrahim ein Tier zu opfern.<br />

Ein Drittel des Fleisches darf selber<br />

gegessen werden, ein Drittel wird an<br />

Nachbarn und ein Drittel an Arme<br />

verteilt. Die Zeiten, in denen je<strong>der</strong><br />

Muslim sein Tier selber schlachtete,<br />

sind in Deutschland lange vor<strong>bei</strong>.<br />

Heute übernehmen diese Aufgabe<br />

Schlachtereien wie jene von Dogan<br />

Mezbaha.<br />

Es ist <strong>der</strong> dritte Tag des Kurban<br />

Bayramı, des islamischen Opferfes-


Schächten in Schichten: Nach Bolzenschuss und Schnitt durch die Kehle hängen die toten Tiere nur kurz am haken<br />

tes. In Mezbahas Schlachterei wartet<br />

die muslimische Kundschaft auf<br />

ihre Ware. Der Schlachthof liegt<br />

mitten im kleinen Weiler Rübke im<br />

Alten Land, dem Marschgebiet südlich<br />

<strong>der</strong> Elbe. Die Kunden sind ungeduldig,<br />

wollen an diesem Werktag<br />

schließlich noch ar<strong>bei</strong>ten gehen.<br />

Mezbaha beruhigt mit Zigarette im<br />

Mundwinkel, bietet in <strong>der</strong> kleinen<br />

Küche Kaffee und Tee an, klopft auf<br />

Schultern und schüttelt Hände, verhandelt.<br />

300 Schafe wurden hier am<br />

ersten Tag des Festes geopfert. Am<br />

zweiten Tag waren es 150. Heute<br />

kommen die großen Tiere dran. 20<br />

Bullen stehen auf <strong>der</strong> Liste, dazu<br />

dutzende Schafe. „Heute ist die lästige<br />

Ar<strong>bei</strong>t“, murmelt <strong>der</strong> Schlachter<br />

und leert sein Gläschen Schwarztee.<br />

Draußen haben die Männer in<br />

Overalls die Tonnen gereinigt. Ein<br />

Großteil <strong>der</strong> Schlachtabfälle des<br />

Vortages wurde zuvor von einem<br />

Laster abtransportiert. Trotzdem stehen<br />

noch immer zahlreiche Behälter<br />

rum, in denen sich die Schafsfelle<br />

und Kuhhäute mitsamt den daran<br />

hängenden Hufen türmen. Von Blut<br />

getränkt, verkrusten ihre schmutzigen<br />

Oberflächen in <strong>der</strong> Kälte.<br />

Dogan Mezbaha begrüßt zwei<br />

junge Afrikaner in Schals und Cord-<br />

sakkos. Sie wollen das Schaf, das sie<br />

bereits im Voraus bezahlt haben, vor<br />

dem Schlachten selber auswählen.<br />

Er führt sie in einen engen und<br />

feuchten Stall, in dem sich rund 30<br />

Tiere drängen. Nur ein, zwei Mal<br />

vernimmt man ein zaghaftes Blöken.<br />

Die Schafe bleiben sogar still,<br />

als sie vor Mezbaha und seinen Kunden<br />

zurückweichen und in die gleiche<br />

Richtung rennend um das<br />

Grüppchen wirbeln. Die jungen<br />

Männer haben ihre Wahl getroffen.<br />

Sie beauftragen den Chefschlachter<br />

mit einem Gebet, das Schaf für sie<br />

zu schächten.<br />

Kurz darauf beginnen zwei Männer<br />

fünf <strong>der</strong> Tiere nacheinan<strong>der</strong> an<br />

den Hufen vom Stall in den<br />

Schlachtraum zu zerren. Eines <strong>der</strong><br />

Schafe haben sie an den Hinterhufen<br />

erwischt. Unfähig, rückwärts<br />

mit zu humpeln, strauchelt es und<br />

tränkt seine Schnauze in <strong>der</strong> braunroten<br />

Lache aus Blut und Fäkalien,<br />

die mittlerweile weite Teile des Vorhofes<br />

überschwemmt hat. „Ist das<br />

unseres?“ rufen die Afrikaner laut.<br />

Das Bündel Fell wird wortlos vom<br />

Mitar<strong>bei</strong>ter hochgezogen, umgedreht<br />

und in den weiß gekachelten<br />

Raum gebracht. Kurz vor Erreichen<br />

<strong>der</strong> Tür erschlafft das Tier, wehrt<br />

sich nicht mehr, die Hinter<strong>bei</strong>ne<br />

geben nach. Die letzten Meter in<br />

den Raum wird es über den Boden<br />

geschleift.<br />

Einblick in den Schächtraum<br />

bleibt Außenstehenden verwehrt.<br />

„Zutritt nur mit Gesundheitsschein“,<br />

erklärt <strong>der</strong> Mann vom Veterinäramt.<br />

Er sorgt zusammen mit<br />

einer Kollegin dafür, dass auch während<br />

des Opferfestes die Hygienevorschriften<br />

eingehalten werden.<br />

„Der Schlachthof entspricht dem<br />

EU-Standard, auf den Tierschutz<br />

wird geachtet“, bestätigt er.<br />

<strong>Hamburg</strong><br />

11<br />

Dennoch sind schnelle Blicke<br />

durch den Türrahmen möglich,<br />

wenn ein weiteres Tier in den Raum<br />

gebracht wird. Momentaufnahmen<br />

routiniert ablaufenden Sterbens.<br />

Kurz sieht man, wie dem Schaf die<br />

Elektrozange an den Schädel gesetzt<br />

wird. Die silberne Tür schließt sich.<br />

Das nächste Schaf wird angeschleppt.<br />

Das erste liegt noch zappelnd<br />

auf dem Boden. Es sind dies<br />

die letzten unbewussten Reflexe seines<br />

Tierlebens. Innerhalb von 20<br />

Sekunden nach <strong>der</strong> Betäubung wird<br />

das Tier geschächtet, nach einer weiteren<br />

Minute ist es tot. Geschnitten<br />

wird am Boden, über einer Rinne,<br />

durch die das Blut abläuft. Elektroschock<br />

für die Schafe, Bolzenschuss<br />

für die Bullen. Den Tod aber bringt<br />

<strong>bei</strong>den ein scharfes Messer.<br />

Die Tür schließt sich wie<strong>der</strong>. So<br />

geht es weiter, bis alle fünf Tiere in<br />

den Raum gebracht wurden. Bei Ankunft<br />

des letzten Schafes ist das erste<br />

bereits zerlegt und hängt gehäutet<br />

am Fleischhaken, weiß schimmernd,<br />

glatt wie eine Plastik. Später<br />

wie<strong>der</strong>holt sich die Prozedur mit<br />

fünf neuen Tieren. Schächten in<br />

Schichten.<br />

Keine zehn Meter daneben verlassen<br />

die Kunden den Hof mit<br />

schweren, weißen Tüten über <strong>der</strong><br />

Schulter. Was kurz zuvor noch als<br />

fleischiger Vorhang am Haken in <strong>der</strong><br />

gekachelten Halle hing, landet nun<br />

in faustgroße Stücke zerlegt in den<br />

Kofferräumen. Das Fleisch schimmert<br />

rötlich durch die Plastiksäcke.<br />

Es ist noch warm.<br />

routiniertes Sterben: In Mezbahas Schlachtraum wartet <strong>der</strong> schnelle Tod


12 <strong>Hamburg</strong><br />

Reiten in<br />

Richtung Heilung<br />

Laufen und toben kann <strong>der</strong> schwer behin<strong>der</strong>te<br />

