Joschka Fischer Die rot-grünen Jahre | Michael Ondaatje Divisadero ...
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GAËTAN BALLY / KEYSTONE<br />
Kolumne<br />
Charles Lewinskys Zitatenlese<br />
Charles Lewinsky,<br />
61, ist Schriftsteller,<br />
Radio- und TV-Autor<br />
und lebt in Frankreich.<br />
Sein Roman<br />
«Melnitz» (2006)<br />
wurde zum Bestseller.<br />
Entweder sie kaufen<br />
ein Buch und lesen<br />
es nicht. Oder sie<br />
leihen ein Buch und<br />
geben es nicht wieder und lesen es<br />
auch nicht. Oder sie geben es wieder<br />
und haben es nicht gelesen.<br />
Irmgard Keun<br />
Es soll hier nicht von allen Büchern<br />
die Rede sein, die kein Mensch liest.<br />
Davon gibt es wohl mehr, als wir<br />
Autoren uns gern eingestehen. Sondern<br />
nur von denen, über die man sich<br />
in ungelesener Weise fachmännisch<br />
äussert.<br />
In diesem von der Literaturwissenschaft<br />
sträflich vernachlässigten<br />
Forschungsbereich unterscheiden wir<br />
drei Untergruppen:<br />
Das gesellschaftliche Nichtlesen.<br />
Eine sehr nette Bekannte fühlte sich<br />
einmal der Höflichkeit halber verpflichtet,<br />
mir zu sagen, wie gut ihr<br />
doch einer meiner Romane gefallen<br />
habe. Ich fragte sie nach einer<br />
bestimmten Figur, und – o Wunder!<br />
– gerade dieser Charakter hatte ihr<br />
ganz besonderes Lesevergnügen bereitet.<br />
Obwohl die Figur in dem Buch gar<br />
nicht vorkam.<br />
<strong>Die</strong>se Art des Nichtlesens erwächst<br />
aus lobenswerter Absicht und erfreut<br />
den Autor zusätzlich, wenn sie mit<br />
dem tantiementrächtigen Kauf eines<br />
Buches (vorzugsweise Hardcover)<br />
verbunden ist.<br />
Das gebildete Nichtlesen.<br />
«Ulysses», «A la recherche du temps<br />
perdu» und «Der Mann ohne Eigenschaften».<br />
Im kulturelitären Diskurs<br />
ist es fast schon Verpflichtung,<br />
zumindest einmal pro Gespräch oder<br />
Kritik eines dieser drei Werke als<br />
Vergleichsgrösse anzuführen. Dabei<br />
spielt es keine Rolle, wenn man von<br />
den drei Büchern nicht mehr weiss,<br />
als dass in dem einen furchtbar komplizierte<br />
Wortspiele gemacht und in<br />
dem andern Madeleines gegessen<br />
werden (was immer das sein mag).<br />
Ach ja, und natürlich, dass Robert<br />
Musil kein österreichischer Fussballer<br />
ist. Ich habe bisher noch niemanden<br />
getroffen, der alle drei Bücher wirklich<br />
gelesen hätte. Aber sie machen sich im<br />
Gespräch ebenso gut wie im Regal.<br />
Das journalistische Nichtlesen.<br />
Es gibt Bücher, über die kann man<br />
als Journalist schreiben – und als<br />
Zeitungsleser fachkundig mitreden<br />
–, obwohl man nicht mehr von ihnen<br />
kennt als einen einzelnen Kernsatz.<br />
Und den hat wahrscheinlich ein Journalistenkollege<br />
aus dem Klappentext<br />
zitiert. Eva Hermans Bücher gehören<br />
zu dieser Kategorie. Niemand liest sie,<br />
aber jeder weiss, dass darin die Forderung<br />
aufgestellt wird: «Frauen zurück<br />
an den Herd!»<br />
Aber vielleicht muss man solche<br />
Bücher wirklich nicht<br />
lesen. Sonst ist man dann<br />
hinterher auf der Suche<br />
nach der eigenen verlorenen<br />
Zeit.<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
Heidi Witzig: Wie kluge Frauen alt<br />
werden. Was sie tun und was sie lassen.<br />
Xanthippe, Zürich 2007. 320 Seiten, Fr. 34.–.<br />
Ob der feministische Impetus, der seit<br />
den siebziger <strong>Jahre</strong>n positive Frauenbilder<br />
propagiert, nun auch positive<br />
Altersbilder für Frauen hergibt? Das war<br />
die Ausgangsfrage für die Historikern<br />
Heidi Witzig, um Frauen in der dritten<br />
Lebensphase zu porträtieren, die beruflich<br />
aktiv waren und sich gegen patriarchalische<br />
Einschränkungen gewehrt<br />
hatten. Zusammengekommen sind 10<br />
feministisch engagierte Frauen mit Jahrgängen<br />
von 1917 bis 1944, die in der<br />
Schweiz leben, darunter Marthe Gosteli<br />
vom Archiv für Frauengeschichte, die<br />
