Joschka Fischer Die rot-grünen Jahre | Michael Ondaatje Divisadero ...
Joschka Fischer Die rot-grünen Jahre | Michael Ondaatje Divisadero ...
Joschka Fischer Die rot-grünen Jahre | Michael Ondaatje Divisadero ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Bundesratswahlen Der frühere Aargauer SP-Nationalrat Silvio Bircher beschreibt die Abwahl von<br />
Ruth Metzler und die Wahl Christoph Blochers in die Landesregierung 2003<br />
«Parteipolitisierung» im Bundesrat<br />
Silvio Bircher: Wahlkarussell Bundeshaus.<br />
Umstrittene Bundesratswahlen<br />
und Schweizer Politik. AT-Verlag,<br />
Baden 2007. 206 Seiten, Fr. 29.90.<br />
Von Urs Altermatt<br />
«Parlamentswahlen sind auch Bundesratswahlen<br />
geworden.» So steht es im vorliegenden<br />
Buch, das der zweiundsechzigjährige<br />
Aargauer SP-Politiker Silvio Bircher<br />
nach einer dreissigjährigen Laufbahn als<br />
Grossrat, Nationalrat und Regierungsrat<br />
verfasst hat. In Europa sind Regierungsbildungen<br />
ein Abbild der Wahlen und<br />
der nachfolgenden, zum Teil langwierigen<br />
Koalitionsverhandlungen. Insofern<br />
beginnt sich die Schweiz auch in dieser<br />
Beziehung zu europäisieren, wobei sie<br />
die rapide Entwicklung in diese Richtung<br />
paradoxerweise jener Partei verdankt, die<br />
sonst den «Sonderfall Schweiz» bei jeder<br />
Gelegenheit betont.<br />
Nach der Einführung des Proporzwahlrechts<br />
musste die Sozialdemokratie ein<br />
Vierteljahrhundert warten, bis sie 1943<br />
einen und 1959 dank einer Allianz mit den<br />
Christlichdemokraten einen zweiten Sitz<br />
in der Landesregierung erhielt. Für die<br />
Integration der SP in den Bundesrat war<br />
die inhaltliche Konkordanz und nicht der<br />
arithmetische Proporz massgebend. <strong>Die</strong><br />
SP hatte ihr Bekenntnis zur proletarischen<br />
Weltrevolution aufgegeben und die militärische<br />
Landesverteidigung anerkannt.<br />
Bircher beschreibt ausführlich die spannende<br />
Wahl von Christoph Blocher. Nach<br />
den eidgenössischen Wahlen von 2003<br />
warf eine knappe Parlamentsmehrheit<br />
die christlichdemokratische Bundesrätin<br />
Ruth Metzler kurz vor ihrem Präsidialjahr<br />
aus dem Amt. <strong>Die</strong> Parteistrategen der SVP<br />
und der FDP beriefen sich auf die Wahlarithmetik<br />
und gingen kaltschnäuzig über<br />
die von Sozial- und Christlichdemokraten<br />
vorgebrachten Argumente der inhaltlichen<br />
Konkordanz hinweg. In einem Kommentar<br />
nannte ich damals die Abwahl der<br />
Vizepräsidentin Metzler einen «Tabubruch»,<br />
der Folgen habe – indem künftig<br />
auch anderen Bundesräten das gleiche<br />
Schicksal drohen könne.<br />
Wie nie zuvor bei Nationalratswahlen<br />
– dies hebt Silvio Bircher hervor – stehen<br />
die Bundesräte im Zentrum einer eigentlichen<br />
Marketing-Wahlschlacht, die die<br />
SVP zu einem Plebiszit für oder gegen<br />
Christoph Blocher umfunktionierte. 2003<br />
wollte der Freisinn den Volkstribun Blocher<br />
durch den Einbezug in die Landesregierung<br />
bändigen, stattdessen revolutionierte<br />
dieser nicht nur den Stil der<br />
schweizerischen Politik, sondern auch die<br />
eidgenössischen Wahlen.<br />
Der ehemalige Chefredaktor des so -<br />
zialdemokratischen «Freien Aargauers»<br />
beschreibt den Wandel des politischen<br />
Systems in unaufgeregtem Ton und lässt<br />
die Geschichte der «Zauberformel» detailreich<br />
Revue passieren. Im Unterschied zu<br />
andern Autoren vermittelt Silvio Bircher<br />
wenig Klatsch und Tratsch, wenn er auch<br />
der Personalisierung seinen Tribut leistet<br />
und in die Darstellung des politischen<br />
Systems Porträts der sieben Bundesrätinnen<br />
und Bundesräte einstreut. Wer für<br />
die «Parteipolitisierung» des Bundesrates<br />
Belege sucht, findet zahlreiche Beispiele.<br />
Wirklich spannend ist das Buch dennoch<br />
nicht geworden, denn der Politiker Bircher<br />
schlängelt sich um die Grundfrage herum,<br />