Veit nicht. Aber auf dem Rücken eines Pferdes<br />

erobert er sich die Welt zurück<br />

V O N S U S A N N A A N D r I C K<br />

Veit thront auf seinem Pferd. Zur Abwechslung<br />

überragt er die Menschen<br />

um sich herum. Er lächelt in<br />

sich hinein, als würde er Dinge sehen,<br />

die sonst niemand wahrnimmt.<br />

Seit seiner Geburt ist <strong>der</strong> 8-Jährige<br />

körperlich schwer behin<strong>der</strong>t, aber<br />

geistig hellwach.<br />

Seine kleinen Hände krampfen<br />

sich um die Sattelgriffe. Speichel<br />

läuft aus seinem Mundwinkel heraus<br />

– in diesem Moment ist Schlucken<br />

zweitrangig, er muss balancieren.<br />

„Für Veit fühlt es sich an, als<br />

würde ein körperlich gesun<strong>der</strong><br />

Mensch mit einem zentnerschweren<br />

Sack auf dem Rücken reiten“,<br />

sagt Caroline Hilgers. Sie betreut<br />

Veit Jasper Jahn jede Woche. Seit 15<br />

Jahren ar<strong>bei</strong>tet sie als Hippotherapeutin.<br />

Der Begriff stammt vom<br />

griechischen Wort für Pferd, „hippos“.<br />

Bei <strong>der</strong> Hippotherapie werden<br />

die Patienten auf einem Pferd durch<br />

die Halle geführt und von einer Physiotherapeutin<br />

begleitet.<br />

Aber auch Veits drei und vier Jahre<br />

alten gesunden Schwestern dürfen<br />

mit reiten. Sie sitzen hintereinan<strong>der</strong><br />

auf dem Pferd und winken<br />

ihrem großen Bru<strong>der</strong> zu. Bei je<strong>der</strong><br />

Begegnung ihrer Pferde wirft Veit<br />

den Kopf in den Nacken und stößt<br />

ein Lachen aus, das tief aus seiner<br />

Kehle kommt.<br />

Hilgers muss sich heute anstrengen,<br />

um Veits Aufmerksamkeit zu<br />

bekommen. Die 37-Jährige spricht<br />

freundlich, aber mit Nachdruck. Immer<br />

wie<strong>der</strong> for<strong>der</strong>t sie den Jungen<br />

auf, nach vorn zu gucken und sich<br />

festzuhalten. Er liebt es, Grenzen<br />

auszutesten – wie jedes Kind in seinem<br />

Alter. Am Anfang <strong>der</strong> Therapie<br />

ließ er sich hängen, rutschte absichtlich<br />

zur Seite weg. „Wenn ich<br />

ihn ermahnt habe, hat er sich<br />

schlapp gelacht“, erzählt Hilgers.<br />

Mit einem Handzeichen gibt Veit<br />

ihr zu verstehen, dass seine Schwestern<br />

vor ihm reiten sollen. Heute<br />

versteht sie den Jungen gut. Zur Not<br />

erklärt <strong>der</strong> seiner Therapeutin aber<br />

auch hun<strong>der</strong>t Mal mit Händen und<br />

Füßen, was er meint.<br />

Die Schritte <strong>der</strong> Tiere ähneln den<br />

menschlichen. Deswegen hilft die<br />

Hippotherapie beson<strong>der</strong>s Kin<strong>der</strong>n,<br />

die im Rollstuhl sitzen: Sie können<br />

auf dem Pfer<strong>der</strong>ücken gleichsam<br />

laufen, ohne ihre Beine bewegen zu<br />

müssen. Doch die Hippotherapie<br />

wirkt auch wohltuend für die Seele.<br />

Die Pferde nehmen die Behin<strong>der</strong>ten<br />

an, wie sie sind.<br />

Am Ende <strong>der</strong> 20-minütigen Behandlung<br />

sitzt Veit aufrecht im Sattel.<br />

Seine Muskeln sind gelöster; <strong>der</strong><br />

Oberkörper ruckt nicht mehr <strong>bei</strong><br />

jedem Schritt. Hilgers führt seine<br />

linke Hand zurück an den Sattelgriff<br />

und hält sie fest. Das gefällt Veit gar<br />

nicht: Er zieht seine Hand unter ihrer<br />

heraus und reitet demonstrativ<br />

freihändig. Vor zweieinhalb Jahren<br />

hätte er das nicht vermocht. Ohne<br />

Hilgers stabilisierende Hände wäre<br />

er heruntergefallen. Mittlerweile<br />

liegt ihre rechte Hand nur noch lose<br />

auf seinem Rücken, für den Notfall.<br />

Als Hilgers fragt: „Möchtest du<br />

dich nicht wie<strong>der</strong> festhalten?“,<br />

schüttelt Veit den Kopf. Stolz wirkt<br />

er da<strong>bei</strong>. Er darf an diesem Ort entscheiden.<br />

Für ihn ist die Hippotherapie<br />

kein Pflichttermin: Die ganze<br />

Woche musste er krank zu Hause<br />

verbringen, aber das Reiten wollte er<br />

auf keinen Fall verpassen.<br />

Am Ende <strong>der</strong> Stunde hebt ihn<br />

sein Vater behutsam aus dem Sattel<br />

und stützt ihn auf dem Weg zum<br />

Rollstuhl. Delfine zieren das Gefährt.<br />

Symbole für Veits Sehnsucht<br />

nach Beweglichkeit. Im Mutterleib<br />

bekam sein Gehirn zu wenig Sauerstoff,<br />

deswegen ist seine Motorik<br />

stark eingeschränkt. Doch sie hat<br />

sich durch die Hippotherapie in den<br />

vergangenen Jahren verbessert. Seine<br />

Eltern hoffen, dass er eines Tages<br />

laufen und sprechen kann.<br />

Außenstehende sehen Veits kleine<br />

Fortschritte nicht. Das Mitleid<br />

von Passanten betrübt Vater Heiko<br />

Jahn. „Das Leben mit Veiti ist absolut<br />

beglückend, das verstehen die<br />

Menschen nicht!“, sagt er. Jahn ist<br />

Pastor in <strong>der</strong> evangelisch-lutherischen<br />

Kirche St. Andreas in Harvestehude.<br />

Fast jeden Samstag begleitet<br />

<strong>der</strong> 51-Jährige seinen Sohn in<br />

den Reitstall.<br />

Nach <strong>der</strong> Hippotherapie bringt<br />

Jahn die Kin<strong>der</strong> in die Stallgasse –<br />

auch das gehört zum samstäglichen<br />

Ritual. Die Pferde kauen Stroh,<br />

durch weit geöffnete Türen dringen<br />

Tageslicht und kühle Luft. Dort<br />

überwacht Veit aus seinem Rollstuhl<br />

den Stallburschen <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t.<br />

Ausmisten, Pferde hereinholen, füttern.<br />

Dem wachsamen Blick des Kindes<br />

entgeht nichts. Seine Schwestern<br />

toben um ihn herum, hängen<br />

sich an den Rollstuhl, kippen fast<br />

damit um. Veit kümmert es wenig.<br />

Eine braun-weiße Ziege stolziert<br />

in die Stallgasse und starrt ihm in<br />

die Augen. Veit hält ihrem Blick<br />

stand. Ihr Rücken reicht bis zu seiner<br />

Schulter – Angst hat er deswegen<br />

nicht. Übermütig zieht er das Tier<br />

am Ohr, provoziert eine Reaktion.<br />

Die kommt prompt: Die Ziege senkt<br />

ihren Kopf, stößt Veit in den Magen.<br />

Er lächelt nur über den Angriffsversuch.<br />

Um Veit Jasper Jahn loszuwerden,<br />

muss sich die Ziege schon etwas<br />

Besseres einfallen lassen.<br />

Dank hippotherapie macht <strong>der</strong> körperbehin<strong>der</strong>te Veit große Fortschritte.<br />

Sein Vater hofft, dass sein Sohn eines Tages gehen können wird/S. Andrick


Mode aus Mülltüten: Einmal die Woche erhalten die Asylbewerber im mecklenburgischen<br />

Weiler horst Klei<strong>der</strong>spenden /Sebastian Gänger<br />

Flucht aus <strong>der</strong><br />

Verantwortung<br />

<strong>Hamburg</strong> schickt seine Flüchtlinge aufs platte Land –<br />

und raubt ihnen so die Chance auf Anerkennung<br />

V O N N I C o L E W E h r<br />

Weiß getünchte Bäume säumen den<br />

Weg. Vereiste Äste glitzern in <strong>der</strong><br />

Sonne. Über dem weiten Land liegt<br />

sonntägliche Stille. Nur <strong>der</strong> schwarze<br />

VW-Kombi passt nicht in das<br />

Idyll. Menschen drängeln sich in<br />

einer Traube unter <strong>der</strong> offenen Kofferraumklappe.<br />

Sie tragen Badelatschen,<br />

manche sind barfuß. „Bitte<br />

nehmt keine ganzen Säcke!“, ruft<br />

Azimi Tamim in die Menge. Niemand<br />

hört ihm zu. Mit flinken Händen<br />

durchwühlen die Menschen die<br />

Säcke, grapschen nach Kleidungsstücken.<br />

Fast jeden Sonntag verteilt <strong>der</strong><br />

32-jährige Afghane Klei<strong>der</strong>spenden<br />

an die Flüchtlinge im Asylheim<br />

Nostorf/Horst. Seit Oktober ist er<br />

deutscher Staatsbürger, mit einem<br />

Fahrradgeschäft hat sich <strong>der</strong> Vater<br />

zweier Kin<strong>der</strong> selbstständig gemacht.<br />

„Aber ich war selber in dieser<br />

Situation, deshalb helfe ich hier.“<br />

Ein kleines Waldstück schottet<br />

das Asylheim, eine ehemalige Kaser-<br />

ne, vom Dorf ab. Drei Meter hoch<br />

ragt <strong>der</strong> Zaun auf, <strong>der</strong> den Gebäudekomplex<br />

