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Joschka Fischer Die rot-grünen Jahre | Michael Ondaatje Divisadero ...

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hatten die Bolschewiken die öffentlichen und<br />

privaten Institutionen ihres Landes so durchgreifend<br />

verändert, dass es unmöglich wurde,<br />

das Rad zurückzudrehen.<br />

Sie waren dabei so erfolgreich, dass vieles<br />

von dem, was heute in Russland passiert, immer<br />

noch dem Umbau der Gesellschaft zuzuschreiben<br />

ist, den Lenin 1917 begonnen hatte. Sogar<br />

im Russland von heute – über 15 <strong>Jahre</strong> nach dem<br />

Zusammenbruch der Sowjetunion von 1991 – ist<br />

das intellektuelle und kulturelle Erbe der Oktoberrevolution<br />

noch aussergewöhnlich stark. <strong>Die</strong><br />

Verdächtigung von Menschen und Organisationen,<br />

die nicht eindeutig mit dem Staat verbunden<br />

sind, das Desinteresse für Meinungsfreiheit<br />

und freie Presse, die Verachtung für Privatbesitz<br />

und für den Rechtsstaat, die paranoide Haltung<br />

gegenüber Ausländern und ausländischen<br />

Spionen: All diese Dinge sind seit den ersten<br />

umkämpften Tagen der Revolution nicht mehr<br />

zu trennen vom russischen Nationalbewusstsein,<br />

und sie sind immer noch da.<br />

Natürlich kann man argumentieren, dass<br />

einige dieser Elemente der nationalen Psychologie<br />

älter sind als die Revolution. Aber Lenin<br />

hat sie breiter und tiefer verankert. Stalin hat<br />

sie mit Terror durchgesetzt. Und nun gebraucht<br />

Wladimir Putin Geld und Propaganda, um sie in<br />

einem modernen, postsowjetischen Kontext am<br />

Leben zu erhalten.<br />

Das «Doublethink»-Prinzip<br />

<strong>Die</strong> Revolution schuf in der Sowjetunion eine<br />

Kulturform, die beispiellos ist. Ich habe bisher<br />

zwei Bücher geschrieben über die kommunistische<br />

Welt und arbeite nun an einem dritten.<br />

Das hat mir die Möglichkeit gegeben, mit vielen<br />

Menschen zu sprechen, die auf allen Ebenen der<br />

sowjetischen Gesellschaft gelebt und gearbeitet<br />

haben. Sie alle, ob sie nun früher Dissidenten,<br />

Häftlinge oder Beamte waren, beschreiben<br />

eine Gesellschaft, die von einer bizarren Dualität<br />

beherrscht wird. Auf der einen Seite eine<br />

Wirtschaft, die kaum funktionierte, mit leeren<br />

Läden und alten Frauen, die zu arm waren,<br />

um ihr Zimmer zu heizen. Auf der anderen<br />

Spruchbänder, die den Triumph des Sozialismus<br />

verkündeten und die «heroischen Errungenschaften<br />

des sowjetischen Vaterlandes».<br />

Wer nicht einverstanden war, wurde verhaftet.<br />

Und die Leute akzeptierten die Propaganda, aus<br />

Angst, aus Apathie und auch weil sie glaubten,<br />

sie würde irgendwann wahr werden.<br />

Auch dieses «Doublethink», wie es George<br />

Orwell genannt hatte – dass man zwei sich ausschliessende<br />

Ansichten miteinander vereinbaren<br />

kann –, war bereits in den frühesten Tagen<br />

der Revolution etabliert worden. <strong>Die</strong> Bolschewiken<br />

fühlten sich gezwungen, sofort den<br />

Sieg des Proletariats zu verkünden, obwohl<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 13

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