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Joschka Fischer Die rot-grünen Jahre | Michael Ondaatje Divisadero ...

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4. November 2007<br />

<strong>Joschka</strong> <strong>Fischer</strong> <strong>Die</strong> <strong>rot</strong>-<strong>grünen</strong> <strong>Jahre</strong> | <strong>Michael</strong> <strong>Ondaatje</strong> <strong>Divisadero</strong> |<br />

Anne Applebaum Essay über die russische Revolution und westliche<br />

Intellektuelle | Paul Stauffer bespricht die neue Saly-Mayer-Biografie |<br />

Rezensionen von Ralph Dutli, Angelika Overath, Urs Altermatt und vielen<br />

anderen | Charles Lewinsky Meine Zitatenlese


Inhalt<br />

<strong>Jahre</strong>stage sind<br />

Geburtstage<br />

der Geschichte<br />

4. November 2007<br />

�������������������� <strong>Die</strong> <strong>rot</strong>-<strong>grünen</strong> <strong>Jahre</strong> | ���������������� <strong>Divisadero</strong> |<br />

�������������� Essay über die russische Revolution und westliche<br />

Intellektuelle | Paul Stauffer bespricht die neue ���������������������|<br />

Rezensionen von Ralph Dutli, Angelika Overath, Urs Altermatt und vielen<br />

anderen | ���������������� Meine Zitatenlese<br />

<strong>Joschka</strong> <strong>Fischer</strong><br />

(Seite 18).<br />

Illustration von<br />

André Carrilho<br />

Belletristik<br />

4 <strong>Michael</strong> <strong>Ondaatje</strong>: <strong>Divisadero</strong><br />

Von Judith Kuckart<br />

6 Warlam Schalamow: Durch den Schnee<br />

Manfred Sapper, Volker Weichsel,<br />

Andrea Huterer: Das Lager schreiben<br />

Von Ralph Dutli<br />

7 Regina Ullmann: <strong>Die</strong> Landstrasse<br />

Von <strong>Michael</strong> Braun<br />

Uta Grosenick und Caspar H.Schübbe:<br />

China Artbook<br />

Von Gerhard Mack<br />

8 <strong>Michael</strong> Lentz: Pazifik Exil<br />

Von Paul Jandl<br />

9 Katja Lange-Müller: Böse Schafe<br />

Von Sieglinde Geisel<br />

10 Khaled Hosseini: Tausend strahlende Sonnen<br />

Von Susanne Schanda<br />

Zoe Ferraris: <strong>Die</strong> letzte Sure<br />

Von Pia Horlacher<br />

11 Annemarie Schwarzenbach: Lorenz Saladin<br />

Von Angelika Overath<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

9 Bernadette Calonego: Unter dunklen Wassern<br />

Von Regula Freuler<br />

Adolf Endler: Krähenüberkrächzte Rolltreppe<br />

Von Manfred Papst<br />

Jurek Becker: Mein Vater, die Deutschen<br />

und ich<br />

Von Manfred Papst<br />

Do<strong>rot</strong>a Masłowska: <strong>Die</strong> Reiherkönigin<br />

Von Regula Freuler<br />

Essay<br />

12 Propaganda und Realität<br />

Von Anne Applebaum<br />

Kolumne<br />

15 Charles Lewinsky<br />

Das Zitat von Irmgard Keun<br />

<strong>Jahre</strong>stage sind Geburtstage der Geschichte. Sie dienen der Vergegenwärtigung<br />

historischer Prozesse. Am 7.November jährt sich zum<br />

90.Mal der Beginn der russischen Revolution. <strong>Die</strong> amerikanische<br />

Historikerin Anne Applebaum nimmt für uns das Ereignis von 1917<br />

zum Anlass, die doppelzüngige Haltung der Bolschewiken und ihrer<br />

intellektuellen Sympathisanten im Westen zu analysieren. Dezidiert<br />

ruft die Pulitzer-Preisträgerin zu wissenschaftlicher und politischer<br />

Redlichkeit auf – nicht nur gegenüber geschichtlichen Fakten, sondern<br />

auch gegenüber der Demokratie-Scheinheiligkeit Putins und anderer<br />

Machthaber. Lesen Sie dazu Applebaums Essay (Seite 12).<br />

Dass sich in Sowjetrussland statt der versprochenen rosigen Zukunft<br />

ein Abgrund von Terror, Zwangsarbeit und Tod auftat, zeigt das im<br />

Westen noch kaum bekannte Werk von Warlam Schalamow. Ralph Dutli<br />

stellt den literarischen Antipoden Solschenizyns vor (Seite 6).<br />

Zu den in der Schweiz vergessenen Persönlichkeiten gehört auch der<br />

St.Galler Kaufmann Saly Mayer. Paul Stauffer rezensiert die Biografie<br />

dieses Präsidenten der Schweizer Juden, der in schwieriger Zeit mit<br />

der vielgeschmähten Fremdenpolizei zusammengearbeitet und später<br />

1700 KZ-Häftlinge gerettet hat (Seite 16).<br />

Wir wünschen eine interessante, erkenntnisreiche Lektüre. Urs Rauber<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

15 Heidi Witzig: Wie kluge Frauen alt werden<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

Roderich Ptak: <strong>Die</strong> maritime Seidenstrasse<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Heiko Haumann: <strong>Die</strong> Russische Revolution<br />

1917<br />

Von Urs Rauber<br />

Harald Bergsdorf: <strong>Die</strong> neue NPD<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

Sachbuch<br />

16 Hanna Zweig-Strauss: Saly Mayer, 1882–1950<br />

Von Paul Stauffer<br />

18 <strong>Joschka</strong> <strong>Fischer</strong>: <strong>Die</strong> <strong>rot</strong>-<strong>grünen</strong> <strong>Jahre</strong><br />

Jürgen Schreiber: Meine <strong>Jahre</strong> mit <strong>Joschka</strong><br />

Von Gerd Kolbe<br />

19 Willi Winkler: <strong>Die</strong> Geschichte der RAF<br />

Von Heribert Seifert<br />

Peter Zihlmann: Dr. Guido A.Zäch<br />

Von Markus Häfliger<br />

20 Paul Widmer: <strong>Die</strong> Schweiz als Sonderfall<br />

Von Urs Rauber<br />

21 Amin Jaffer: Made for Maharajas<br />

Von Jost Auf der Maur<br />

22 Adam Hochschild: Sprengt die Ketten<br />

Von Ina Boesch<br />

AP<br />

Anne Applebaum, Historikerin und Publizistin.<br />

23 Rolf Meier: Briefe aus Abessinien<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Eberhard Rathgeb: Schwieriges Glück<br />

Von Daniel Puntas Bernet<br />

24 Anonymus: Wohin mit Vater?<br />

Christine Eichel: <strong>Die</strong> Liebespflicht<br />

Cyrille Offermans: Warum sollte ich meine<br />

demente Mutter belügen?<br />

Von Simone von Büren<br />

25 Silvio Bircher: Wahlkarussell Bundeshaus<br />

Von Urs Altermatt<br />

Wolfgang Sofsky: Verteidigung des Privaten<br />

Von Thomas Köster<br />

26 Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne<br />

Stimmrecht<br />

Von Tobias Kaestli<br />

Das amerikanische Buch: Journals 1952–<br />

2000 von Arthur M.Schlesinger<br />

Von Andreas Mink<br />

Agenda<br />

27 Yann-Brice Dherbier: Maria Callas<br />

Von Manfred Papst<br />

Bestseller November 2007<br />

Belletristik und Sachbuch<br />

Agenda November 2007<br />

Veranstaltungshinweise<br />

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt,<br />

Urs Bitterli, Corina Caduff, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Judith Kuckart, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Klara Obermüller, Angelika Overath Produktion Eveline Roth,<br />

Hans Peter Hösli (Art-Director), Swilly Eggenschwiler (Bildredaktion), Carmen Casty (Layout), Marta Casulleras, Irmgard Matthes, <strong>Michael</strong> Nägeli (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag,<br />

«Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 26170 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />

BETTMANN / CORBIS<br />

John F. Kennedy und Arthur M. Schlesinger (rechts).<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 3


Belletristik<br />

Roman Mit Büchern wie «Der englische Patient» hat <strong>Michael</strong> <strong>Ondaatje</strong><br />

ein Millionenpublikum gewonnen. In «<strong>Divisadero</strong>», der Geschichte<br />

von drei Waisenkindern, begeistert er mit der Schönheit seiner Sprache<br />

Wenn Liebende<br />

auseinandergeprügelt<br />

werden<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Ondaatje</strong>: <strong>Divisadero</strong>. Aus dem<br />