umgibt. „Sieht doch aus<br />

wie ein Knast“, sagt Tamim und<br />

schüttelt den Kopf. Die nächste Bushaltestelle<br />

liegt vier Kilometer entfernt,<br />

die <strong>Hamburg</strong>er Innenstadt 65<br />

Kilometer.<br />

In dem 1000-Seelen-Dorf Horst<br />

entledigt sich <strong>Hamburg</strong> seiner Asylbewerber<br />

– und verhin<strong>der</strong>t jegliche<br />

Integration. Seit dem 1. Oktober<br />

2006 kooperiert die Hansestadt mit<br />

Mecklenburg-Vorpommern. Bis dahin<br />

gab es neben den noch immer<br />

bestehenden 70 Unterbringungsplätzen<br />

im Auffanglager Sportallee<br />

weitere 500 Plätze auf dem Wohnschiff<br />

„Bibby Altona“. In den Jahren<br />

vor seiner Schließung war das Schiff<br />

nicht mehr ausgelastet. Doch nun<br />

steigt die Zahl <strong>der</strong> Asylbewerber seit<br />

Monaten. In Horst wohnen <strong>der</strong>zeit<br />

232 Flüchtlinge – zehnmal so viele<br />

wie noch vor einem Jahr.<br />

Tamim muss seine Klei<strong>der</strong>spenden<br />

vor dem Zaun verteilen. Ihm<br />

wurde Hausverbot in Horst erteilt,<br />

ebenso wie Mitar<strong>bei</strong>tern des Flüchtlingsrats<br />

<strong>Hamburg</strong>. „Diese Personen<br />

haben die Einwohner zu Unruhe<br />

angestiftet“, sagt Wolf-Christoph<br />

Trzeba, Leiter des Landesamts für<br />

Migration und Flüchtlingsangelegenheiten<br />

in Mecklenburg-Vorpommern.<br />

Wie<strong>der</strong>holt betont er, dass das<br />

Heim kein Lager, son<strong>der</strong>n eine Erstaufnahme-Einrichtung<br />

sei.<br />

Durch die Schließung <strong>der</strong> „Bibby<br />

Altona“ und die Zusammenlegung<br />

<strong>der</strong> Unterkünfte werde viel Geld gespart,<br />

erklärt Trzeba. Nun müssten<br />

<strong>bei</strong>de Bundeslän<strong>der</strong> nur noch eine<br />

Einrichtung unterhalten. Franz<br />

Forsmann vom Flüchtlingsrat <strong>Hamburg</strong><br />

rechnet vor, dass die Unterbringung<br />

einer vierköpfigen Familie<br />

in Horst, inklusive Taschengeld von<br />

40,90 Euro im Monat, knapp 2.850<br />

Euro koste. Mit Hartz-IV-Hilfe könnte<br />

die Familie aber auch im <strong>Hamburg</strong>er<br />

Stadtgebiet wohnen. Das käme<br />

rund 1000 Euro günstiger. „Dahinter<br />

steckt systematische Ausgrenzung“,<br />

argumentiert <strong>der</strong> Aktivist, im<br />

Hauptberuf Physiker.<br />

In ihrem Koalitionsvertrag von<br />

2008 vereinbarten CDU und Grüne<br />

Alternative Liste (GAL), die Beteiligung<br />

am Asylheim Horst vorzeitig<br />

zu beenden. Bis dahin wolle man<br />

nur die Mindestbelegung von 30<br />

Plätzen nutzen sowie Familien mit<br />

Kin<strong>der</strong>n grundsätzlich in <strong>Hamburg</strong><br />

unterbringen. „Von diesen politischen<br />

Absichtserklärungen ist aktuell<br />

nichts Realität“, sagt Forsmann.<br />

Real sind unzufriedene Flüchtlinge,<br />

die sich schikaniert fühlen.<br />

Selbst schulpflichtige Kin<strong>der</strong> wohnen<br />

in Horst – ein klarer Rechtsbruch.<br />

Insassen berichteten Medien<br />

über Hungerstreiks, eine Totgeburt<br />

und Schläge vom Sicherheitsdienst.<br />

Landesamtsleiter Trzeba weist alle<br />

Vorwürfe zurück: „Nichts von dem<br />

hat sich in <strong>der</strong> Form hier abgespielt.<br />

Das ist wie stille Post – je<strong>der</strong> erzählt<br />

etwas an<strong>der</strong>es.“<br />

Die Betroffenen sehen das an<strong>der</strong>s:<br />

„Alles ist schlecht hier“, sagt<br />

die Mazedonierin Saida Elemovska,<br />

während sie ihren vier Töchtern<br />

<strong>bei</strong>m Durchforsten <strong>der</strong> Klei<strong>der</strong>säcke<br />

zuschaut. 25 Jahre ist sie alt, und<br />

sieht doch älter aus mit ihren Augenringen<br />

und Zahnlücken. Das<br />

<strong>Hamburg</strong><br />

13<br />

Essen sei einseitig, die medizinische<br />

Versorgung katastrophal, die Beratung<br />

unzureichend.<br />

Diese Punkte kritisiert auch <strong>der</strong><br />

Flüchtlingsrat: „Die ersten drei Monate<br />

sind entscheidend für das Asylverfahren.<br />

In Horst werden den<br />

Flüchtlingen die Chancen auf Erfolg<br />

systematisch entzogen“, sagt Forsmann.<br />

Nur einmal in <strong>der</strong> Woche<br />

gebe es eine rechtliche Beratung,<br />

zudem sei <strong>der</strong> Aufbau eines sozialen<br />

Netzwerks in <strong>der</strong> Isolation nicht<br />

möglich. Auch zusätzlich in <strong>Hamburg</strong><br />

geplante Plätze seien keine Lösung:<br />

„Statt die Umstände in den<br />

Lagern zu verbessern, sollten diese<br />

abgeschafft werden“, for<strong>der</strong>t Forsmann.<br />

Die desolaten Zustände seien<br />

Kalkül <strong>der</strong> Stadt, glaubt auch Claudius<br />

Brenneisen, Anwalt für Asylrecht:<br />

„Das steht natürlich nirgends<br />

so geschrieben, aber es geht schon<br />

darum, den Flüchtlingen die Lage so<br />

unbequem wie möglich zu machen.<br />

Das soll sich herumsprechen.“<br />

Die GAL, einst wichtigster politischer<br />

Fürsprecher <strong>der</strong> Asylbewerber<br />

und bis Ende November Junior-Partner<br />

<strong>der</strong> Regierung, hat für den Koalitionsfrieden<br />

ihre Ideale aufgegeben.<br />

Ein Blick auf die letzten<br />

Parteiprogramme zeigt, dass so gut<br />

wie keine <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen umgesetzt<br />

wurde. „Die Flüchtlingspolitik<br />

wird immer geopfert“, sagt Flüchtlingsaktivist<br />

Forsmann. Das sieht<br />

Antje Möller, flüchtlingspolitische<br />

Sprecherin <strong>der</strong> GAL, an<strong>der</strong>s: „Wir<br />

haben vieles erreicht, was gar nicht<br />

im Koalitionsvertrag stand.“ Viel<br />

Konkretes kann sie dann jedoch<br />

nicht nennen.<br />

Azimi Tamim hat sein Vertrauen<br />

in die Politiker verloren. „Es wird so<br />

viel über die richtige o<strong>der</strong> falsche<br />

Unterbringung diskutiert. Keiner<br />

schaut auf die Ursachen von Flucht“,<br />

sagt er. Ob Son<strong>der</strong>müll- und Dumping-Exporte<br />

o<strong>der</strong> Waffenverkauf in<br />

Krisengebiete: Letztendlich seien<br />

die Industriemächte Schuld am<br />

Flüchtlingsstrom. „Niemand verlässt<br />

schließlich freiwillig seine Heimat“,<br />

sagt Tamim. Mit von <strong>der</strong> Kälte<br />

tauben Fingern schließt er den<br />

Kofferraum seines Wagens, setzt<br />

sich ans Steuer und rollt langsam<br />

vom Parkplatz in Horst.


