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Joschka Fischer Die rot-grünen Jahre | Michael Ondaatje Divisadero ...

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Roman Eine Liebes- und Aidsgeschichte<br />

ist eines der meistdiskutierten Bücher<br />

dieses Herbstes<br />

Intim und in die<br />

Ferne gerückt<br />

PETER PEITSCH<br />

Katja Lange-Müller: Böse Schafe.<br />

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.<br />

205 Seiten, Fr. 30.–.<br />

Von Sieglinde Geisel<br />

Es ist 1987, die Mauer steht noch, und<br />

Aids ist ein Todesurteil. Kaum ein Jahr<br />

ist Soja in Westberlin. Harry ist eine<br />

Zufallsbekanntschaft, doch sie will ihn<br />

um jeden Preis haben – das Wort «Junkie»<br />

hatte sie in der DDR nie gehört.<br />

Was ihr von dieser Liebe in der Erinnerung<br />

bleibt, ist ein «betörend undramatisches<br />

Glück», ein Standbild von zwei<br />

Menschen, die nebeneinander auf der<br />

Matratze liegen. Mehr ist es nicht, denn<br />

kennengelernt hat sie Harry in den knapp<br />

drei <strong>Jahre</strong>n eigentlich kaum. Er entzieht<br />

sich, verschwindet, ist gleichgültig und<br />

egozentrisch, hat Geheimnisse. Er sei<br />

einer der «guten Bösen», so liest Soja es<br />

nach seinem Tod in seinem Notizbuch.<br />

<strong>Die</strong> guten Bösen unterscheiden sich von<br />

den bösen Bösen darin, dass sie nicht<br />

mehr einander Gewalt antun, sondern<br />

nur noch sich selbst. Der HIV-positive<br />

Harry schützt Soja vor Ansteckung,<br />

indem er sie beim Sex jeweils rechtzeitig<br />

«von der Palme holt», wie er es<br />

ausdrückt.<br />

Eine Amour fou, die nicht gut ausgeht<br />

und von deren Glück sich Soja<br />

nicht mehr erholt. Doch Lange-Müller<br />

schreibt keine traurigen Bücher. Harrys<br />

gekerbtes Kinn sieht aus «wie ein stoppliger<br />

Babypopo», Sojas toupierte Frisur<br />

«wie ein gefrorener Ameisenhaufen».<br />

Nicht immer haut der Sprachwitz hin.<br />

«Ich ging jedoch nicht rauchen, sondern<br />

im Zimmer umher», solche Manierismen<br />

häufen sich. Hinreissend sind dagegen<br />

die Sexszenen. Der Sex selbst mag<br />

schiefgehen, doch Katja Lange-Müller<br />

macht daraus ein sprachliches Kleinod<br />

an Zärtlichkeit und Komik.<br />

Was einen beim Lesen gefangen<br />

nimmt, ist nicht nur diese seltsame<br />

Liebe, sondern die sprachliche Form.<br />

Denn Soja erzählt ihre Geschichte nicht<br />

uns, sondern dem toten Harry, und<br />

zwar tut sie dies in strengem Imperfekt<br />

und über weite Strecken in der zweiten<br />

Person. «Du warst [. . .] permanent<br />

müde, döstest vor dich<br />

hin, lasest keine Fantasy-<br />

Romane, hörtest nicht The<br />

Doors, sprachst kaum.»<br />

Eine seltene Verbform,<br />

die den Text auf sanfte<br />

Weise verfremdet. <strong>Die</strong><br />

Intimität der Zwiesprache<br />

wird vom erhabenen<br />

Imperfekt sogleich<br />

in die Ferne gerückt<br />

– diese paradoxe Wirkung<br />

trägt den ganzen<br />

Roman. �<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

Bernadette Calonego: Unter dunklen<br />

Wassern. Kriminalroman. Bloomsbury,<br />

Berlin 2007. 381 Seiten, Fr. 35.40.<br />

<strong>Die</strong> gebürtige Stanserin Bernadette<br />

Calonego, seit <strong>Jahre</strong>n freie Auslandkorrespondentin<br />

an der Westküste Kanadas,<br />

überrascht erneut mit einer ungewöhnlichen<br />

Ermittler-Figur. Im Début<br />

«Nutze deine Feinde» war es eine Event-<br />

Managerin, die mysteriöse Todesfälle<br />

aufklärte. In «Unter dunklen Wassern»<br />

lässt Calonego die 33-jährige Historikerin<br />

Sonja Werner ermitteln. <strong>Die</strong>se ist in<br />

British Columbia auf Recherche für eine<br />

Ausstellung über die dichterisch ambitionierte<br />

Deutsche Else Seel, die in den<br />

zwanziger <strong>Jahre</strong>n von Berlin in die kanadische<br />

Pampa emigrierte, um dort einen<br />

ihr unbekannten Tramper zu heiraten.<br />

Dabei verfolgt Werner auch ein anderes<br />

Ziel: den Tod ihres Mannes aufzuklären.<br />

An manchen Stellen wünscht man sich<br />

etwas weniger Einfühlungsprosa, doch<br />

gewinnt Calonego die Leserin mit Thrill<br />

und süffiger Schreibe.<br />

Regula Freuler<br />

Jurek Becker: Mein Vater, die Deutschen<br />

und ich. Aufsätze, Vorträge, Interviews.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 2007. 326 S., Fr. 34.30.<br />