Englischen von Melanie Walz. Hanser,<br />

München 2007. 280 Seiten, Fr. 38.70.<br />

Von Judith Kuckart<br />

So steht es im Buch: Im Norden Kaliforniens<br />

auf einer Landstrasse bei Nicasio<br />

liegt ein Farmhaus, das man im Film<br />

oder im Traum schon einmal gesehen<br />

haben mag. Der Farmer kommt mit der<br />

neugeborenen Tochter Anna allein aus<br />

dem Krankenhaus zurück. Seine Frau ist<br />

im Kindbett gestorben wie die Mutter<br />

der kleinen Claire. Also hat er Claire,<br />

den Wechselbalg, auch gleich mitgenommen.<br />

Jetzt ist er Witwer mit drei<br />

Kindern, denn daheim wartet noch der<br />

Nachbarssohn Cooper, Vollwaise. Er<br />

war vier, als er als Einziger ein Gewaltverbrechen<br />

überlebte, das seine Familie<br />

auslöschte. Er wird noch ein paarmal<br />

überleben müssen. Beim ersten Mal<br />

werden es die Schläge des alten Farmers<br />

sein. Später wird es eine Gang von professionellen<br />

Spielern sein, die ihm das<br />

Gedächtnis aus dem Kopf schlägt, so<br />

dass er nur noch weiss, wie man Auto<br />

fährt. Und noch viel später, wenn wir als<br />

Leser nicht mehr bei ihm sind, wird er<br />

wohl eines ähnlich gewaltsamen Todes<br />

sterben. So steht es im Buch, auch wenn<br />

es nicht drinsteht.<br />

Alle Geschichten, die in «<strong>Divisadero</strong>»<br />

erzählt werden, gehören irgendwie<br />

zusammen. Was diese Welten in ihrem<br />

Innersten zusammenhält, ist die Schönheit<br />

von <strong>Michael</strong> <strong>Ondaatje</strong>s Sprache. Sie<br />

ist so kräftig und schön wie das Gesicht<br />

von Cooper, in das sich seine Schwester<br />

Anna verliebt, die nicht seine richtige<br />

Schwester ist. Coopers Gesicht hat auf<br />

Fotos keine deutlichen Züge, keine Physiognomie,<br />

die <strong>Ondaatje</strong> in feste Sätze<br />

gefasst hätte. Cooper bleibt ein schemenhaftes<br />

Spiegelbild im Fensterglas<br />

oder ein Schatten auf dem Rasen.<br />

So ist es auch mit <strong>Ondaatje</strong>s Sprache.<br />

<strong>Die</strong> Geschwister Anna und Cooper, die<br />

mit Claire zusammen ein dreiteiliger<br />

«Paravent» sind, jeder für sich eine<br />

Einheit, doch mit den anderen beiden<br />

zusammen ein Ding voller Überraschungen<br />

und Schattierungen, diese<br />

4 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

drei erwischt der Alte bei der Liebe.<br />

Er ist kein moderner, kein zärtlicher,<br />

aber ein schützender Vater. Nur im Niemandsland<br />

zwischen Müdigkeit und<br />

Einschlafen hat er manchmal am Abend<br />

die drei, als sie noch klein waren, an<br />

sich gedrückt. Da lagen sie wie Hündchen<br />

auf seinem karierten Hemd. Was<br />

zwischen den Menschen und ihrem<br />

Zuviel an frühen Verletzungen passiert,<br />

erzählen die Körper, die sich in einer<br />

Notgemeinschaft zusammengeschlossen<br />

haben und denen <strong>Ondaatje</strong> auch<br />

seine Sprache gibt. Eine Begleitung aus<br />

Wörtern, die den Leser näher an das<br />

Geheimnis bringt.<br />

Montagearbeit am Selbst<br />

Eines Tages schlägt die Vertrautheit zwischen<br />

den Geschwistern um in Liebe,<br />

schneller als sie es selber bemerken.<br />

Schuld ist der warme Regen. Es regnet,<br />

als Anna Cooper in seiner Rückzugshütte<br />

auf dem Berggrat, den man von der<br />

Farm aus gerade noch sieht, besuchen<br />

geht. Der Regen macht melancholisch<br />

und weckt die schmerzliche Lust auf<br />

Liebe, die einen anfällt, wenn Glücklichseinwollen<br />

und Traurigseinmüssen<br />

streiten, bis man selber nicht mehr<br />

Mensch ist, sondern Wetter. Als der Alte<br />

die beiden erwischt, schlägt er Cooper<br />

die Seele taub, den Körper fast tot, und<br />

Anna rammt dem rasenden Vatertier<br />

eine Glasscherbe tief in den Rücken,<br />

was ihm für immer das Herz bricht.<br />

<strong>Die</strong> Szene ist anderthalb Seiten kurz,<br />

sie hat mich verschreckt, aber ebenso<br />

mit Anna, Cooper, Claire und dem Alten<br />

für den Rest des Buches verbunden.<br />

Man möchte mit ihnen bis zur letzten<br />

Seite und noch weiter gehen. Doch während<br />

<strong>Ondaatje</strong> seine Geschichte <strong>Divisadero</strong><br />

– was auf Spanisch «getrennt sein»<br />

und «aus der Ferne betrachtet» heisst<br />

– fortschreibt, verliere ich die eine oder<br />

andere Figur aus den Augen. Er lässt die<br />

frühen Fäden fallen und springt hinein<br />

in eine andere Geschichte, hinüber nach<br />

Frankreich, zu anderen Schicksalen.<br />

Mir ist schon klar, so eine Komposition,<br />

die diese biografische Wehmut bei<br />

mir anrichten kann, schreibt sich nicht<br />

schlicht an einem Strang entlang fort,<br />

sie will Schicksal einholen und muss<br />

sich dafür der Sprache ausliefern; sie<br />

muss kurze Momente, die aufblitzen<br />

und absehbar noch nirgendwohin gehören,<br />

dafür aber um so kostbarer sind,<br />

zulassen und hinschreiben. Sie werden<br />

schon zu etwas führen.<br />

Schon klar, das Netz ist dicht, und<br />

will man nur einigermassen einen Eindruck<br />

von seiner Dichte erfassen, muss<br />

man mit jedem Satz, in dem es um etwas<br />

geht, sagen: Es geht auch um etwas<br />

anderes. Nach jedem Komma wartet<br />

die nächste Überraschung. T<strong>rot</strong>zdem,<br />

ich habe erst Anna und dann Cooper<br />

vermisst, während ich weiterlas. Als ich<br />

Anna wiedertraf, war sie längst Literaturwissenschafterin<br />

im ländlichen<br />

Frankreich geworden. Da hatte ich ihre<br />

Melodie verloren. Ich erkannte Anna<br />

nicht gleich. War aus dem faszinierenden<br />

Mädchen eine langweilige Frau<br />

geworden? War sie nicht doch Claire?<br />

Nachdem der Alte die Liebenden<br />

Cooper und Anna auseinandergeprügelt<br />

und so aus der wichtigsten Zeit<br />

ihres Lebens vertrieben hatte, floh<br />

Anna, um viele <strong>Jahre</strong> später in der<br />

Gegend von Toulouse und auf den<br />

Spuren eines Dichters namens Lucien<br />

Segura, berühmt zu Beginn des vorigen<br />

Jahrhunderts, anzukommen, wo sie dessen<br />

Lebensspuren zu einem Bild zusammenschiebt<br />

und bei dieser Montagearbeit<br />

sich selber ausbessert. Sie befragt<br />

sich selber, ohne laut Antwort zu geben,<br />

bis eines Tages ein nächster Mann über<br />

die Wiese herüber in ihre Einsamkeit<br />

hineingeschlendert kommt. Rafael ist<br />

ein Sänger, ein Zigeuner mit Kräutern in<br />

den Hosentaschen. Er fängt an zu erzählen.<br />

Sie fängt an zu erzählen. Erzählen<br />

heilt. Wie beim Schneiden eines Films<br />

entwickelt sich die eigentliche Eloquenz<br />

dieser Geschichte im Schnitt.<br />

Verzaubernd<br />

Lege ich das Buch weg, schneide ich mir<br />

das Gelesene noch einmal neu zusammen,<br />

ermutigt von der Haltung das<br />

Autors, dass sowieso alles anders kommt,<br />

im Leben, im Buch, bei Anna, beim Sänger.<br />

Bei allen. Alle leben so. Wie Anna<br />

und Rafael einander davon erzählen, ist<br />

es dem Leben angemessen. Es ist das<br />

Erzählen der Liebenden, die sie – wie<br />

B. GARCIN GASSER / OPALE


Bestsellerautor<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Ondaatje</strong>,<br />

64, ist ein brillanter<br />

Stimmen-Arrangeur.<br />

alle Liebenden es tun – im Dunkeln das<br />

Dunkel neu zusammenkleben lässt. An<br />

den Schnittstellen, wo Anna und Rafael<br />

Verletzungen wie Filmschnipsel erzählend<br />

aneinanderdrücken, finden auch<br />

vergangene Lieben wieder statt.<br />

Cooper ist auch geflohen und ewig<br />

auf der Flucht geblieben, als Falschspieler,<br />

der mit dem Glück und mit Gott<br />

beim Pokern hadert. Unsichtbar begleitet<br />

ihn auf dieser Irrfahrt der Alte, der<br />

ihn so zurechtschlug. Denn nicht nur<br />

das Herz Annas, auch das versteinerte<br />

des Alten ist in Cooper mit aufgehoben.<br />

Jeder Mensch ist er selber und der, der<br />

er nicht geworden ist, und dazu noch all<br />

die anderen, die im Lauf seines Lebens<br />

bei ihm eingezogen sind. So steht es im<br />

Buch. <strong>Die</strong>se menschliche Ambivalenz,<br />

diese ständige Unsicherheit, wer das<br />

wohl heute ist, der einem da mit dem<br />

Gesicht von gestern begegnet, macht ein<br />

Buch wie «<strong>Divisadero</strong>» so spannend. Es<br />

verzaubert.<br />

Choreograph der Gefühle<br />

Wer fragt da noch nach der Geschichte?<br />

Ich frage nach ihr. Ich frage nach<br />

Claire. Sie bleibt in der Nähe des Alten,<br />

vor dem die anderen beiden flohen. Sie<br />

lernt etwas Vernünftiges, aber lernt es<br />

nicht, vernünftig mit jenem Moment<br />

umzu gehen, an dem ihre herkunftslose,<br />

aber einander so zugewandte Familie<br />

zerbrach. Einmal noch trifft sie Cooper<br />

zufällig wieder. Beide sind sie auf<br />

Geschäftsreise, er in Richtung Abgrund.<br />

Er verwechselt sie mit Anna. Das ist<br />

früher oft und nicht nur ihm passiert.<br />

Denn auch der Leser hört, während er<br />

Claire begleitet, die Stimme Annas mit,<br />

die den Anfang des Romans in der Ichform<br />

erzählt, um wenige Seiten später<br />

an einen Erzähler zu übergeben, der<br />

ihren Ton übernimmt und mit den beiden<br />

Schwestern gemeinsam Cooper<br />

beobachtet. Er bleibt mit seiner erzählenden<br />

Kamera so dicht an dem Knaben<br />

dran wie die Mädchen mit ihren Herzen.<br />

Vielleicht ist es aber auch doch wieder<br />

Anna, die hinter der Erzählkamera<br />

steckt, welche ihren Standpunkt hat in<br />

der Strasse, die <strong>Divisadero</strong> heisst, da, wo<br />

Anna wohnt.<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Ondaatje</strong>, der Autor von<br />

preisgekrönten Romanen wie «Der<br />

englische Patient», «Buddy Boldens<br />

Blues» oder «Anils Geist», ist ein Stimmen-Arrangeur,<br />

ein Bildermaler, ein<br />

Choreograph der Gefühle. Er liebt den<br />

Jazz. Unsentimental und mit viel Kraft<br />

setzt er seine Stofffülle in einem eigenen<br />

Zeit-Raum-Schema zusammen, bis<br />

Sequenzen sich einschreiben, als seien<br />

sie ein Stück von einem selbst, das man<br />

noch nicht gelebt hat.<br />

Längst habe ich begriffen, ich muss<br />

mich hinsetzen und das Buch noch einmal<br />

lesen, wenn ich Anna und Cooper<br />

wieder treffen will. Ihre Liebe ist bis zu<br />

letzten Seite da. Sie ist da in der Form.<br />

So steht es im Buch. �<br />

Judith Kuckart, geboren 1959 in<br />

Westfalen, lebt als Schriftstellerin<br />

und Regisseurin in Berlin und Zürich.<br />

Zuletzt erschien von ihr der Roman<br />

«Kaiserstrasse» (2006).<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 5


Belletristik<br />

Gulag Neben Solschenizyn gibt es einen weiteren Chronisten des Gulag: Warlam Schalamow<br />