Einem Koloss gleich ragen die Schiffsbuge am Dock 2 in den himmel. Und doch ist jedes dieser Ungetüme von Menschenhand gebaut<br />

SCHIFFBAU<br />

<strong>Hamburg</strong>s<br />

rostige Wiege<br />

Einst waren die Werften <strong>der</strong> Stolz <strong>der</strong> Hansestadt,<br />

jetzt scheint ihr Nie<strong>der</strong>gang unabwendbar. Doch in den<br />

Docks schuften und schweißen die Ar<strong>bei</strong>ter weiter<br />

hamburg im Jahr 1906. Lo<strong>der</strong>nde Flammen brennen den Michel, das Wahrzeichen<br />

<strong>der</strong> Stadt, bis auf die Grundmauern nie<strong>der</strong>; im Hauptbahnhof fahren<br />

erste, dampfende Lokomotiven ein; unweit <strong>der</strong> Landungsbrücken wird<br />

ein riesiges Denkmal zu Ehren von Reichskanzler Otto von Bismarck eingeweiht.<br />

Und im Hafen nimmt die Nor<strong>der</strong>werft ihren Betrieb auf.<br />

In <strong>der</strong> 105-jährigen Geschichte <strong>der</strong> Werft mit ihren zwei Docks wurden<br />

unzählige Schiffe repariert und umgebaut. Ihre Blütezeit erlebte sie in <strong>der</strong><br />

Zwischenkriegszeit, als knapp Tausend Werftar<strong>bei</strong>ter dort Kriegsschiffe für<br />

die Marine erbauten. Im zweiten Weltkrieg wurde die Werft völlig zerstört.<br />

Nach dem Neubau wurden aber bald wie<strong>der</strong> Tanker, Eisbrecher, Fähren und<br />

Küstenmotorschiffe zu Wasser gelassen.<br />

Heute besteht die Nor<strong>der</strong>werft nebst zwei Docks auch aus einem 500<br />

Meter langen Kai. Wie <strong>der</strong> ganze deutsche Schiffbau leidet sie unter finanziellen<br />

Schwierigkeiten – die meisten Containerschiffe werden inzwischen<br />

in Billiglohnlän<strong>der</strong>n wie Südkorea o<strong>der</strong> China gebaut. Während des Winters<br />

müssen viele Beschäftigte auf <strong>der</strong> Nor<strong>der</strong>werft Kurzar<strong>bei</strong>t leisten.<br />

Doch auch wenn die Werften in <strong>Hamburg</strong> nicht mehr die wirtschaftliche<br />

Rolle spielen wie einst, prägen sie doch noch immer das Erscheinungsbild<br />

des Hafens – und den Mythos <strong>der</strong> Hansestadt. (law/dbü)<br />

z U r P E r S o N : Sonja och studiert seit 2007 Fotojournalismus und<br />

Dokumentarfotografie an <strong>der</strong> Fachhochschule Hannover. Die 26-Jährige<br />

absolvierte 2009 ein Praktikum <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Bremer Tageszeitung Weser Kurier.<br />

Im kommenden Frühjahr wird sie ein Semester an <strong>der</strong> Danish <strong>School</strong><br />

of <strong>Media</strong> and Journalism in Aarhus studieren.<br />

www.sonjaoch.de


Weites Werftland: ohne Fahrrad bräuchten die Ar<strong>bei</strong>ter bis zu 20 Minuten, um die einzelnen Werkstationen zu erreichen<br />

Schwerstar<strong>bei</strong>t ist<br />

Schweißar<strong>bei</strong>t. Vor<br />

dem Essen waschen<br />

sich die Männer Gesicht<br />

und hände.<br />

Portfolio<br />

15<br />

Wer macht was? Am Morgen teilen sich die Männer die Ar<strong>bei</strong>t für den Tag ein


16 Panorama<br />

Auf den Pflastersteinen,<br />

die die Welt bedeuten<br />

Inmitten einer Demonstration unterhalten Cosma Dujat<br />

und Andreas Jahncke mit einem Gassentheater<br />

Er möchte mit Pissoirs die Kunst revolutionieren, sie versinkt in ihrer rolle: Das Schauspiel-Duo Jahncke und Dujat<br />

V O N A D r I A N S o L L E r sich die Demonstranten auf <strong>der</strong><br />