Der deutsche Erzähler und Drehbuchautor<br />

Jurek Becker (1937–1997) stammte<br />

aus dem polnischen Lodz, überlebte als<br />

Kind Ghetto und Konzentrationslager<br />

und kam 1945 mit seinem Vater nach<br />

Ostberlin, wo er bis 1977 blieb. Hier<br />

gelangte er als Schriftsteller zu Ruhm,<br />

siedelte dann aber nach Westberlin über.<br />

Sein Erstling, «Jakob der Lügner», blieb<br />

der beste seiner insgesamt sieben Romane.<br />

Becker war ein unprätentiöser, aber<br />

exakter und anschaulicher, dem mündlichen<br />

Sprachfluss verpflichteter Erzähler<br />

– und zudem ein wacher politischer<br />

Kopf. Davon zeugen seine Poetikvorlesungen,<br />

seine Aufsätze, Vorträge und<br />

Interviews, so etwa der Schlüsseltext<br />

«Mein Judentum». Eine erste Auswahl<br />

dieser kleinen Schriften erschien 1996<br />

im Band «Ende des Grössenwahns»;<br />

Christine Becker, die Witwe des Autors,<br />

legt nun eine massgeblich erweiterte<br />

Sammlung der stets konkreten, undogmatischen<br />

und deshalb nach wie vor<br />

höchst lesenswerten Texte vor.<br />

Manfred Papst<br />

Adolf Endler: Krähenüberkrächzte<br />

Rolltreppe. 79 kurze Gedichte. Wallstein,<br />

Göttingen 2007. 90 Seiten, Fr. 29.50.<br />

Adolf Endler, nach eigenem Bekunden<br />

«eine der verwachsensten Gurken der<br />

neuen Poesie», wurde 1930 in Düsseldorf<br />

geboren und siedelte als begeisterter<br />

Jungkommunist 1955 in die DDR<br />

über. <strong>Die</strong> Euphorie währte nicht lange.<br />

Von den sechziger <strong>Jahre</strong>n an kommentierte<br />

Endler den real existierenden<br />

Sozialismus in kauzigen Gedichten und<br />

borstiger Prosa; bald konnte er nur noch<br />

im Untergrund und im Westen publizieren.<br />

Der wortmächtige Sonderling<br />

vom Prenzlauer Berg brachte 1999 bei<br />

Suhrkamp eine üppige Auswahl seiner<br />

Lyrik unter dem Titel «Der Pudding<br />

der Apokalypse» heraus; nun legt er bei<br />

Wallstein einen Band mit kurzen Gedichten<br />

aus fünfzig <strong>Jahre</strong>n nach. <strong>Die</strong> beiden<br />

Bücher überschneiden sich nicht. Hier<br />

zeigt sich Endler von einer ungewohnten<br />

Seite: als lakonischer Melancholiker von<br />

trockenem Humor.<br />

Manfred Papst<br />

Do<strong>rot</strong>a Masłowska: <strong>Die</strong> Reiherkönigin.<br />

Ein Rap. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.<br />

191 Seiten, Fr. 18.20.<br />

Ein Taschenbuch für Fans von Poetry-<br />

Slams und Spoken-Word-Anlässen:<br />

<strong>Die</strong> 24-jährige polnische Schriftstellerin<br />

Do<strong>rot</strong>a Masłowska nimmt in ihrem<br />

preisgekrönten Zweitling kein Blatt vor<br />

die freche Schnauze. Aber was für eine<br />

poetische Schnauze das ist! Im Singsang<br />

reimt sie einen Kraftausdruck auf<br />

den anderen, bringt das Leben im ehemaligen,<br />

immer noch tristen Osten auf<br />

Punkt und Komma: «Alle leben in der<br />

Platte, steh’n beim Amt auf der Matte,<br />

die Jugend hat Angst, zur Schule zu<br />

gehen, weil andere Kinder ihnen das<br />

Geld abziehen.» <strong>Die</strong> Geschichte dreht<br />

sich lose um den Popsänger Stan Retro,<br />

dem Karriere und Liebe den Bach runtergehen.<br />

Masłowska, die mit ihrem<br />

Début «Schneeweiss und Russen<strong>rot</strong>»<br />

zu Polens Literatur-Shootingstar wurde,<br />

schreibt über die Warschauer Musikszene,<br />

Alkohol, Betrug, Freundschaft und<br />

den ganz gewöhnlichen Überlebenskampf.<br />

Ein Kränzchen winden wir Olaf<br />

Kühls kraftvoller Übersetzung.<br />

Regula Freuler<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 9

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