Am Kältepol der Grausamkeit<br />

Warlam Schalamow: Durch den Schnee.<br />

Erzählungen aus Kolyma. Band 1. Aus<br />

dem Russischen von Gabriele Leupold.<br />

Hrsg. und mit einem Nachwort von<br />

Franziska Thun-Hohenstein. Matthes &<br />

Seitz, Berlin 2007. 344 S., Fr. 40.30.<br />

Manfred Sapper, Volker Weichsel, Andrea<br />

Huterer (Hg.): Das Lager schreiben.<br />

Varlam Šalamov und die Aufarbeitung<br />

des Gulag. BMV Berlin, Zeitschrift<br />

Osteuropa 6/2007. 440 S., 1 CD, Fr. 37.70.<br />

Von Ralph Dutli<br />

In der Erzählung «<strong>Die</strong> Einzelschicht»<br />

merkt der Häftling Dugajew, dass er allmählich<br />

schwächer wird, dass er seinen<br />

16-Stunden-Tag nicht länger durchhält.<br />

«Dugajew karrte, hackte und kippte,<br />

und wieder: karrte, hackte, kippte.» Als<br />

er t<strong>rot</strong>z aller Rackerei nur fünfundzwanzig<br />

Prozent der Tagesnorm erfüllt, wird<br />

er nachts abgeholt und an einen abgelegenen<br />

Ort geführt. Im Schlusssatz enthüllt<br />

sich Warlam Schalamows einsame<br />

Kunst des Unausgesprochenen. «Und als<br />

Dugajew begriff, worum es ging, bedauerte<br />

er, dass er umsonst gearbeitet, sich<br />

umsonst gequält hatte an diesem letzten<br />

heutigen Tag.»<br />

Wie konnte der Welt des Gulag, in der<br />

Zwangsarbeit, Frostkälte, Hunger, Schläge,<br />

Tod und Entwürdigung herrschten,<br />

bedeutende Literatur entspringen? Der<br />

1907 im nordrussischen Wologda geborene<br />

und 1982 in Moskau verstorbene<br />

Schalamow war von der Unsagbarkeit<br />

und Nichtdarstellbarkeit der Lagerwelt<br />

überzeugt und hat ihr dennoch überzeugende<br />

Texte abgerungen. Seine «Erzählungen<br />

aus Kolyma» blieben aber lange<br />

ein Geheimtipp. Der Autor wurde im<br />

Schatten Solschenizyns, des Übervaters<br />

der Lagerliteratur, kaum wahrgenommen.<br />

Mit dem eindrücklichen Band<br />

«Durch den Schnee» eröffnet der Verlag<br />

Matthes & Seitz eine sechsbändige<br />

Werkausgabe, die diesem Schattendasein<br />

endlich ein Ende setzen wird.<br />

Beben unter den Zeilen<br />

Schalamow verbrachte vierzehn <strong>Jahre</strong><br />

in der Lagerhölle am nordostsibirischen<br />

Fluss Kolyma, an jenem «Kältepol der<br />

Grausamkeit», wo Millionen Menschen<br />

der Vernichtung zugeführt wurden.<br />

Schon 1945 zirkulierte das verstörende<br />

Wort vom «Auschwitz ohne Öfen». Nach<br />

seiner Rückkehr aus der Hölle blieb ihm<br />

eine einzige Lebensaufgabe: jenes Universum<br />

des Schreckens aus seiner Erinnerung<br />

heraus zu beschwören, gegen die<br />

allgemeine Amnesie anzukämpfen.<br />

Unter den russischen Autoren, die<br />

über den Gulag geschrieben haben, blieb<br />

er ein Sonderfall. Denn nie darf man bei<br />

ihm moralische Erbauung geniessen,<br />

keine Anklage eines Unrechtsregimes<br />

erwarten. Gerade durch die radikale<br />

Trost- und Sinnverweigerung erklärt<br />

sich seine heillose Modernität. Schalamow<br />

ist ein literarischer Solitär. Er<br />

wollte «authentische» Literatur, eine<br />

paradoxe «nichtliterarische Literatur».<br />

6 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

HANS-JUERGEN BURKARD / BILDERBERG<br />

Schon 1945<br />

zirkulierte das Wort<br />

vom «Auschwitz ohne<br />

Öfen», wenn vom<br />

Gulag die Rede war.<br />

Doch diese Nicht-Kunst ist durchtrieben<br />

komponiert und von bestechender<br />

erzählerischer Ökonomie. Gabriele<br />

Leupolds Übersetzung ist vorzüglich<br />

in ihrer Präzision, in ihrer scheinbaren<br />

Emotionslosigkeit, die nie das Beben<br />

unter den Zeilen verleugnet.<br />

Was Schalamow letztlich umtreibt,<br />

ist das Faszinosum der Zählebigkeit<br />

des Menschen. <strong>Die</strong>ser zeigt selbst als<br />

Wrack, als von den Goldgruben ausgespuckte<br />

«menschliche Schlacke», einen<br />

unverständlichen Lebenswillen. <strong>Die</strong><br />

Erzählung «Regen» spricht von einem<br />

Versuch, sich das Bein zu zertrümmern,<br />

doch er misslingt gründlich und<br />

führt zur Einsicht, «dass ich weder zum<br />

Selbstverstümmler noch zum Selbstmörder<br />

tauge. Mir blieb nur zu warten,<br />

bis das kleine Unglück abgelöst wird<br />

durch ein kleines Glück, bis das grosse<br />

Unglück sich erschöpft. Das nächste<br />

Glück war das Ende des Arbeitstags,<br />

drei Schluck heisse Suppe.»<br />

Schalamows Erzählungen sollte man<br />

jedem wohlstandssatten, gedächtnislosen<br />

Zeitgenossen per Rezept verschreiben,<br />

damit er wieder weiss, in welcher<br />

Welt er lebt. Schalamows Lager-Pandämonium<br />

erlaubt tiefe Einblicke in<br />

die Abgründe des Menschenmöglichen.<br />

Unter dem Titel «Was ich im Lager<br />

gesehen und erkannt habe» steht als<br />

Erstes: «<strong>Die</strong> ausserordentliche Fragilität<br />

der menschlichen Kultur und Zivilisation.<br />

Der Mensch wurde innerhalb von<br />

drei Wochen zur Bestie – unter Schwerarbeit,<br />

Kälte, Hunger und Schlägen.»<br />

Ein Pullover kann unter Häftlingen,<br />

die nur «Staatswäsche» tragen, zum Verhängnis<br />

werden, weil das Kriminellenoberhaupt<br />

beim Kartenspiel noch einen<br />

Einsatz braucht. Auf das Kommando<br />

«Los, ausziehen» erwidert der Pulloverbesitzer:<br />

«Nur mitsamt der Haut.» Einen<br />

Augenblick später wird er erstochen.<br />

Es ist typisch für Schalamows Erzählschlüsse,<br />

dass keine Auflehnung folgt,<br />

nur die umso schmerzhaftere Lakonie.<br />

«Das Spiel war aus, und ich konnte nach<br />

Hause gehen. Zum Holzsägen musste<br />

ich mir jetzt einen anderen Partner<br />

suchen.» Das Geschehen wird nicht<br />

eingebettet in einen «höheren Sinn», es<br />

bleibt enigmatisch, verstörend. <strong>Die</strong> Welt<br />

ist die Lagerwelt – ohne Sinn.<br />

Im Schatten Solschenizyns<br />

Es ist ein Glücksfall, dass die Zeitschrift<br />

«Osteuropa» zeitgleich ein ausgezeichnetes<br />

Themenheft mit dem Titel «Das<br />

Lager schreiben» herausbringt. Es bietet<br />

einen Leitfaden zur Orientierung in<br />

einem dunklen Universum, verfasst von<br />

Experten wie Nicolas Werth, Michail<br />

Ryklin und anderen. Wer mehr über<br />

Schalamows «Poetik der Unerbittlichkeit»<br />

erfahren will und Gründe dafür<br />

sucht, warum dieser Autor immer im<br />

Schatten Solschenizyns verharren musste,<br />

wer sich die Frage stellt, ob es nicht<br />

auch «Widerstand im Gulag», Meuterei<br />

und Flucht gegeben habe, der greift mit<br />

Gewinn zu diesem Materialienband, in<br />

dem auch Schalamows Notate über seine<br />

eigene Prosa und über die Nichtdarstellbarkeit<br />

der Lagerwelt nachzulesen sind.<br />

Nicht nur hier dämmert einem, wer oder<br />

was dieser Schattenautor eigentlich war:<br />

ein Prosaist ersten Ranges. �<br />

Ralph Dutli ist unter anderem<br />

Herausgeber der Ossip-Mandelstam-<br />

Gesamtausgabe und des Hörbuchs<br />

«Russische Literaturgeschichte».