Strassenkreuzung vor dem Balkon.<br />

„Ich habe Angst“, flüstert Cosma und<br />

blickt auf die Strasse. Sie kneift sich<br />

in ihren linken Handrücken. Die<br />

Stimmen im Nebenraum sind verstummt.<br />

Sirenengeheul erobert das<br />

Zimmer. Cosma tritt einen Schritt<br />

von <strong>der</strong> Balkontür zurück. Sie schüttelt<br />

ihren Körper und beginnt mit<br />

ihren Fäusten auf die Brust zu schlagen.<br />

Im Nebenraum beginnt ein<br />

Mann mit tiefer Stimme zu singen.<br />

Draussen vor dem Balkon stehen<br />

sechs vermummte Gestalten in<br />

schwarzer Kleidung vor einer grünweissen<br />

Front aus Polizisten. Sie demonstrieren<br />

gegen die Innenministerkonferenz<br />

in <strong>Hamburg</strong>. Aus den<br />

Seitengassen strömen immer mehr<br />

Schwarzgekleidete in die Susannenstrasse.<br />

Wie dunkles Blut, das auf<br />

einer Wunde verkrustet, vermengen<br />

Oben im Zimmer klatscht Cosma<br />

nun abwechslungsweise mit den<br />

Handflächen auf ihren Nacken und<br />

gurrt da<strong>bei</strong> wie ein Taube. Nebenan<br />

ahmt die Männerstimme einen<br />

Zweitaktmotor nach. „Sollen wir<br />

das wirklich durchziehen, Andreas?“,<br />

fragt Cosma mit ungewöhnlich<br />

hoher Stimme. Der Motor verstummt.<br />

„Ja! Lass es uns machen!“,<br />

ertönt es. Ein Mann mit nacktem<br />

Oberkörper betritt den Raum und<br />

geht mit schnellen Schritten ans<br />

Fenster. Mit einer kurzen Handbewegung<br />

streicht er sich durch sein<br />

blondes Haar. Aufmerksam verfolgt<br />

er das Geschehen auf <strong>der</strong> Strasse. „Es<br />

wird uns schon nix passieren!“, besänftigt<br />

er.<br />

Eine Stunde früher ist Cosma<br />

noch ganz entspannt: Mit den Bei-<br />

nen eng am Körper sitzt sie auf einem<br />

weichen Sofa im hintersten Eck<br />

ihrer Lieblingsbar. Im Hintergrund<br />

ertönt mexikanische Rockmusik aus<br />

einem Lautsprecher. Ihre Augen hat<br />

sie nur einen kleinen Spalt weit geöffnet,<br />

auf ihrer Oberlippe perlt<br />

Milchschaum. Ihr Schauspielkollege<br />

Andreas geht den bevorstehenden<br />

Auftritt Szene für Szene durch.<br />

Seine Wörter formen sich mehr und<br />

mehr zu einem kleinen Strom <strong>der</strong><br />

Begeisterung. Die sechs Jahre jüngere<br />

Cosma schweigt. Nur selten platziert<br />

sie ein Wort <strong>der</strong> Zustimmung<br />

im reissenden Fluss seiner Erzählung.<br />

Sie blickt auf den Zeigefinger<br />

ihrer linken Hand, als ob sie ihn gerade<br />

erst entdeckt hätte.<br />

Cosma Dujat und Andreas Jahncke<br />

treten seit Mai 2010 regelmässig<br />

zusammen auf. Sie spielen in <strong>der</strong> U-<br />

Bahn, auf Strassen, auf öffentlichen<br />

Plätzen o<strong>der</strong> in Schaufenstern. Die<br />

Auftritte sollen „Theater mit dem<br />

Alltag aller Menschen verbinden“.<br />

Heute Abend ist die Susannenstrasse<br />

im Schanzenviertel ihre Bühne.<br />

Cosma sagt von sich, dass sie es liebt<br />

unter den ungewöhnlichen Bedingungen<br />

des Gassentheaters an ihre<br />

Grenzen zu stoßen. Zufrieden lässt<br />

sie sich in die weichen Kissen ihrer<br />

Lieblingscouch sinken, und ahnt<br />

noch nicht, dass sie heute inmitten<br />

<strong>der</strong> Wirrungen einer Grossdemonstration<br />

spielen wird.<br />

Unter dem Balkon verschmilzt<br />

Sirenengeheul mit monotonen<br />

Politparolen zu einer aggressiven<br />

Geräuschkulisse. Cosma wendet<br />

sich vom Geschehen auf <strong>der</strong> Strasse<br />

ab. Andreas trägt unterdessen ein<br />

weisses Hemd. Er nickt ihr zu und<br />

verlässt wortlos den Raum. Sie bleibt<br />

ganz allein im Dunkel des Zimmers<br />

zurück. Ihr Atem wird ruhiger. Ihre<br />

Augen blicken starr an die mit Blumen<br />

bemusterte Tapete, die im blauen<br />

Licht <strong>der</strong> Sirene pulsiert. Cosma<br />

wird mit jedem Ton ihrer Stimmübung<br />

mehr und mehr zu Sophie.<br />

Sophie ist ein zynischer Mensch.<br />

Sie wirkt sehr ernst – zuweilen böse.<br />

Beim Sprechen schiebt sie ihr Kinn<br />

leicht nach vorne, signalisiert Bereitschaft<br />

zum Angriff. Zwischen<br />

ihren graublauen Augen bahnen<br />

sich zwei tiefe Furchen ihren Weg<br />

durch die sanfte Haut.<br />

Unten auf <strong>der</strong> Strasse knallt es.<br />

Ein Sprengkörper. Die Polizisten formieren<br />

sich im Wutrot bengalischen<br />

Feuers zu einer kleinen Armee. Unmittelbar<br />

unter dem Balkon positioniert<br />

sich ein olivgrünes Panzerfahrzeug.<br />

Aus dem Rohr des<br />

Wasserwerfers tropft Wasser. Davor<br />

vermengen sich Menschen zu einem<br />

Brei <strong>der</strong> Gewalt. Die meisten<br />

Demonstranten sind schwarz gekleidet<br />

- die Gesichter in Tücher gehüllt.<br />

Plötzlich löst sich ein Mann<br />

aus <strong>der</strong> Masse und rennt schreiend<br />

auf den Balkon zu.<br />

„Sophie, Sophie!“, schreit er aufgeregt.<br />

Ein kleiner Handscheinwerfer<br />

geht an. Cosma tritt auf den Balkon:<br />

„Anton, was machst du hier?“<br />

Sie knallt jedes Wort dieses Satzes<br />

mit <strong>der</strong> Wucht ihrer Theaterstimme<br />

auf die Frontscheibe des Panzerfahr-


zeuges. Nach wenigen Wörtern bewegt<br />

sich das kolossale Gefährt im<br />

Retourgang vom Balkon weg. Cosma<br />

bekommt Rückenwind. Sie gießt<br />

Buchstabenschwalle – wie kaltes<br />

Wasser – über Demonstranten und<br />

Polizisten. Die brodelnde Masse <strong>der</strong><br />

Gewalt kühlt langsam ab. Die<br />

Sprechchöre <strong>der</strong> Demonstranten<br />

werden leiser. Der Motor des Polizeiwagens<br />

verstummt.<br />

Unten auf <strong>der</strong> Strasse erklärt Anton<br />

mit einer Staffelei und seiner<br />

Begeisterung bewaffnet, dass er<br />

Kunst auf Pissoirs machen wolle. Er<br />

sieht das Porzellan <strong>der</strong> Urinauffangbecken<br />

als sicheres Schutzschild<br />

avantgardistischer Kunst: „In Pissoirs<br />

liegt die Zukunft! Banken brechen<br />

zusammen! Steigende Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit!<br />

Alles verpisst sich! Aber<br />

das Pissoir das bleibt!“ Sophie findet<br />

die Idee „Kacke“. Anton fühlt sich<br />

missverstanden. Es kommt zum<br />

Streit.<br />

Sophie zittert vor Wut. Sie schreit.<br />

Wie ein Schwamm saugt sie den<br />

Hass <strong>der</strong> Demonstranten auf. Ihr<br />

angesammelter Zorn entlädt sich<br />

über Anton. Sie schleu<strong>der</strong>t steinschwere<br />

Fluchworte runter in die<br />

Gasse. Ihr „Anton, fick dich!“ löst <strong>bei</strong><br />

den Demonstranten Gelächter aus.<br />

„Ja, fick dich Anton!“ stimmt ihr ein<br />

Vermummter zu. Ein Polizist lacht.<br />

Das grosse Finale: Sophie knallt<br />

die Balkontür zu. Das dumpfe Geräusch<br />

hallt durch die Susannenstrasse.<br />

Nach fünf Sekunden <strong>der</strong> Stille<br />

wird applaudiert. Unter dem Beifall<br />

ziehen sich Demonstranten und Polizisten<br />

zurück.<br />

Im Zimmer verwandelt sich<br />

Sophie schubweise im Rhythmus<br />

<strong>der</strong> Auf- und Abbewegung ihres<br />

Brustkorbes wie<strong>der</strong> zu Cosma. Als<br />

Andreas mit einem Lächeln in <strong>der</strong><br />

Tür auftaucht, ist Sophie bereits<br />

verschwunden. Sie hat sich – zusammen<br />

mit dem Hass – in Nichts<br />

aufgelöst.<br />

T h E AT E r ST Ü C K : Pissoirs<br />

r E G I E : Dan Thy Nguyen<br />

S C h A U S P I E L E r : Cosma Dujat<br />

und Andreas Jahncke<br />

Weitere Infos unter<br />

www.schaufenstheater.de<br />

Ko L U M N E<br />

Panorama<br />

Wenn Mama und Papa<br />

eBay lernen<br />

Tagebuch eines digitalen Generationenkonflikts<br />

17<br />

Kamelhaarmantel und Geschirrtücher, Plateau-Schuhe und verpackte<br />

Spitzenunterwäsche – alles stapelt sich – im Flur, auf <strong>der</strong> Treppe, dem<br />

Sofa, den Tischen. Der Geruch von Mottenkugeln frisst sich durch jeden<br />

Türspalt. Staub tänzelt im Sonnenlicht. Nur eine muss das nicht ertragen:<br />

meine Oma. Die sitzt jetzt im Heim. Nur ihr Gerümpel ist noch hier.<br />

Wohin mit dem SBS Besteck Solingen, siebzigteilig, hartvergoldet,<br />

„Modell Wien“, Neupreis 3485 Deutsche Mark: zu hässlich, um davon zu<br />

essen, zu wertvoll, um es wegzuschmeißen. Die geschnitzten Hirschfiguren,<br />

ein Mitbringsel aus einem Urlaub in Südtirol vor über 40 Jahren,<br />

verfeuert mein Vater im Ofen. Doch Besteck brennt nicht, und die<br />

Biberpelze verursachen zu viel Qualm.<br />

Meine Mutter (54) würde wahrscheinlich nicht <strong>bei</strong> einer Bank ar<strong>bei</strong>ten,<br />

könnte sie nicht gut verkaufen. Bei -5 Grad stellt sich allerdings keiner<br />

auf den Flohmarkt. „Da gibt es doch sowas“, sagt sie zu mir. „Wo man so<br />

Sachen verkauft. Im Internet.“ - „eBay?“, frage ich ungläubig. Und denke:<br />

Bitte nicht. Das wird mich mehr Zeit kosten, als <strong>der</strong> Plun<strong>der</strong> neu wert war.<br />

Auf den Fotos müssen die Klamotten gut aussehen. Meine Mutter sucht<br />

die passende Kette zum rosa Cashmere-Pullover, gefühlte zehn Nummern<br />

zu groß, dann setzt sie ihr schönstes Lächeln auf, obwohl <strong>der</strong> Kopf auf<br />

dem Foto nicht zu sehen sein wird.<br />

Aber keiner hat Lust, sie zu fotografieren. Auch nicht im schwarzen<br />

Persianermantel. Also fotografiert meine Mutter selbst, und mein Vater<br />

(56) muss den Damenmantel tragen. Erst im Garten, dann im Haus, er<br />

merkt irgendwann gar nicht mehr, was er da eigentlich an hat. Für die Detailbil<strong>der</strong><br />

hält meine Mutter eine große Lupe vor das kleine Schildchen im<br />

Pullover, „100% Cashmere“, und drückt ab.<br />

Dann geht es an den Computer. „Du steckst den Chip von <strong>der</strong> Kamera ins<br />

Lesegerät und lädst die Fotos hoch“, erklärt mein Bru<strong>der</strong>, 21-jähriger Lehramtsstudent,<br />

monoton. „Wo muss ich jetzt hier was reinstecken?“, fragt<br />

meine Mutter und: „Was ist ein Chip?“ Das war‘s. Meinem Bru<strong>der</strong> reicht es.<br />

Meine Mutter schimpft ihm hinterher: „Wie willst du eigentlich Lehrer<br />

werden, wenn du nichts erklären kannst?“<br />

Jetzt bin ich dran. Meine Eltern sitzen mit Bleistift und Papier vor dem<br />

Monitor. „Ich krieg doch da die Fotos nicht rein“, sagt meine Mutter und<br />

zeigt auf den Schirm. Weil <strong>der</strong> PC, <strong>der</strong> mich schon in meiner Teenagerzeit<br />

genervt hat, noch weniger mitar<strong>bei</strong>tet als meine Eltern, packe ich den<br />