Psychologin Julia Onken, die Basler Professorin<br />
Regina Wecker. <strong>Die</strong> selbstbewusst-lebensklugen,<br />
manchmal kämpferischen<br />
Interviews hat die Autorin nach<br />
Themen gebündelt: Beruf, Pensionierung,<br />
Geld, Beziehungen, Alter. Das ist<br />
etwas viel auf einmal – und vibriert doch<br />
mit weiblichem Mut, aktiver Lebensgestaltung<br />
und Selbstreflexion.<br />
Kathrin Meier-Rust<br />
Heiko Haumann (Hrsg.): <strong>Die</strong> Russische<br />
Revolution 1917. Studienbuch. Böhlau,<br />
Köln 2007. 182 Seiten, Fr. 23.–.<br />
<strong>Die</strong> Aufsatzsammlung von Heiko Haumann,<br />
Professor für Osteuropäische<br />
Geschichte an der Universität Basel,<br />
und seinem Team rückt einfache Teilnehmer<br />
der russischen Revolution<br />
und deren Lebenswelten ins Zentrum.<br />
Geschildert werden die Prägung im Exil<br />
– unter anderem in der Schweiz –, die<br />
revolutionären Ereignisse in Dörfern<br />
und an der Peripherie, auch aus Sicht<br />
eines Schweizer Reisenden (Hans Limbach).<br />
<strong>Die</strong> Autoren erörtern die Folgen<br />
der Umsturzes: Sozialismus, Gegenrevolution,<br />
Stalinismus, ebenso wie<br />
die Utopie vom neuen Menschen. Erst<br />
gegen Schluss verlässt Haumann die<br />
weitgehend historisierende Bilanzierung<br />
des Jahrhundertereignisses und<br />
wirft, etwas zögerlich, die Frage auf, ob<br />
die russische Revolution nicht als «Irrweg<br />
der Geschichte» abzulegen sei. Eine<br />
Zeittafel, ein Glossar, ein Personen- und<br />
ein Sachwortregister runden den handlichen<br />
Studienband ab.<br />
Urs Rauber<br />
Roderich Ptak: <strong>Die</strong> maritime Seidenstrasse.<br />
C. H. Beck, München 2007.<br />
368 Seiten, Fr. 43.70.<br />
Als Kolumbus sich im 15. Jahrhundert<br />
aufmachte, den Seeweg nach Indien zu<br />
entdecken, war er spät dran. Araber,<br />
Inder und vor allem Chinesen schipperten<br />
damals schon längst auf den Meeren<br />
zwischen Ostafrika, Indien, Japan und<br />
China. China galt in Asien als Grossmacht<br />
und beherrschte das, was der<br />
Sinologe Roderich Ptak die «maritime<br />
Seidenstrasse» nennt. Ptak beschreibt<br />
die Entwicklung der erfolgreichen asiatischen<br />
Seefahrt von ihren Anfängen,<br />
das heisst von den chinesischen Qin<br />
und Han im 3. Jahrhundert v. Chr., bis<br />
ins 16. Jahrhundert und eröffnet so völlig<br />
neue Perspektiven auf ein bis anhin<br />
– mindestens in Europa – vernachlässigtes<br />
Geschichtskapitel. In China hingegen<br />
erinnert man sich mit Stolz und<br />
neuem Selbstbewusstsein an diese Epoche,<br />
an die es heute anzuknüpfen gilt.<br />
Das Thema entbehrt damit nicht einer<br />
gewissen Aktualität.<br />
Geneviève Lüscher<br />
Harald Bergsdorf: <strong>Die</strong> neue NPD.<br />
Antidemokraten im Aufwind. Olzog,<br />
München 2007. 160 Seiten, Fr. 25.90.<br />
<strong>Die</strong> Nationaldemokratische Partei<br />
Deutschlands (NPD) gibt es als rechtsextremistische<br />
Splittergruppe schon<br />
seit 1964. Doch erst seit Udo Voigt, ein<br />
ehemaliger Hauptmann der Bundeswehr<br />
und Politologe, 1996 ihre Führung<br />
übernommen hat, hat sie sich zu einer<br />
aggressiven antikapitalistischen Kraft<br />
entwickeln können, die in zwei Parlamenten<br />
(Sachsen und Mecklenburg-<br />
Vorpommern) Einzug gehalten hat. Dass<br />
die Rechtspopulisten Deutschlands<br />
t<strong>rot</strong>zdem – im Vergleich zu Frankreich,<br />
Italien, Österreich und der Schweiz<br />
– geradezu marginal sind, warum man<br />
ihren dreisten Halbwahrheiten nicht<br />
mit Hysterie, sondern mit Argumenten<br />
entgegentreten sollte, gerade auch im<br />
Fernsehen, das erklärt der Bonner Politikwissenschafter<br />
Harald Bergsdorf in<br />
seiner wohltuend nüchternen und gut<br />
lesbaren Darstellung der Geschichte,<br />
Strategie, Ideologie und jüngsten Erfolge<br />
der NPD.<br />
Kathrin Meier-Rust<br />
4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 15