Erzählungen Regina Ullmanns Werk ist bis heute umzingelt von groben Missverständnissen.<br />

<strong>Die</strong> Neuauflage ihres wichtigsten Erzählbandes gibt Gelegenheit zur Richtigstellung<br />

«Als trüg ich Lasten aus aller Welt»<br />

Regina Ullmann: <strong>Die</strong> Landstrasse.<br />

Erzählungen. Nachwort von Peter<br />

Hamm. Kollektion Nagel & Kimche,<br />

Zürich und München 2007. 182 S., Fr. 36.–.<br />

Von <strong>Michael</strong> Braun<br />

Der Sehnsuchtsort der Dichterin Regina<br />

Ullmann war die Weltabgeschiedenheit.<br />

Grosse Städte wie München und Wien<br />

erlebte sie dagegen als Nährboden des<br />

Unglücks. So verwundert es nicht, wenn<br />

auch die einsamen Helden ihrer Erzählungen<br />

stille Schauplätze bevorzugen:<br />

An einsamen Landstrassen, am Fenster<br />

verwunschener Wirtshäuser im Wald<br />

gelangen diese unglücklichen, oft körperlich<br />

versehrten Figuren zu einem<br />

tastenden Weltbewusstsein, geschützt<br />

vor dem Lärm der Moderne. Und wenn<br />

sich diese einsamen Waldgänger dann<br />

im «Schmerz der Leidenschaft» verzehren<br />

und nach Erfüllung ihrer absoluten<br />

Liebe drängen, ist ihr Unglück vorprogrammiert.<br />

Dann werden sie, wie der<br />

verliebte Bauernbursche in der Erzählung<br />

«Vor einem alten Wirtshausschild»,<br />

von Naturmächten verschlungen.<br />

In einer von Ullmanns verwinkelten<br />

Erzählungen spricht eine Reisende<br />

ohne Ziel, die sich auf einer Bergkuppe,<br />

einem «Kogel», niedergelassen hat. Dort<br />

grübelt sie vor sich hin, murmelt einige<br />

Gebete, überlässt sich ihren Tagträumen.<br />

In ihren Phantasmagorien tauchen<br />

die Bilder von Heiligengestalten auf,<br />

die Menschen und Tiere huschen wie<br />

Schatten vorüber. «Mir war so schwer»,<br />

sinniert die somnambule Ich-Erzählerin<br />

gleich zu Beginn des Textes, «als trüg<br />

ich Lasten, unbekannte, aus aller Welt.»<br />

Gefördert von Rilke<br />

Tatsächlich trug auch Regina Ullmann<br />

von Kindheit an viele drückende seelische<br />

Lasten mit sich herum. Im Dezember<br />

1884 als Tochter eines jüdischen<br />

Stickerei-Kaufmanns und einer überaus<br />

dominanten Mutter in St. Gallen geboren,<br />

litt sie in ihrer Kindheit unter starken<br />

Sprachhemmungen. <strong>Die</strong> ehrgeizige<br />

Mutter dachte ihr dennoch früh eine<br />

dichterische Laufbahn zu.<br />

Das literarische Offenbarungserlebnis<br />

widerfuhr ihr aber erst <strong>Jahre</strong> später<br />

in der Steiermark, wo sie die Lebensrituale<br />

der bäuerlich-archaischen Welt<br />

kennenlernte. Auf ihren im Herbst 1907<br />

publizierten Erstling, den Einakter «<strong>Die</strong><br />

Feldpredigt», reagierte Rainer Maria<br />

Rilke mit nachhaltiger Begeisterung. Bis<br />

zu seinem Tod im Dezember 1926 blieb<br />

Rilke ihr treuester Förderer – ohne indes<br />

verhindern zu können, dass die schwermütige<br />

Dichterin von einer Krise in die<br />

nächste stürzte.<br />

Nach Rilkes Tod verschärfte sich Ullmanns<br />

Verlorenheitsgefühl noch, bis sie<br />

nach ihrem Ausschluss aus dem Deutschen<br />

Schriftstellerverband 1935 nach<br />

St. Gallen floh, wo sie bald in einem<br />

katholischen Schwesternheim bis kurz<br />

vor ihrem Tod 1961 Zuflucht fand. Bis<br />

heute ist das schmale Werk der Dichterin<br />

umzingelt von groben Missverständnissen.<br />

Zwar fand ihr Gesamtwerk<br />

gleich zweimal mutige Verleger. Aber<br />

das eigenwillig Visionäre ihrer Welterkundung<br />

hat man meist auf eine Variante«bayrisch-österreichisch-schweizerischer<br />

Heimatdichtung» (Charles<br />

Linsmayer) reduziert. Der Wesenskern<br />

dieser Prosa liegt woanders: im Weltgefühl<br />

einer tiefen Demut gegenüber<br />

der Schöpfung; und in einer mystischen<br />

Innigkeit, die leuchtende Bilder einer<br />

Realpräsenz der Dinge hervorbringt.<br />

In der Weltverlorenheit<br />

Peter Hamm hat nun den wichtigsten<br />

Erzählband der Ullmann, das 1921<br />

erstmals erschienene Werk «<strong>Die</strong> Landstrasse»,<br />

neu ediert und mit einem<br />

instruktiven Nachwort versehen. So<br />

besteht die Chance, dass die Dichtung<br />

Regina Ullmanns endlich zu ihrem literarischen<br />

Recht kommt. Denn die Aufmerksamkeit<br />

für ihr Werk ist immer<br />

Eine wallende Mähne, <strong>rot</strong>e Lippen, ein leicht<br />

zurückgebogener Kopf und das Licht von der Seite:<br />

So inszeniert die Werbung der Popkultur Frauen<br />

als Vamps. Feng Zhengjie ist von der Bildsprache<br />

des Pop wie von westlichen Anzeigen fasziniert<br />

und überträgt sie auf Phänomene der chinesischen<br />

Lebenswelt: «Ich spürte, dass die Popkultur eine<br />

aussergewöhnlich starke Vitalität besass. Vielleicht<br />

fand ich das alles selbst verwirrend und wollte<br />

darum unbedingt herausfinden, was wirklich unter<br />

der Oberfläche lag.» Der 1968 in der Provinz Sichuan<br />

geborene Künstler persiflierte Hochzeitsbilder<br />

wieder überblendet worden durch Schilderungen<br />

ihrer tragischen Biografie.<br />

Zuletzt hat Eveline Hasler (in «Stein<br />

bedeutet Liebe») die in ihrer Seelendramatik<br />

monströse Geschichte neu<br />

ausfabuliert, die Regina Ullmann mit<br />

dem Münchner Psychoanalytiker Otto<br />

Gross verband. Der mit anarchistischlibertären<br />

Theorien verschwenderisch<br />

umgehende Freud-Schüler wollte seine<br />

Patienten nicht nur von allen Neurosen<br />

befreien, sondern auch mit e<strong>rot</strong>ischer<br />

Libertinage beglücken. 1907 erlag auch<br />

Regina Ullmann der Intensität dieser<br />

charismatischen Persönlichkeit und<br />

liess sich von dem fanatischen Weltbeglücker<br />

schwängern. Nicht genug damit,<br />

dass Gross der psychisch labilen Dichterin<br />

mit seinem psychoanalytischen<br />

Absolutismus zusetzte, er versuchte<br />

die Schwangere auch zum Selbstmord<br />

zu animieren. Kurz darauf wurde er in<br />

einer Zürcher Irrenanstalt interniert.<br />

Regina Ullmann wurde ihrerseits in die<br />

Weltverlorenheit zurückgestossen, der<br />

sie nie wieder entrinnen konnte. �<br />

Pop-Art aus China Schreiende Farben, knallige Bilder<br />

der 1990er <strong>Jahre</strong> ebenso wie verknöcherte Gelehrte.<br />

Greller Kitsch ist seine Methode an der neuen Kultur<br />

von Konsum und Kommerz. Der opulente Band, in<br />

dem er nun vorkommt, stellt 80 Künstlerinnen und<br />

Künstler aus dem Reich der Mitte mit biografischen<br />

Daten, zahlreichen Werkabbildungen und konzisen<br />

Einführungen vor. Er darf als erster umfassender<br />

Führer für die boomende Kunstszene des<br />

gegenwärtigen China gelten. Gerhard Mack<br />

Uta Grosenick und Caspar H. Schübbe (Hrsg.):<br />

China Artbook. Dumont, Köln 2007.<br />

670 Seiten, 850 Farbabbildungen, Fr. 66.–.<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 7


Belletristik<br />

Roman Spektakulär erzählt: fiktive Gedanken deutscher Intellektueller im Kalifornien-Exil<br />