Laptop aus. „Super – das geht viel einfacher“, freut sich meine Mutter und<br />

tippt auf das Foto, das ich hochgeladen habe. Mit dem Zeigefinger versucht<br />

sie das Foto in die eBay-Maske zu ziehen. Das Ergebnis ist ein<br />

Fettstriemen auf meinem Bildschirm.<br />

Doch meine Eltern wollen es schaffen. Sie notieren: „Chip -> Lesegerät -><br />

Computer -> einschalten. Internet Explorer -> eBay“ Dann folgen sie den<br />

Anweisungen. Ar<strong>bei</strong>ten sich durch zwei Seiten und gehen dann wie<strong>der</strong> drei<br />

zurück. Nach zweieinhalb Stunden haben sie es geschafft. Und sieben<br />

Tage später wird <strong>der</strong> Trachtenhut sogar verkauft, <strong>der</strong> im Bereich „Wolle“<br />

eingestellt war und trotzdem von einer Person namens „chickenwing159“<br />

gefunden wurde, die sich erbarmt hat, das fusselige grüne Ding für<br />

einen Euro zu ersteigern.<br />

Das hat meine Eltern keineswegs frustriert – fortan wird alles verzockt,<br />

für 1 Euro o<strong>der</strong> für 80 – egal. Tage später ruft allerdings meine entsetzte<br />

Mutter an: „Huch. Ich hab die 750 Gramm Glitzerwolle für Gillymaus aus<br />

versehen an Gilbert88 verschickt.“ Der hat eine E-Mail geschrieben und<br />

will jetzt ihre Telefonnummer haben, damit sie ihm Stricken <strong>bei</strong>bringt. Da<br />

kann ich ihr nicht helfen. In zwischenmenschlicher Kommunikation<br />

müsste meine Mutter eigentlich die Bessere sein. Linda Gerner


18 Panorama<br />

Dürfen Lesben<br />

Kin<strong>der</strong> haben?<br />

Die CDU stellt sich gegen eine Reform des Adoptionsrechts<br />

für Homosexuelle und isoliert sich so in Europa<br />

V O N C A r o L I N E B E r N h A r D T Forscherteam Stacey und Biblarz<br />

schon vor bald zehn Jahren festge-<br />

Auf dem 4. Regenbogenfamilientag<br />

in <strong>Hamburg</strong> tummeln sich viele<br />

homosexuelle Pärchen. Alle haben<br />

den gleichen Wunsch: Ein gemeinsames<br />

Kind. Adoptieren dürfen sie<br />

nach deutschem Recht jedoch keins<br />

und das will Monika Harms* än<strong>der</strong>n.<br />

Im Namen <strong>der</strong> Initiative für<br />

Lesbische und Schwule Eltern (ILSE)<br />

hält sie Vorträge, verteilt Broschüren,<br />

spricht mit Betroffenen, diskutiert:<br />

„Die Geburt meiner Tochter<br />

hat den Kampfgeist in mir geweckt.<br />

Ich will, dass sie in einer besseren<br />

Gesellschaft aufwächst.“<br />

Harms und ihre eingetragene Lebenspartnerin<br />

Clara Reuter mussten<br />

lange für ihr Glück kämpfen: Vor<br />

an<strong>der</strong>thalb Jahren entschloss sich<br />

Reuter für eine künstliche Befruchtung<br />

in Dänemark. Als ihre Tochter<br />

Julie zur Welt kam, musste Harms<br />

das Kind ihrer Partnerin erst adoptieren.<br />

Ein Jahr lang stritten sie mit<br />

Behörden, Jugendämtern und Gerichten,<br />

bis sie als erziehungsberechtigt<br />

eingetragen wurde. Eigentlich<br />

hatten die <strong>bei</strong>den ein fremdes<br />

Kind adoptieren wollen, „aber da<br />

sind die gesetzlichen Auflagen noch<br />

diskriminieren<strong>der</strong>“, sagt Harms.<br />

Die gemeinsame Adoption eines<br />

fremden Kindes durch gleichgeschlechtliche<br />

Paare ist in Deutschland<br />

bisher ausgeschlossen. Eine<br />

Vielzahl wissenschaftlicher Studien<br />

hat allerdings bewiesen, dass sich<br />

Kin<strong>der</strong> homosexueller Eltern nicht<br />

von solchen heterosexueller Eltern<br />

unterscheiden. „Kin<strong>der</strong> mit schwulen<br />

o<strong>der</strong> lesbischen Eltern sind genauso<br />

intelligent, emotional ausgeglichen<br />

und körperlich gesund wie<br />

ihre Altersgenossen, die <strong>bei</strong> Vater<br />

und Mutter aufwachsen“, hat <strong>bei</strong>spielsweise<br />

das US-amerikanische<br />

stellt. Nicht bewahrheitet hat sich<br />

die Annahme, dass die Kin<strong>der</strong> homosexueller<br />

Paare selber schwul<br />

o<strong>der</strong> lesbisch werden. Zu einem<br />

ähnlichen Ergebnis kam auch eine<br />

Studie des Bundesjustizministeriums<br />

im Jahr 2009. Im vergangenen<br />

November hat die Justizministerkonferenz<br />

in Berlin den bisher letzten<br />

Versuch gestartet, gemeinschaftliche<br />

Adoption zu legalisieren<br />

– ohne Erfolg.<br />

An<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong> sind Deutschland<br />

weit voraus: Selbst das katholische<br />

Spanien ermöglicht es homosexuellen<br />

Eltern, gemeinsam ein Kind zu<br />

adoptieren.<br />

Nach wie vor ist die Union die<br />

einzige im Bundestag vertretene<br />

Fraktion, die eine Gleichstellung<br />

von Schwulen und Lesben im Adoptionsrecht<br />

komplett ablehnt. „Mit<br />

uns wird es keine Adoption durch<br />

Homosexuelle geben. Das Wohl des<br />

Kindes steht <strong>bei</strong> uns im Mittelpunkt“,<br />

sagt Dorothee Bär, familienpolitische<br />

Sprecherin <strong>der</strong> CDU/<br />

CSU-Bundesfraktion.<br />

Einige Aktivisten glauben zwar,<br />

die CDU könne eine Gesetzesreform<br />

nicht auf Dauer verhin<strong>der</strong>n. Elke<br />

Jansen, Vorsitzende des Lesben- und<br />

Schwulenverbands (LSVD), schätzt<br />

den Einfluss <strong>der</strong> CDU als vorerst unüberwindbar<br />

ein. „Die For<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Justizminister nach einer Reform<br />

wird nichts bewirken“, sagt sie.<br />

Selbst wenn die Politik gleichgeschlechtlichen<br />

Paaren <strong>der</strong>einst erlauben<br />

sollte, Kin<strong>der</strong> zu adoptieren:<br />

Nur wenige würden von einer solchen<br />

Reform profitieren. Adoptionswilligen<br />

Elternpaaren stehen<br />

nämlich viel zu wenige zur Adoption<br />

freistehende Kin<strong>der</strong> gegenüber.<br />

* Namen von Redaktion geän<strong>der</strong>t<br />

r E z E N S I o N<br />

Geheimnisvolle Farben<br />

Das Israel-Museum präsentiert erstmalig seine Chagall-<br />

Sammlung „Lebenslinien“ im Bucerius Kunst Forum<br />

Die rote Ziege schmiegt sich innig an den grünen Mann mit blauen Haaren.<br />

Etwas abseits im Bild schweben eine Wanduhr und <strong>der</strong> sterbende Jesus<br />

am Kreuz. Leuchtende Farben und bizarre Bildkompositionen wie diese<br />

gestalten Chagalls Werke so eindrucksvoll und befremdlich zugleich.<br />

Auf zwei Ebenen präsentiert die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum<br />

noch bis zum 16. Januar Ölgemälde, Tuschezeichnungen und Lithografien<br />

des Künstlers. Sie setzt sich aus Ölgemälden, sowie vielen kleinen<br />

Zeichnungen und Skizzen zusammen.<br />

Die Ausstellung zählt zu den weltweit wichtigsten Sammlungen mit Werken<br />

des Künstlers und ist erstmals in Deutschland zu sehen. Da<strong>bei</strong> stand<br />

das Israel-Museum in Jerusalem Pate. „Mit dem Israel-Museum ist eines<br />

<strong>der</strong> bedeutendsten Museen des Nahen Ostens in <strong>Hamburg</strong> zu Gast“, sagt<br />

Andreas Hoffmann, Projektleiter Kunst und Kultur <strong>der</strong> ZEIT-Stiftung<br />