ob die Zusammensetzung des Bundesrates<br />
einer blossen Proporzrechnung folgen<br />
soll oder die Konkordanz gerade eine<br />
inhaltliche Übereinstimmung in den politischen<br />
Grundfragen voraussetzt. �<br />
Urs Altermatt ist Professor für<br />
Zeitgeschichte an der Uni Freiburg.<br />
Überwachung Ein Pamphlet von Wolfgang Sofsky – brillant geschrieben, antiquiert im Inhalt<br />
<strong>Die</strong> Zitadelle der Freiheit<br />
Wolfgang Sofsky: Verteidigung des<br />
Privaten. Eine Streitschrift. C. H. Beck,<br />
München 2007. 158 Seiten, Fr. 26.80.<br />
Von Thomas Köster<br />
Wolfgang Sofsky ist ein grimmiger Hüter<br />
des Privaten. In seiner neuen Streitschrift<br />
hat sich der Göttinger Soziologe, mit<br />
dem blendenden Panzer seiner Sprache<br />
gerüstet, auf den Wehrturm gestellt, den<br />
er die «Zitadelle der persönlichen Freiheit»<br />
nennt. Es gilt, das Bollwerk von all<br />
jenem, was kein Fremder sehen, hören,<br />
wissen soll, gegen die allgegenwärtige<br />
Bedrohung von draussen zu beschützen.<br />
«Recht so, Herr Sofsky!», möchte der<br />
Leser zu dieser «Verteidigung des Privaten»<br />
rufen. In einer Zeit, in der Politiker<br />
die Online-Durchsuchung von privaten<br />
Computern als präventives Mittel gegen<br />
Terror verkaufen und E-Mails einen<br />
Umweg über weltweit vernetzte Server<br />
nehmen, die von ausländischen Geheimdiensten<br />
bespitzelt werden, scheint die<br />
Privatsphäre mehr denn je bedroht.<br />
YOSHIKO KUSANO / KEYSTONE<br />
Am Tag der Abwahl:<br />
Bundesrätin Ruth<br />
Metzler, 10. 12. 2003.<br />
Dass dem Leser der spontane<br />
Zuspruch zu Sofskys Thesen dann aber<br />
doch im Hals stecken bleibt, liegt an der<br />
Methode, aber auch am Inhalt des Pamphlets.<br />
Denn der Soziologe argumentiert<br />
weitgehend ohne aktuellen Bezug<br />
und derart polemisch, dass selbst der<br />
demokratischste Sozialstaat im Lichte<br />
martialischer Metaphern wie ein totalitaristisches<br />
Regime erscheint.<br />
«Fern jedes moralischen Anspruchs<br />
kennt die Entwicklung des Staates nur<br />
eine Richtung: Vorwärts in der Entmündigung<br />
und Enteignung der Bürger!»,<br />
schreibt Sofsky – und vergisst in<br />
seinem Zorn auf Steuereintreiber und<br />
Sicherheitsfanatiker, dass die Gefahr,<br />
von Firmen übers Internet, über Kredit-<br />
und Kundenkarten ausspioniert zu<br />
werden, heute schon viel realer ist. «Der<br />
gemeine Untertan wird ohne sein Wissen<br />
und gegen seinen Willen belauscht<br />
und beobachtet», steht da. Dabei muss<br />
man nur eine Talkshow im Privatfernsehen<br />
schauen oder in der Bahn mit einem<br />
jener unzähligen Handygespräche konfrontiert<br />
werden, in denen Mitreisende<br />
ihr Intimstes nach aussen kehren, um<br />
zu begreifen, dass dem grossen Bruder<br />
allzu viele Türen freiwillig geöffnet werden<br />
und die «Zitadelle» des Privaten in<br />
dieser Form längst nicht mehr existiert.<br />
Sofsky scheint dies zu merken und<br />
geht dem Problem aus dem Weg, indem<br />
er als Umfriedung des privaten Bollwerks<br />
nicht einmal mehr das soziale<br />
Band der Freunde und Familie fasst,<br />
sondern nur noch Hirn und Haut des<br />
Individuums. Konsequenterweise endet<br />
die Verteidigung des Privaten mit einem<br />
Kapitel über die Gedankenfreiheit. Nur<br />
die Gedanken sind frei, sagt Sofsky – und<br />
auch nur so lange, bis wir beginnen, sie<br />
mitzuteilen. Sein staatspolitisch radikaler<br />
Liberalismus mündet in asoziale Isolation.<br />
Eine Alternative ist das nicht.<br />
So wirkt diese Streitschrift t<strong>rot</strong>z ihrer<br />
politischen Brisanz seltsam abstrakt und<br />
antiquiert. Was an Wahrem zur alltäglichen<br />
Überwachung und Manipulation<br />
durch Staat, Medien, Gesellschaft und<br />
Religion gesagt wird, haben auch andere<br />
schon gesagt. Vielleicht nicht so schön<br />
und so suggestiv wie Sofsky. �<br />
4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 25