«Das Ganze ist ein Quark geworden»<br />

<strong>Michael</strong> Lentz: Pazifik Exil. S. <strong>Fischer</strong>,<br />

Frankfurt a. M. 2007. 464 S., Fr. 35.40.<br />

Von Paul Jandl<br />

Was sind die Künstler? «Wenn es ans<br />

Leben geht, werden sie Dilettanten!»<br />

Nicht nur in ihrem Tagebuch hat die<br />

resolute Wiener Dame immer das letzte<br />

Wort. Bei den Lebensdingen kennt sich<br />

Alma, verwitwete Mahler, geschiedene<br />

Gropius und verheiratete Werfel, eben<br />

aus. Über die staubigen Pyrenäen und<br />

zu Fuss führt sie im Herbst 1940 ein<br />

illustres Trüppchen von Exilanten. <strong>Die</strong><br />

opulente Garderobe für die neue Heimat<br />

wird ihr in einem Dutzend Koffern<br />

hinterhergetragen.<br />

Wenn diese authentische Reise des<br />

<strong>Jahre</strong>s 1940 nicht selbst schon ein Roman<br />

war, dann hat <strong>Michael</strong> Lentz jetzt einen<br />

daraus gemacht. «Pazifik Exil» heisst<br />

das Buch, das in breitem Cinemascope<br />

zeigen will, wie eng die Welt in einer<br />

Epoche des Untergangs wird. Dass die<br />

Komik kein Trost, sondern die nicht<br />

minder bedrohliche Kehrseite des Tragischen<br />

ist, zeigt der Roman in einer<br />

furiosen Sprache.<br />

Alle sind sie da, im kalifornischen Exil<br />

zwischen Pacific Palisades und Santa<br />

Monica: Alma und Franz Werfel, die<br />

Manns und die Feuchtwangers, Bertolt<br />

Brecht, Arnold Schönberg und Hanns<br />

Eisler. Es sind verzweifelte Zeitdiagnostiker<br />

und versierte Hypochonder.<br />

Brecht, Mann, Werfel<br />

Was sie ausmacht, zeigt Lentz nicht in<br />

einer fortlaufenden Handlung, sondern<br />

in monologischen Sentenzen oder in<br />

subtil beobachteten Szenen. Was dabei<br />

herauskommt, sind Vignetten voller<br />

Melancholie. Lange und im Stil seiner<br />

wie hingeknallten Sprache kann Bertolt<br />

Brecht das Los des sportlichen Autofahrers<br />

oder der Weltrevolution beklagen.<br />

Wenn er auf halbem Wege zur Cocktailparty<br />

bemerkt, dass er noch die Hausschuhe<br />

an den Füssen hat, dann denkt er<br />

nur: Was soll’s. Er ist doch der berühmte<br />

Brecht, und das ist schliesslich keine<br />

Frage der Toilette. Noch berühmter aber<br />

ist Thomas Mann, den Lentz als Poseur<br />

vor dem Spiegel der Welt zeigt. «Wo ich<br />

bin, ist Deutschland», lautet der notorische<br />

Satz des exilierten Grossschriftstellers.<br />

Etwas leiser klingt das Echo<br />

Brechts: «Wo ich bin, kann Thomas<br />

Mann nicht sein.»<br />

Wenn Lentz’ Roman satirisch ist, dann<br />

an solchen Stellen. <strong>Die</strong> Grossen lässt er<br />

auf die Details ihrer Eitelkeit schrumpfen,<br />

den Bescheidenen gibt er Grösse.<br />

Mögen die Spiegelfechtereien zwischen<br />

Brecht und Thomas Mann im Blutvergiessen<br />

der Ehrabschneidung gipfeln,<br />

anderswo geht es elender zu. Heinrich<br />

Mann macht sich keine Illusionen über<br />

die Chancen des Exils. Erfolglos und<br />

verarmt steht er endgültig im Schatten<br />

des auch in Amerika umworbenen Bruders.<br />

Was bleibt ihm? Wenn Heinrich<br />

8 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

GLAESCHER / LAIF<br />

Der deutsche Autor,<br />

Lautpoet und Musiker<br />

<strong>Michael</strong> Lentz, 43.<br />

Mann seine Zeichnungen nackter Frauen<br />

kritzelt, dann ist das zumindest e<strong>rot</strong>ische<br />

Versöhnung mit der Welt. Haben<br />

nicht all die sinnlich Hingestreckten die<br />

Brüste seiner eigenen Frau? Nelly Mann,<br />

die Mesalliance der Familie, die ewige<br />

Zielscheibe des Bruders Thomas Mann,<br />

verdämmert im Exil. Das trostlose<br />

Leben und der Alkohol setzten ihr nicht<br />

weniger zu als der Spott einer in der<br />

Fremde noch schwerer zu ertragenden<br />

Verwandtschaft. 1944 begeht Nelly in<br />

Los Angeles Selbstmord. Ihr Schicksal<br />

ist ein stilles.<br />

Stiller jedenfalls als das der omnipräsenten<br />

Alma Mahler-Werfel, deren<br />

Ceterum censeo aus den Seiten des<br />

Romans dröhnt. «<strong>Die</strong> Juden sind mein<br />

Schicksal», heisst es immer wieder, bis<br />

dem herzkranken Franz Werfel die antisemitischen<br />

Tiraden auch einmal zu viel<br />

werden. «Meine Frau Hitler» nennt er<br />

das böse dahinschwadronierende Weib,<br />

das Werfel seine Verfolgung durch die<br />

Nazis nicht verzeihen will.<br />

Brillant verdichtet<br />

«Das Ganze, von Tod und Leben, ist ein<br />

Quark geworden.» Wenn dieser verzweifelt<br />

direkte Satz Heinrich Manns<br />

eine Abbreviatur des Exils ist, was ist<br />

dann Lentz’ fast fünfhundert Seiten<br />

dicker Roman?<br />

«Pazifik Exil» ist masslos. Für die<br />

politische Lage der dreissiger und vierziger<br />

<strong>Jahre</strong> interessiert sich der Roman<br />

weniger als für eine in Bildern verdichtete<br />

Psychologie dieser Zeit. Man wird<br />

im brillanten Projekt «Pazifik Exil» die<br />

avantgardistische Schreibstube erkennen,<br />

aus der der 43-jährige deutsche<br />

Schriftsteller kommt, und auch den Versuch,<br />

munter draufloszuerzählen. Denn<br />

das kann Lentz auch. <strong>Die</strong> Suada seiner<br />

Figuren, den stets zur Selbstrechtfertigung<br />

aufgestachelten Zorn, macht Lentz<br />

zu einem Spektakel von surrealer Wahrheit.<br />

Aus der Welt sind die Sätze, Mutmassungen<br />

und Daseinserklärungen der<br />

aus der Welt gefallenen Manns, Feuchtwangers,<br />

Schönbergs und Werfels.<br />

Künstler auf verlorenem Posten. «Ich<br />

frage mich oft, ob wir mit dem Verlassen<br />

Deutschlands nicht die Wirklichkeit<br />

verlassen hatten», lässt Lentz Heinrich<br />

Mann sagen, und das ist ein Satz, der<br />

wohl für den ganzen Roman steht.<br />

Das Exil ist ein Laboratorium für<br />

das eigene Leben, der Ausgang dieses<br />

unfreiwilligen Experiments ist ungewiss.<br />

In einer der beindruckendsten<br />

Szenen des Buches – einer Szene, die<br />

zeigt, wie brillant der Autor seinen voll<br />

aus biografischen Quellen schöpfenden<br />

Stoff verdichten kann – trauert Arnold<br />

Schönberg seinem «Wagner-Sessel»<br />

nach. Den von Schönberg in Deutschland<br />

erstandenen Ohrenfauteuil, auf<br />

dem schon Richard Wagner gesessen<br />

sein soll, nimmt Thomas Mann dem<br />

Komponisten ab, um darin den «Doktor<br />

Faustus» zu schreiben. Doch nicht nur<br />

das: Auch die Idee der Zwölftonmusik<br />

wandert unversehens in seinen Roman.<br />

Der von Schönberg schmerzlich<br />

vermisste und bis dahin überallhin<br />

mitgeschleppte Sessel ist der kleinste<br />

gemeinsame Nenner einer Lebensreise.<br />

Während der Komponist zu einer Klage<br />

anhebt, die allen Weltverwünschern<br />

Thomas Bernhards zur Ehre gereicht<br />

hätte, ahnt man, was ein Exil im Exil<br />

war. «<strong>Die</strong>ser Sessel ist Heimat», sagt<br />

Arnold Schönberg. Da sitzt ganz behaglich<br />

schon Thomas Mann in seinem<br />

Fauteuil. �


Roman Eine Liebes- und Aidsgeschichte<br />

ist eines der meistdiskutierten Bücher<br />

dieses Herbstes<br />

Intim und in die<br />

Ferne gerückt<br />

PETER PEITSCH<br />

Katja Lange-Müller: Böse Schafe.<br />

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.<br />

205 Seiten, Fr. 30.–.<br />

Von Sieglinde Geisel<br />

Es ist 1987, die Mauer steht noch, und<br />

Aids ist ein Todesurteil. Kaum ein Jahr<br />

ist Soja in Westberlin. Harry ist eine<br />

Zufallsbekanntschaft, doch sie will ihn<br />

um jeden Preis haben – das Wort «Junkie»<br />

hatte sie in der DDR nie gehört.<br />

Was ihr von dieser Liebe in der Erinnerung<br />

bleibt, ist ein «betörend undramatisches<br />

Glück», ein Standbild von zwei<br />

Menschen, die nebeneinander auf der<br />

Matratze liegen. Mehr ist es nicht, denn<br />

kennengelernt hat sie Harry in den knapp<br />

drei <strong>Jahre</strong>n eigentlich kaum. Er entzieht<br />

sich, verschwindet, ist gleichgültig und<br />

egozentrisch, hat Geheimnisse. Er sei<br />

einer der «guten Bösen», so liest Soja es<br />

nach seinem Tod in seinem Notizbuch.<br />

<strong>Die</strong> guten Bösen unterscheiden sich von<br />

den bösen Bösen darin, dass sie nicht<br />

mehr einander Gewalt antun, sondern<br />

nur noch sich selbst. Der HIV-positive<br />

Harry schützt Soja vor Ansteckung,<br />

indem er sie beim Sex jeweils rechtzeitig<br />

«von der Palme holt», wie er es<br />

ausdrückt.<br />

Eine Amour fou, die nicht gut ausgeht<br />

und von deren Glück sich Soja<br />

nicht mehr erholt. Doch Lange-Müller<br />

schreibt keine traurigen Bücher. Harrys<br />

gekerbtes Kinn sieht aus «wie ein stoppliger<br />

Babypopo», Sojas toupierte Frisur<br />

«wie ein gefrorener Ameisenhaufen».<br />

Nicht immer haut der Sprachwitz hin.<br />

«Ich ging jedoch nicht rauchen, sondern<br />

im Zimmer umher», solche Manierismen<br />

häufen sich. Hinreissend sind dagegen<br />

die Sexszenen. Der Sex selbst mag<br />

schiefgehen, doch Katja Lange-Müller<br />

macht daraus ein sprachliches Kleinod<br />

an Zärtlichkeit und Komik.<br />

Was einen beim Lesen gefangen<br />

nimmt, ist nicht nur diese seltsame<br />

Liebe, sondern die sprachliche Form.<br />

Denn Soja erzählt ihre Geschichte nicht<br />

uns, sondern dem toten Harry, und<br />

zwar tut sie dies in strengem Imperfekt<br />

und über weite Strecken in der zweiten<br />

Person. «Du warst [. . .] permanent<br />

müde, döstest vor dich<br />

hin, lasest keine Fantasy-<br />

Romane, hörtest nicht The<br />

Doors, sprachst kaum.»<br />

Eine seltene Verbform,<br />

die den Text auf sanfte<br />

Weise verfremdet. <strong>Die</strong><br />

Intimität der Zwiesprache<br />

wird vom erhabenen<br />

Imperfekt sogleich<br />

in die Ferne gerückt<br />

– diese paradoxe Wirkung<br />

trägt den ganzen<br />

Roman. �<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

Bernadette Calonego: Unter dunklen<br />

Wassern. Kriminalroman. Bloomsbury,<br />

Berlin 2007. 381 Seiten, Fr. 35.40.<br />

<strong>Die</strong> gebürtige Stanserin Bernadette<br />

Calonego, seit <strong>Jahre</strong>n freie Auslandkorrespondentin<br />

an der Westküste Kanadas,<br />

überrascht erneut mit einer ungewöhnlichen<br />

Ermittler-Figur. Im Début<br />

«Nutze deine Feinde» war es eine Event-<br />

Managerin, die mysteriöse Todesfälle<br />

aufklärte. In «Unter dunklen Wassern»<br />

lässt Calonego die 33-jährige Historikerin<br />

Sonja Werner ermitteln. <strong>Die</strong>se ist in<br />

British Columbia auf Recherche für eine<br />

Ausstellung über die dichterisch ambitionierte<br />

Deutsche Else Seel, die in den<br />

zwanziger <strong>Jahre</strong>n von Berlin in die kanadische<br />

Pampa emigrierte, um dort einen<br />

ihr unbekannten Tramper zu heiraten.<br />

Dabei verfolgt Werner auch ein anderes<br />

Ziel: den Tod ihres Mannes aufzuklären.<br />

An manchen Stellen wünscht man sich<br />

etwas weniger Einfühlungsprosa, doch<br />

gewinnt Calonego die Leserin mit Thrill<br />

und süffiger Schreibe.<br />

Regula Freuler<br />

Jurek Becker: Mein Vater, die Deutschen<br />

und ich. Aufsätze, Vorträge, Interviews.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 2007. 326 S., Fr. 34.30.<br />