Ebelin und Gerd Bucerius.<br />

Durch seine jüdische Abstammung hatte Chagall eine enge Verbindung<br />

zu Israel. Ida Chagall, die 1994 verstorbene Tochter des Künstlers,<br />

schenkte das gesamte Werk dem Israel-Museum in Jerusalem. Auch be-<br />

stehe ein enger Bezug zwischen <strong>der</strong> ZEIT-Stiftung und Israel, so Hoffmann.<br />

In seinen Ölgemälden erschafft Chagall Welten aus an<strong>der</strong>en Sphären, in<br />

denen nicht nur Wanduhren, son<strong>der</strong>n auch Menschen und Kühe fliegen<br />

können. Die kräftigen Rot-, Gelb- und Blautöne stimulieren die Sinne und<br />

verleihen den Werken eine Ausdruckskraft, die den Betrachter in die<br />

Traumwelt Chagalls hineinzieht.<br />

Im zweiten Ausstellungsraum spiegeln Chagalls Werke die Gräueltaten<br />

<strong>der</strong> Nationalsozialisten wi<strong>der</strong>. Ein Gemälde zeigt einen zum Tode verurteilten<br />

Juden, <strong>der</strong> anstelle <strong>der</strong> Jesusfigur am Kreuze hängt. Das Werk<br />

klagt zugleich die verantwortlichen des Dritten Reiches an und führt den<br />

Besucher zurück in die Zeit des Antisemitismus. Die leuchtenden Farben<br />

des ersten Ausstellungsraumes weichen kalten Braun- und Grautönen<br />

und erzeugen ein Gefühl <strong>der</strong> Beklemmung.<br />

Ganz an<strong>der</strong>s stellt sich die Liebe zu seiner Frau Bella dar. Sie manifestiert<br />

sich in dem immer wie<strong>der</strong>kehrenden Motiv <strong>der</strong> schwebenden Frau<br />

im Brautkleid. In enger Umarmung mit ihrem Mann, dem Künstler selbst,<br />

scheinen die zwei Verliebten zu einer Person zu verschmelzen. Wie sehr<br />

seine Ehefrau Inspiration für den Künstler war, wird durch ihre Anwesenheit<br />

in vielen seiner Ölgemälde deutlich. Auch ein roter Hahn o<strong>der</strong> eine<br />

musizierende Kuh lässt Chagall in seinen Bil<strong>der</strong>n immer wie<strong>der</strong>kehren,<br />

um Erotik, Liebe und Leben zu symbolisieren.<br />

Wer <strong>der</strong> eisigen Winterkälte für einen Augenblick entfliehen will, findet<br />

in den intensiven Farben und Motiven <strong>der</strong> Ausstellung körperliche und<br />