Der deutsche Erzähler und Drehbuchautor<br />

Jurek Becker (1937–1997) stammte<br />

aus dem polnischen Lodz, überlebte als<br />

Kind Ghetto und Konzentrationslager<br />

und kam 1945 mit seinem Vater nach<br />

Ostberlin, wo er bis 1977 blieb. Hier<br />

gelangte er als Schriftsteller zu Ruhm,<br />

siedelte dann aber nach Westberlin über.<br />

Sein Erstling, «Jakob der Lügner», blieb<br />

der beste seiner insgesamt sieben Romane.<br />

Becker war ein unprätentiöser, aber<br />

exakter und anschaulicher, dem mündlichen<br />

Sprachfluss verpflichteter Erzähler<br />

– und zudem ein wacher politischer<br />

Kopf. Davon zeugen seine Poetikvorlesungen,<br />

seine Aufsätze, Vorträge und<br />

Interviews, so etwa der Schlüsseltext<br />

«Mein Judentum». Eine erste Auswahl<br />

dieser kleinen Schriften erschien 1996<br />

im Band «Ende des Grössenwahns»;<br />

Christine Becker, die Witwe des Autors,<br />

legt nun eine massgeblich erweiterte<br />

Sammlung der stets konkreten, undogmatischen<br />

und deshalb nach wie vor<br />

höchst lesenswerten Texte vor.<br />

Manfred Papst<br />

Adolf Endler: Krähenüberkrächzte<br />

Rolltreppe. 79 kurze Gedichte. Wallstein,<br />

Göttingen 2007. 90 Seiten, Fr. 29.50.<br />

Adolf Endler, nach eigenem Bekunden<br />

«eine der verwachsensten Gurken der<br />

neuen Poesie», wurde 1930 in Düsseldorf<br />

geboren und siedelte als begeisterter<br />

Jungkommunist 1955 in die DDR<br />

über. <strong>Die</strong> Euphorie währte nicht lange.<br />

Von den sechziger <strong>Jahre</strong>n an kommentierte<br />

Endler den real existierenden<br />

Sozialismus in kauzigen Gedichten und<br />

borstiger Prosa; bald konnte er nur noch<br />

im Untergrund und im Westen publizieren.<br />

Der wortmächtige Sonderling<br />

vom Prenzlauer Berg brachte 1999 bei<br />

Suhrkamp eine üppige Auswahl seiner<br />

Lyrik unter dem Titel «Der Pudding<br />

der Apokalypse» heraus; nun legt er bei<br />

Wallstein einen Band mit kurzen Gedichten<br />

aus fünfzig <strong>Jahre</strong>n nach. <strong>Die</strong> beiden<br />

Bücher überschneiden sich nicht. Hier<br />

zeigt sich Endler von einer ungewohnten<br />

Seite: als lakonischer Melancholiker von<br />

trockenem Humor.<br />

Manfred Papst<br />

Do<strong>rot</strong>a Masłowska: <strong>Die</strong> Reiherkönigin.<br />

Ein Rap. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.<br />

191 Seiten, Fr. 18.20.<br />

Ein Taschenbuch für Fans von Poetry-<br />

Slams und Spoken-Word-Anlässen:<br />

<strong>Die</strong> 24-jährige polnische Schriftstellerin<br />

Do<strong>rot</strong>a Masłowska nimmt in ihrem<br />

preisgekrönten Zweitling kein Blatt vor<br />

die freche Schnauze. Aber was für eine<br />

poetische Schnauze das ist! Im Singsang<br />

reimt sie einen Kraftausdruck auf<br />

den anderen, bringt das Leben im ehemaligen,<br />

immer noch tristen Osten auf<br />

Punkt und Komma: «Alle leben in der<br />

Platte, steh’n beim Amt auf der Matte,<br />

die Jugend hat Angst, zur Schule zu<br />

gehen, weil andere Kinder ihnen das<br />

Geld abziehen.» <strong>Die</strong> Geschichte dreht<br />

sich lose um den Popsänger Stan Retro,<br />

dem Karriere und Liebe den Bach runtergehen.<br />

Masłowska, die mit ihrem<br />

Début «Schneeweiss und Russen<strong>rot</strong>»<br />

zu Polens Literatur-Shootingstar wurde,<br />

schreibt über die Warschauer Musikszene,<br />

Alkohol, Betrug, Freundschaft und<br />

den ganz gewöhnlichen Überlebenskampf.<br />

Ein Kränzchen winden wir Olaf<br />

Kühls kraftvoller Übersetzung.<br />

Regula Freuler<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 9


Belletristik<br />

Roman Sein Erstling «Drachenläufer» wurde zum Weltbestseller. In seinem neuen Buch erzählt<br />

Khaled Hosseini vom Schicksal zweier Frauen in seiner einstigen Heimat Kabul<br />

Wehe, das Kind ist nur ein Mädchen<br />

Khaled Hosseini: Tausend strahlende<br />

Sonnen. Aus dem Amerikanischen von<br />

<strong>Michael</strong> Windgassen. Bloomsbury,<br />

Berlin 2007. 384 Seiten, Fr. 38.–.<br />

Von Susanne Schanda<br />

Mit seinem neuen Roman knüpft der<br />

afghanisch-amerikanische Autor Khaled<br />

Hosseini an seinen Erfolg des «Drachenläufers»<br />

an. «Tausend strahlende Sonnen»<br />

ist eine packende Hommage an die<br />

afghanischen Frauen und gibt der von<br />

Krieg und Terror zerstörten Stadt Kabul<br />

ein Gesicht – voll Narben, Furchen und<br />

ungebrochenem Lebenswillen. An Leid<br />

fehlt es nicht in diesem Roman. Dass<br />

er überhaupt lesbar ist, verdankt sich<br />

der grenzenlosen Liebe des 42-jährigen<br />

Autors zu seiner einstigen Heimat, die<br />

er als 5-Jähriger verlassen musste.<br />

Seinen ersten Roman «Drachenläufer»,<br />

inzwischen mit sieben Millionen<br />

Exemplaren ein Weltbestseller und vom<br />

Schweizer Hollywood-Regisseur Marc<br />

Forster verfilmt, hat Hosseini noch<br />

aus seinen Erinnerungen geschöpft.<br />

Später ist er nach Afghanistan gereist.<br />

Vieles, was er dort gefunden habe, sei<br />

zu schrecklich, um erzählt zu werden,<br />

sagt der Autor. Auch so gibt es in seinem<br />

neuen Roman noch genügend Episoden<br />

von kaum erträglicher Grausamkeit.<br />

Vor dem Hintergrund der afghanischen<br />

Geschichte von 1973 bis 2003<br />

entfalten sich die individuellen Lebensgeschichten<br />

von zwei Frauen und ihren<br />

Familien. In der Zeit, als aus dem Königreich<br />

Afghanistan eine Republik wird,<br />

könnte das unehelich geborene Mädchen<br />

Mariam seinen 15. Geburtstag feiern.<br />

Doch was es sich von seinem Vater<br />

Krimi Kritische Stimme gegen die Geschlechtertrennung in Saudiarabien<br />

Leiche unter der mörderischen Wüstensonne<br />

Zoe Ferraris: <strong>Die</strong> letzte Sure. Aus dem<br />

Amerikanischen von Matthias Müller.<br />

Pendo, München und Zürich 2007.<br />

400 Seiten, Fr. 32.40.<br />

Von Pia Horlacher<br />

Nichts Neues im Westen, müssen fleissige<br />

Krimileserinnen leider oft feststellen.<br />

Doch nun entführt uns die junge<br />

Amerikanerin Zoe Ferraris mit einem<br />

aussergewöhnlichen Début in den arabischen<br />

Osten und damit in eine uns ganz<br />

unbekannte Welt des literarischen Verbrechens.<br />

Dort wird, unter der mörderischen<br />

Sonne der Wüste, die Leiche der<br />

16-jährigen Nouf gefunden, Tochter aus<br />

reicher, streng islamischer Saudi-Oberschicht.<br />

War sie entführt worden? Oder<br />

geflüchtet aus ihrem goldenen Frauen-<br />

10 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

käfig auf einer streng bewachten Halbinsel?<br />

Gar Opfer eines Ehrenmordes durch<br />

die eigene Familie? Denn die Obduktion<br />

ergibt, dass die junge unverheiratete<br />

Frau schwanger war – ein Todesurteil<br />

in dieser radikalislamischen Welt. Ein<br />

Freund ihres Bruders, der zurückgezogen<br />

lebende Wüstenführer Nayir, ist am<br />

Ermitteln. Für den schüchternen und<br />

strenggläubigen Mann, der sich inbrünstig<br />

nach weiblichen Kontakten sehnt,<br />

aber keine Frau anhören und ansehen,<br />

geschweige denn ansprechen darf, eine<br />

fast unlösbare Aufgabe. Denn Nouf hatte<br />

in diesem System einzig unter ihresgleichen<br />

erlaubten Kontakt, folglich könnten<br />

nur ihre Schwestern und Freundinnen<br />

das Rätsel lösen helfen.<br />

<strong>Die</strong> totale Geschlechtertrennung, so<br />

inhuman wie einst die Rassentrennung<br />

in den USA, ist denn auch das eigent-<br />

wünscht, verweigert dieser der Tochter:<br />

die Aufnahme in seine legitime Familie.<br />

Nach dem Selbstmord ihrer Mutter wird<br />

Mariam an den dreissig <strong>Jahre</strong> älteren<br />

Witwer Raschid verschachert. Als sich<br />

nach mehreren Fehlgeburten herausstellt,<br />

dass sie ihm keine Kinder gebären<br />

kann, beginnt Raschid, sie zu beschimpfen,<br />

zu misshandeln, einzusperren.<br />

Inzwischen sind die sowjetischen<br />

Truppen einmarschiert und werden<br />

während zehn <strong>Jahre</strong>n von den Mujahedin<br />

bekämpft. Bomben fallen auf Kabul,<br />

unzählige Menschen sterben. Eines<br />

Tages kommt Raschid mit dem verletzten<br />

Nachbarsmädchen Laila auf den<br />

Armen nach Hause. <strong>Die</strong> 15-Jährige hat<br />

kürzlich ihre Eltern verloren und ist, was<br />

niemand weiss, von ihrem Jugendfreund<br />

Tarik schwanger. Raschid schöpft neue<br />

Hoffnung auf Nachwuchs und heiratet<br />

die verzweifelte Laila. Als diese neun<br />

Monate später eine Tochter zur Welt<br />

bringt, die Raschid gar nicht gleicht,<br />

schöpft er Verdacht und deckt nun auch<br />

Laila mit Wut und Schlägen ein. <strong>Die</strong> beiden<br />

Ehefrauen verbünden sich.<br />

Was den Roman «Tausend strahlende<br />

Sonnen» zu einer packenden Lektüre<br />

macht, ist neben dem spektakulären Plot<br />

die differenzierte Zeichnung der Frauenfiguren.<br />

Bereits als Kind hat Mariam von<br />

ihrer Mutter gelernt, dass eine Frau in<br />

der afghanischen Gesellschaft nur eines<br />

können muss: aushalten. Doch Mariam<br />

kann mehr und lernt laufend dazu.<br />

Khaled Hosseinis Romanfiguren<br />

sind nicht nur Täter und Opfer. Selbst<br />

der prügelnde Ehemann gewinnt durch<br />

die Liebe seines kleinen Sohnes ein<br />

menschliches Gesicht. Und Mariam, die<br />

als mittelloser Bastard zur Opferrolle<br />

prädestiniert scheint, gibt der Geschich-<br />

te mit ihrem radikalen Befreiungsschlag<br />

schliesslich die ersehnte Wende.<br />

Khaled Hosseini erzählt seine hochdramatische<br />

Geschichte in einfacher<br />

Sprache und trifft mitten ins Herz.<br />

Nicht, dass wir grundsätzlich Neues<br />

über Afghanistan erfahren würden. Dass<br />

den Frauen unter den Taliban nicht nur<br />

der Zutritt zu Schulen und Universitäten,<br />

sondern auch zu vielen Spitälern<br />

verwehrt wurde, war bekannt. Doch<br />

erst wer hier liest, wie Leila in einem<br />

unhygienisch geführten Spital mit Kaiserschnitt<br />

ohne Narkose ihren Sohn<br />

zur Welt bringt, spürt, was das wirklich<br />

bedeutet.<br />

Hosseini richtet den Fokus auf individuelle<br />

Schicksale und gibt dem zerrissenen<br />

Land ein Gesicht. Schmerzlich<br />

nahe bringt er, was die Taliban mit ihrer<br />

pervertierten Auslegung des Islam den<br />

Frauen antun. Wenn am Schluss Apfelbäume<br />

blühen, Abflusskanäle und Brunnen<br />

gebaut werden und Leila schwanger<br />

ist, scheint das des Happy-Ends fast<br />

zu viel. Doch es berührt, wie der Tod<br />

Mariams letztlich akzeptiert wird als<br />

Teil einer schrecklichen Realität. <strong>Die</strong>se<br />

Geschichte hätte wohl nicht erzählt<br />

werden können ohne die Hoffnung, die<br />

aus dem titelgebenden Gedicht des persischen<br />

Lyrikers Saib-e-Tabrizi spricht,<br />

einer Hymne an die Stadt Kabul.<br />

Anzumerken bleibt, dass Hosseinis<br />

Fiktionen von der Realität eingeholt<br />

werden. <strong>Die</strong> Familien der beiden 12-jährigen<br />

Hauptdarsteller der «Drachenläufer»-Verfilmung<br />

fürchten in Afghanistan<br />

um das Leben ihrer Söhne wegen deren<br />

Rolle in einer Vergewaltigungsszene.<br />

Hollywood hat aus Angst vor Racheakten<br />

der Taliban den für 2. November<br />

geplanten Filmstart verschoben. �<br />

liche Thema von Ferraris’ «Finding<br />

Nouf» (so der amerikanische Originaltitel).<br />

Dabei geht die New Yorkerin,<br />

die selbst mit ihrem saudiarabischen<br />

Ehemann in Dschidda, dem Schauplatz<br />

der Geschichte, lebte, raffiniert vor: Das<br />

eigentliche Verbrechen, um das es ihr<br />

geht, ist die ebenso alltägliche wie totale<br />

Versklavung der Frauen unter der Scharia;<br />

doch der Held der Geschichte ist<br />

gerade dafür blind. Mit der tatkräftigen<br />

Hilfe einer rebellischen Gerichtsmedizinerin,<br />

um die selbst der verklemmte<br />

Nayir nicht herumkommt, gehen ihm<br />

t<strong>rot</strong>zdem allmählich die Augen auf.<br />

Ihr Buch über das Leben in einer solchen<br />

Gesellschaft sei «nur» ein Krimi<br />

geworden, sagt Zoe Ferraris, weil eine<br />

Frau dort zuerst tot sein müsse, bis ein<br />

Mann sich mit ihrem Leben beschäftigen<br />

dürfe. �


Biografie Annemarie Schwarzenbachs Erfolgsbuch über den Abenteurer Lorenz Saladin<br />