seelische Wärme. Maren Susan Meyer


Vor dieser Flagge fürchten sich selbst FC-Bayern-Spieler /Selim Sudheimer<br />

Von links außen<br />

in die erste Liga<br />

Wie die Hafenstraße den Ar<strong>bei</strong>terverein<br />

entdeckte und weshalb das Millerntor-Stadion<br />

das Millerntor-Stadion bleibt<br />

V O N D o M I N I C W I rT h<br />

Das Millerntor-Stadion an einem<br />

Dezember-Nachmittag. Wie Ameisen<br />

strömen Zuschauer auf die drei<br />

Stehplatzrampen. Eineinhalb Stunden<br />

noch bis zum Anpfiff – eine<br />

Ewigkeit in <strong>der</strong> schneidenden Kälte.<br />

Der Platz verknappt, aber das stört<br />

an diesem Abend niemanden. Nähe<br />

spendet Wärme, Glühwein und Bier<br />

wirken als innere Heizung. Erste Ge-<br />

sänge schallen von den Rängen, zuerst<br />

vereinzelt und vielstimmig,<br />

bald im Einklang. „St. Pauli, St. Pauli!“<br />

Totenkopf-Fahnen wehen, auf<br />

<strong>der</strong> Südtribüne springen die Zuschauer<br />

auf und ab.<br />

„Non established since 1910“,<br />

mit diesem Slogan begeht St. Pauli<br />

das Jubiläumsjahr. „Eigentlich<br />

müsste es ,non established since<br />

1985‘ heißen“, sagt Christoph Nagel.<br />

Zusammen mit Michael Pahl<br />

hat <strong>der</strong> Journalist und Historiker das<br />

Jubiläumswerk „FC St. Pauli. Das<br />

Buch“ geschrieben. In den 1980er-<br />

Jahren stand <strong>der</strong> FC St. Pauli am<br />

Abgrund. Das Geld fehlte, <strong>der</strong> Verein<br />

dümpelte in <strong>der</strong> dritten Liga.<br />

Zuweilen übertrafen die Erlöse aus<br />

dem Kuchenverkauf die Zuschauereinnahmen.<br />

Zum Trainingslager<br />

fuhren die Spieler auf den Ponyhof<br />

des Präsidenten. Um etwas Geld in<br />

die Kassen zu bringen, wurden die<br />

freien Sitzplätze im Mannschaftsbus<br />

an Anhänger verkauft. So kam es,<br />

dass auf Auswärtsfahrten vorne die<br />

Spieler saßen, während sich auf den<br />

hinteren Plätzen die mitfahrenden<br />

Supporter mit Bier und Zigaretten<br />

auf das Spiel einstimmten.<br />

Mitte <strong>der</strong> 1980er Jahre entdeckten<br />

die Bewohner <strong>der</strong> besetzten<br />

Häuser an <strong>der</strong> <strong>Hamburg</strong>er Hafenstraße<br />

den FC St. Pauli. „Der Verein<br />

bot damals fankulturell leeren<br />

Raum. Die Bewohner <strong>der</strong> Hafenstraße<br />

haben diesen besetzt“, sagt Pahl.<br />

Am Millerntor standen bald politisch<br />

mehrheitlich linke Anhänger,<br />

die sich mit dem Verein und seinem<br />

Außenseiter-Image identifizierten.<br />

Der Totenkopf war das perfekte<br />

Symbol für diese An<strong>der</strong>sartigkeit<br />

und wehte bald überall am Millerntor.<br />

Die 1980er Jahre waren die Geburtsstunde<br />

des Mythos St. Pauli.<br />

Befeuert wurde diese Entwicklung<br />

durch den Aufstieg in die erste Bundesliga<br />

1988; <strong>der</strong> Zuschauer-Durchschnitt<br />

verdreifachte sich in dieser<br />

Saison auf 21000.<br />

„Heike, ich liebe dich. Dein Kai.“<br />

Seit Spielbeginn flimmern Botschaften<br />

über Bildschirme unter dem Stadiondach.<br />

Ein Mobilfunk-Anbieter<br />

wirbt im Stadion. Michael Pahl<br />

schüttelt den Kopf: „Mich stört das<br />

ungemein. Hier soll <strong>der</strong> Fussball im<br />

Mittelpunkt stehen. Das macht St.<br />

Pauli aus.“ Mit den Anhängern von<br />

<strong>der</strong> Hafenstraße erhielt<br />

<strong>der</strong> FC St. Pauli eine politische<br />

Dimension, die<br />

ihn bis heute prägt. Der<br />

Kampf gegen Rassismus<br />

und Faschismus<br />

aus den Anfangsjahren<br />

ist geblieben; heute<br />

wehren sich die St.-<br />

Pauli-Anhänger<br />

Panorama<br />

19<br />

zudem gegen die Kommerzialisierung<br />

des Fußballs. Einzig das Geschehen<br />

auf dem Rasen zählt; Unterhaltungselemente<br />

sind verpönt.<br />

Cheerlea<strong>der</strong>s am Millerntor? Undenkbar.<br />

1990 schickte ein Vergnügungspark<br />

Maskottchen Wumbo.<br />

Das Experiment war nach kurzer<br />

Zeit beendet: Stofftier Wumbo wurde<br />

mit Biersalven eingedeckt, flüchtete<br />

und kehrte nie mehr zurück.<br />

Auch <strong>der</strong> Versuch, mit dem „Millerntaler“<br />

eine Stadionwährung einzuführen,<br />

musste nach vehementen<br />

Protesten abgebrochen werden. Im<br />

Jahr 2007 beschlossen die Mitglie<strong>der</strong><br />

zudem, den Verkauf <strong>der</strong> Stadion-<br />

Namensrechte auszuschließen: Millerntor<br />

bleibt Millerntor.<br />

Prinzipien haben ihren Preis.<br />

Weil sich <strong>der</strong> Verein solcher Marketingmassnahmen<br />

verweigert, entgehen<br />

ihm Einnahmen, die er dringend<br />

bräuchte. Michael Pahl und<br />

Christoph Nagel, die schon seit langem<br />

ins Stadion gehen, wissen das<br />

– und nehmen Nachteile in Kauf.<br />

„Eine gewisse Kommerzialisierung<br />

ist unvermeidbar. Doch wenn ein<br />

Trikotsponsor drei Millionen mehr<br />

zahlt, aber nicht mit den Werten des<br />

FC St. Pauli vereinbar ist, dann verzichten<br />

wir lieber auf das Geld und<br />

kämpfen gegen den Abstieg.“<br />

Ideale vor Punkten. Das zeigt sich<br />

auch an diesem Abend, an dem St.<br />

Pauli in <strong>der</strong> ersten Halbzeit nicht<br />

viel gelingen will. 1:3 liegt die<br />

Mannschaft von Holger Stanislawski<br />

zurück, die Angriffsbemühungen<br />

stocken. Nach <strong>der</strong> Pause erzielt Matthias<br />

Lehmann den Anschlusstreffer;<br />

Hoffnung keimt, <strong>der</strong> Lärmpegel<br />

steigt. St. Pauli kämpft, die Menschen<br />

sind begeistert. Mehr erwartet<br />

man hier nicht. Kurz vor Schluss<br />

trifft Mainz zum 4:2, St. Pauli verabschiedet<br />

sich mit einer Nie<strong>der</strong>lage in<br />

die Winterpause. Die Stimmung<br />

bleibt trotzdem gut,<br />

Pfiffe gegen die eigene<br />

Mannschaft gibt es<br />

am Millerntor nicht.<br />

Buchempfehlung:<br />

Christoph Nagel/Michael<br />

Pahl – 100 Jahre St. Pauli.<br />

Das Buch. 413 Seiten.<br />

hoffmann und Campe<br />

Verlag, 39,90 €


20 Panorama<br />

Wiä cha me das äässe?<br />

Drei gourmetverwöhnte Schweizer HMS-Studenten erforschen<br />

die kulinarischen Höhepunkte <strong>der</strong> norddeutschen Tiefebene<br />

Knorpelgedöns<br />

G E r I C h T: K U T T E R S C H O L L E<br />

nach „Büsumer Art“ mit Nordseekrabben,<br />

Lauch, Champignons und Butterkartoffeln, dazu<br />

ein hamburger ratsherrenpils<br />

22.90 Euro im old Commercial room<br />

Gleich <strong>bei</strong>m ersten Happen <strong>bei</strong>ße ich auf eine 5 Zentimeter<br />

lange Gräte. Nur knapp steche ich mir kein Loch<br />

in die Backe. Als Alpenbewohner ohne Meersicht gehört<br />

Fischessen eher zur Seltenheit. Dementsprechend<br />

begrenzt sind meine Fähigkeiten <strong>bei</strong> komplizierten<br />

Grätenkonstrukten. Als die dicke Kutterscholle<br />

nach „Büsumer Art“ in einer halben Meter großen Tellerplatte<br />

vor mir liegt, kann von Essmanagement keine<br />

Rede mehr sein.<br />

Während meine Freunde konsistenzfreien Glibber o<strong>der</strong><br />

esstechnisch anspruchslose Apfel-Birnen-Speck-Gerichte<br />

in sich hinein baggern, scheitere ich <strong>bei</strong> jedem<br />

Bissen. Mühevolles Gekaue, minutenlanges Grätenselektieren<br />

im vollen Mund, kniggefernes Ausspucken<br />

ebendieses lästig-spitzen Knorpelgedönses.<br />

Meine Freunde hängen schon gesättigt in den Stühlen.<br />

Ich scheitere immer noch daran, dieses mühsame Gerippe<br />

zu sezieren. Mitleidig blickt <strong>der</strong> Ober auf das<br />

Schlachtfeld in meinem Teller. „Es hat geschmeckt“,<br />

murmle ich und decke die zerfled<strong>der</strong>ten Fischbrocken<br />

beschämt mit <strong>der</strong> Serviette zu. Adrian Soller<br />

Katersuppe<br />

G E r I C h T: A A L S U P P E<br />

mit Möhren, Äpfeln, Dörrpflaumen und -birnen, getrockneten<br />

Aprikosten, Bohnen, Porree und Aalfetzen,<br />

und ebenfalls einem Pils<br />

6.90 Euro im old Commercial room<br />

Wenn man in einem so traditionellen Fischrestaurant<br />

wie dem Old Commercial Room <strong>bei</strong>m Michel einkehrt,<br />

sollte man Aalsuppe bestellen. So mein Vorsatz. Wenig<br />

später bringt mir <strong>der</strong> Ober einen Teller mit einer Brühe,<br />

in <strong>der</strong> alles Mögliche schwimmt: Möhren, äpfel, Dörrpflaumen,<br />

Bohnen, Porree und einiges Undefinierbares<br />

mehr. Nur Fisch suche ich fast vergeblich; einzig zwei<br />

winzig kleine Aalfetzen schwimmen traurig umher.<br />

Meine Nachfrage lässt den Ober lächeln: Bei <strong>der</strong> Aalsuppe<br />

handle es sich um ein traditionelles Restverwertungsessen,<br />

sagt er. Mit Fisch habe das nichts zu tun.<br />

Auf <strong>Hamburg</strong>isch bedeute „al“ – mit gedehntem „a“ gesprochen<br />

– nichts an<strong>der</strong>es als „alles“. Touristen beschwerten<br />

sich immer wie<strong>der</strong>, dass in ihrer Aalsuppe<br />

kein Aal sei; drum hätten die Köche, des Erklärens überdrüssig,<br />

irgendwann resigniert und den glitschigen<br />

Fisch ins Rezept aufgenommen.<br />

Obwohl o<strong>der</strong> gerade weil <strong>der</strong> Fisch den Geschmack <strong>der</strong><br />

Suppe nicht prägt, schmeckt diese übrigens vorzüglich.<br />

Süßsauer und ziemlich scharf ist sie. Und sehr nach einer<br />

durchzechten Nacht zu empfehlen. Dennis Bühler<br />

Heißer Brei<br />

G E r I C h T: L A B S K A U S<br />

gepökelte rin<strong>der</strong>brust, zwiebeln, Kartoffeln,<br />

rote Beete, Salzgurke, Pfeffer<br />

14.90 Euro im old Commerical room<br />

Was ist bräunlich, pampig, warm und landet in <strong>Hamburg</strong><br />

oft auf dem Teller? Labskaus! Vor mir liegt ein klebriger<br />

Haufen, bedeckt mit zwei Spiegeleiern, etwas Roter<br />

Beete zur Rechten, Matjes und Salzgurke zur Linken.<br />

Kann so was schmecken? Als Schweizerin in <strong>Hamburg</strong><br />

will ich heute meine helvetischen Geschmacksknospen<br />

mit <strong>der</strong> typisch hamburgischen Küche vertraut machen.<br />

Das Matrosengericht sieht eher aus wie Kin<strong>der</strong>brei,<br />

dem noch hübsch zwei gelb-weiße Augen verpasst wurden,<br />

damit er nicht so langweilig daherkommt. Etwas<br />

zögerlich steuere ich die erste Gabel Richtung Mund.<br />

Der Brei aus Stampfkartoffeln und fein fasriger Rin<strong>der</strong>brust<br />

schmeckt weitaus besser, als er aussieht:<br />

mild, sämig, etwas teigig. Die Beilagen geben <strong>der</strong> braunen<br />

Masse Würze. Was einst auf See mit Hochgenuss<br />

gefeiert wurde, ist auch heute noch beliebt in <strong>Hamburg</strong>.<br />

Der Geschmack hat mich überzeugt – die Konsistenz<br />

bleibt gewöhnungsbedürftig. Laurina Waltersperger<br />

I M P r E S S U M Chefredaktion: Anna Miller, Nicole Wehr CvD: Susanna Andrick Textchef: Sebastian Gänger Art Direction: Katja Schwirkmann redaktion: Susanna<br />

Andrick, Elena Bartels, Caroline Bernhardt, Dennis Bühler, Simona Caminada, Sebastian Gänger, Linda Gerner, Ina Kast, Christina Lachnitt, Adrian Meyer, Maren Meyer, Anna Miller, Constantin Graf<br />

von Pocci, Adrian Soller, Laurina Waltersperger, Philipp Weber, Nicole Wehr, Dominic Wirth Fotografen: Xenia Zarafu, Philipp Reiss, Sonja Och, Philipp Weber, Selim Sudheimer Projektleitung &<br />

V.i.S.d.P: Florian Hanig Kontakt: <strong>Hamburg</strong> <strong>Media</strong> <strong>School</strong>, Finkenau 35, 22081 <strong>Hamburg</strong>, Tel. 040 / 413 468-0, Fax 040 / 413 468-10, www.hamburgmediaschool.com, info@hamburgmediaschool.com

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