Liebhaber der Welt<br />

Annemarie Schwarzenbach: Lorenz<br />

Saladin. Ein Leben für die Berge.<br />

Hrsg. und mit einem Essay von<br />

Robert Steiner und Emil Zopfi.<br />

Lenos, Basel 2007. 272 Seiten, Fr. 36.–.<br />

Von Angelika Overath<br />

Sie waren beide jung und charismatisch.<br />

Am 22. Juni 1936 stellt die «Zürcher<br />

Illustrierte» unter dem Titel «Daheim<br />

und draussen» zwei Weltreisende vor:<br />

Lorenz Saladin, den Bergsteiger, der<br />

zuletzt Touren im Kaukasus, im Pamirgebirge<br />

in Zentralasien und in den daran<br />

anschliessenden Tienschan unternommen<br />

hatte, und die androgyne Schönheit<br />

Annemarie Schwarzenbach, die mutige<br />

Fotoreporterin, einmal im Brautkleid an<br />

der Seite des Diplomaten Claude Clarac,<br />

das andere Mal männlich gekleidet<br />

bei einer archäologischen Ausgrabung.<br />

Lorenz Saladin, der meist mittellose<br />

Gelegenheitsarbeiter, und Annemarie<br />

Schwarzenbach, die höhere Tochter<br />

eines Zürcher Seidenweberei-Millionärs<br />

und einer Mutter aus der Generalsfamilie<br />

Wille, kannten sich nicht.<br />

Wenige Monate später, am 17. September<br />

1936, ist Lorenz Saladin tot. Er starb<br />

mit 39 <strong>Jahre</strong>n auf dem Rückweg nach der<br />

Besteigung des Siebentausenders Khan<br />

Tengri im Osten Kirgistans. Schwarzenbach<br />

erfährt zufällig vom Schicksal des<br />

Schweizer Bergsteigers. Sie trifft seinen<br />

jüngeren Bruder Peter und erhält<br />

von ihm die Vollmacht, Lorenz Saladins<br />

Hinterlassenschaften abzuholen. Als<br />

antifaschistischer Reporterin gelingt es<br />

ihr, die nötigen Visa zu bekommen und<br />

nach Moskau zu reisen. Sie befragt die<br />

russischen Bergsteigergefährten.<br />

Mit Notizbüchern Saladins und 1200<br />

Negativen von Fotografien, die er mit<br />

seiner Leica gemacht hatte, kehrt sie<br />

zurück und beginnt die Biografie jenes<br />

Mannes, von dem sie schreiben wird:<br />

«Er war kein Abenteurer, er wurde<br />

nicht blind durch die Kontinente gejagt,<br />

er floh nicht, er war ein Liebhaber der<br />

Welt.» War das so? Oder wünschte sie<br />

sich, dass es für ihn so gewesen sein<br />

möge? Mit keinem Wort geht sie zum<br />

Beispiel auf Saladins gescheiterte Heiratspläne<br />

ein.<br />

Dunkle Wahlverwandtschaft<br />

Im Juli 1938 schliesst Schwarzenbach<br />

während eines Drogenentzugs am<br />

Bodensee das Manuskript ab. Der Band<br />

erscheint im selben Jahr; er wird ihr zu<br />

Lebzeiten meistverkauftes Buch. Annemarie<br />

Schwarzenbach stirbt 1942 an den<br />

Folgen eines Fahrradunfalls in Sils im<br />

Engadin. Sie ist 35 <strong>Jahre</strong> alt geworden.<br />

<strong>Die</strong> nun erschienene Neuausgabe ihrer<br />

Saladin-Biografie verschränkt das Leben<br />

zweier Königskinder. Im Zentrum steht<br />

der dramatisch aufgebaute, atmosphärisch<br />

dichte Text von Schwarzenbach,<br />

der sich auch heute noch mit Spannung<br />

liest. <strong>Die</strong> Herausgeber – beide Schriftsteller<br />

und passionierte Bergsteiger<br />

MARC KINDERMANN / VISUM<br />

EWGENI ABALAKOW<br />

Tienschan-Gebirge in<br />

Kirgistan (oben).<br />

Lorenz Saladin sitzt<br />

erschöpft am Gipfel<br />

(unten).<br />

– haben ihm aber gleichsam eine historisch-kritische<br />

Einfassung gegeben. Aus<br />

dem Wissen und den Möglichkeiten der<br />

späteren Generationen heraus konnten<br />

Emil Zopfi (Jahrgang 1943) und Robert<br />

Steiner (Jahrgang 1976) Saladins Leben<br />

und die Umstände seiner Expeditionen<br />

recherchieren und in einem engagierten<br />

Nachwort darstellen. Sie profilieren<br />

nun die russischen Expeditionsteilnehmer<br />

deutlicher und korrigieren Fehler.<br />

Erschütternd ist ihr Abriss, der zeigt,<br />

wie viele der mutigen Bergsteiger an<br />

der Seite Saladins dem stalinistischen<br />

Terror zum Opfer fielen.<br />

Deutlich wird bei dieser sorgfältig<br />

gestalteten Neuausgabe zweierlei: Da<br />

sind die Lebenslinien eines leidenschaftlichen<br />

Jungen aus dem solothurnischen<br />

Schwarzbubenland, der gegen alle Konventionen<br />

zu einem der grössten Bergsteiger<br />

seiner Zeit wurde und zudem auf<br />

dem besten Weg war, ein renommierter<br />

Fotograf zu werden. Und da ist die dunkle<br />

Wahlverwandschaft, die eine junge,<br />

psychisch gefährdete Schriftstellerin<br />

und Fotoreporterin zu diesem fremden<br />

und ihr doch eigentümlich nahen Leben<br />

empfand. Schwarzenbach war keine<br />

Bergsteigerin, und doch hat sie mit viel<br />

Einfühlungsvermögen jene Leidenschaft<br />

beschrieben, die einen Menschen unter<br />

Einsatz des Lebens in die eisigen Höhen<br />

zieht. Auch die morphinabhängige<br />

Schwarzenbach hat sich nicht geschont,<br />

vielmehr suchte sie auf ihren Reisen<br />

immer wieder jene elementaren Härten<br />

extremer Landschaften, die ihr ein<br />

Gegengewicht zu dem unverstandenen<br />

Liebesentzug ihres Alltag waren.<br />

Reisen wie eine Irrende<br />

Saladins Tagebucheintragungen bestechen<br />

durch eine einfache, klare Sprache:<br />

«Wir gehen am Khan Tengri nicht etappenweise,<br />

sondern direkt mit schweren<br />

Säcken. Abmarsch um halb zehn Uhr<br />

abends, über den nach Süden abfallenden<br />

Gletscher, sehr leicht bei Mondlicht.»<br />

Seine Fotografien zeigen ihn als<br />

einen geduldigen und stilsicheren Beobachter,<br />

der einen Sinn für Bildkomposition<br />

und Dramatik hatte. <strong>Die</strong> Fotografin<br />

Schwarzenbach muss die Qualität der<br />

Aufnahmen sofort erkannt haben. Saladin<br />

fotografierte Etappen und Szenen<br />

der Besteigungen und immer wieder<br />

auch Momente der fremden Kulturen:<br />

komplizierte Nomadenzelte, Märkte,<br />

ein Mädchen beim Melken einer Stute,<br />

einen muslimischen Bauern im Mohnfeld,<br />

Reihen von Traktoren.<br />

Wer diese Bilder von Lorenz Saladin<br />

sieht, mag sich an den Nachruf von<br />

Arnold Kübler auf Annemarie Schwarzenbach<br />

erinnern und von hierher ihre<br />

erstaunliche Verbundenheit zu dem<br />

Schweizer Bergsteiger auf dem Dach<br />

der Welt verstehen: «Weil sie nicht wie<br />

eine Ausflüglerin reiste, sondern wie<br />

eine Irrende, gab es keine Schranken<br />

für ihre Anteilnahme am Fremden, und<br />

die Unvoreingenommenheit war ihre<br />

fruchtbare Begleiterin.» �<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 11


AP<br />

Essay<br />

<strong>Die</strong> russische Revolution wurde jahrzehntelang<br />

von westlichen Intellektuellen idealisiert. <strong>Die</strong>se<br />

verkennen auch heute das diktatorische Regime in<br />

Russland – und anderswo. Das ist eine Form von<br />

Korruption, schreibt Anne Applebaum<br />

Propaganda<br />

und Realität<br />

Vor neunzig <strong>Jahre</strong>n rollten zwei Revolutionswellen<br />

über Russland und fegten die zaristische<br />

Gesellschaft hinweg wie ein Kartenhaus. Alexander<br />

Kerenski, der Führer der ersten provisorischen<br />

Regierung, schrieb später einmal, nach<br />

der Abdankung des Zaren im März 1917 seien<br />

«alle politischen und taktischen Programme,<br />

so kühn und so gut durchdacht sie auch waren,<br />

ziel- und nutzlos im Raum gehangen».<br />

Obwohl die provisorische Regierung<br />

schwach, die Unzufriedenheit im Volk weitverbreitet<br />

und die Wut über die Schlächterei<br />

des Ersten Weltkriegs gross war, hatte kaum<br />

jemand erwartet, dass die Macht den Bolsche-<br />

Anne Applebaum<br />

<strong>Die</strong> US-Historikerin Anne Applebaum, 43, ist<br />

Kolumnistin und Mitglied der Chefredaktion<br />

der «Washington Post». Zuvor arbeitete<br />

die Russland-Expertin für den britischen<br />

«Economist» und andere Blätter in Warschau<br />

und London. Sie verfasste zwei Bücher zur<br />

osteuropäischen Geschichte: «Between East<br />

and West. Across the Borderlands in Europe»<br />

(1994) und «Gulag – A History» (2003). Für<br />

Letzteres erhielt sie den Pulitzer-Preis. Zurzeit<br />

arbeitet sie an einem Buch über die Errichtung<br />

der Sowjetherrschaft in Zentraleuropa nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg.<br />

Den vorliegenden Text schrieb Anne Applebaum<br />

für die «NZZ am Sonntag» zum 90.<strong>Jahre</strong>stag<br />

der russischen Revolution von 1917.<br />

12 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

wiken in die Hände fallen könnte. Im Ausland<br />

kannte man sie kaum. Nach einer bezeichnenden,<br />

aber kaum wahren Anekdote stürzte ein<br />

Beamter ins Büro des österreichischen Aussenministers<br />

und schrie: «Exzellenz, es gab eine<br />

Revolution in Russland.» Worauf der Minister<br />

grunzte: «Wer könnte schon eine Revolution<br />

in Russland machen. Sicher nicht der harmlose<br />

Herr T<strong>rot</strong>zki aus dem Cafe Central.»<br />

Er irrte sich: Am 25. Oktober 1917 – am 7.<br />

November neuerer Zeitrechnung – plünderte<br />

ein Mob den Winterpalast, angestiftet vom<br />

mysteriösen und launischen Bolschewiken-<br />

Führer Wladimir Iljitsch Lenin, und verhaftete<br />

die Minister der provisorischen Regierung,<br />

die dort residierten. In wenigen Stunden hatte<br />

Lenin seinen Staatstreich beendet und war<br />

Führer des Landes geworden, das er dann in<br />

Sowjetunion umbenannte.<br />

Putsch, Terror, Zwangswirtschaft<br />

Frieden gab es nicht. Wie heute oft vergessen<br />

wird, endeten die Kämpfe nicht mit dem bolschewistischen<br />

Putsch. In den <strong>Jahre</strong>n danach<br />

kam es zu blutigen Schlachten im ganzen Land,<br />

gefolgt von Hungersnöten, denen Hunderttausende<br />

zum Opfer fielen. Ungewählte Kommissare<br />

etablierten sich in den Dörfern und<br />

übten «revolutionäre Gerechtigkeit», was oft<br />

so viel hiess wie willkürliche Massenexekutionen.<br />

Während ihre neue Rote Armee auf dem<br />

Lande kämpfte, gaben sich die Bolschewiken<br />

in den Städten grosse Mühe, jede intellektuelle<br />

und politische Opposition zu vernichten.<br />

Neben dem Bürgerkrieg gab es den <strong>rot</strong>en Terror<br />

– Verhaftungen, Zwangsarbeitslager, Folter<br />

und Mord –, der manchmal abebbte, aber nie<br />

ganz aufhörte.<br />

In dieser Atmosphäre von Krieg und Gewalt<br />

wurde der sowjetische Staat geboren. Von<br />

Anfang an scheuten die Bolschewiken die<br />

Herrschaft des Rechts zugunsten von Willkürentscheidungen,<br />

mit dem Argument, dies<br />

sei im Moment unumgänglich, vor allem um<br />

die Gegenrevolution abzuwehren. <strong>Die</strong> meisten<br />

frühen Entscheidungen der Bolschewiken, auch<br />

die Gründung des Einparteienstaates und die<br />

Errichtung der ersten Zwangsarbeitslager, wurden<br />

damit gerechtfertigt. <strong>Die</strong> Wirtschaft wurde<br />

AKG<br />

Romantisierung der Revolution: «Ein Bolschewik»,<br />

Gemälde von Boris M. Kustodijew aus dem Jahr 1920.<br />

militarisiert – T<strong>rot</strong>zki selbst schwärmte davon,<br />

die Arbeiterschaft wie ein Bataillon zu führen<br />

–, und dabei blieb es. Solange es sie gab, konnte<br />

die Sowjetunion besser Waffen produzieren als<br />

Seife, B<strong>rot</strong> oder Möbel.<br />

Mit der Zeit politisierten die Bolschewiken<br />

auch die Gerichte, die Polizei, das Bildungswesen<br />

und schliesslich die ganze Kultur. Immer<br />

im Namen des Kampfes gegen reale und eingebildete<br />

Feinde beharrten sie auf der staatlichen<br />

Kontrolle aller Bereiche menschlicher Aktivitäten,<br />

von Fabriken und Minen bis zu Kindergärten,<br />

Markensammler-Vereinen und Schuhmacherbuden.<br />

Es wurde unmöglich, eine andere<br />

Meinung zu äussern, ja es wurde unmöglich,<br />

überhaupt ausserhalb staatlicher Kontrolle zu<br />

leben und zu arbeiten. In relativ kurzer Zeit


hatten die Bolschewiken die öffentlichen und<br />

privaten Institutionen ihres Landes so durchgreifend<br />

verändert, dass es unmöglich wurde,<br />

das Rad zurückzudrehen.<br />

Sie waren dabei so erfolgreich, dass vieles<br />

von dem, was heute in Russland passiert, immer<br />

noch dem Umbau der Gesellschaft zuzuschreiben<br />

ist, den Lenin 1917 begonnen hatte. Sogar<br />

im Russland von heute – über 15 <strong>Jahre</strong> nach dem<br />

Zusammenbruch der Sowjetunion von 1991 – ist<br />

das intellektuelle und kulturelle Erbe der Oktoberrevolution<br />

noch aussergewöhnlich stark. <strong>Die</strong><br />

Verdächtigung von Menschen und Organisationen,<br />

die nicht eindeutig mit dem Staat verbunden<br />

sind, das Desinteresse für Meinungsfreiheit<br />

und freie Presse, die Verachtung für Privatbesitz<br />

und für den Rechtsstaat, die paranoide Haltung<br />

gegenüber Ausländern und ausländischen<br />

Spionen: All diese Dinge sind seit den ersten<br />

umkämpften Tagen der Revolution nicht mehr<br />

zu trennen vom russischen Nationalbewusstsein,<br />

und sie sind immer noch da.<br />

Natürlich kann man argumentieren, dass<br />

einige dieser Elemente der nationalen Psychologie<br />

älter sind als die Revolution. Aber Lenin<br />

hat sie breiter und tiefer verankert. Stalin hat<br />

sie mit Terror durchgesetzt. Und nun gebraucht<br />

Wladimir Putin Geld und Propaganda, um sie in<br />

einem modernen, postsowjetischen Kontext am<br />

Leben zu erhalten.<br />

Das «Doublethink»-Prinzip<br />

<strong>Die</strong> Revolution schuf in der Sowjetunion eine<br />

Kulturform, die beispiellos ist. Ich habe bisher<br />

zwei Bücher geschrieben über die kommunistische<br />

Welt und arbeite nun an einem dritten.<br />

Das hat mir die Möglichkeit gegeben, mit vielen<br />

Menschen zu sprechen, die auf allen Ebenen der<br />

sowjetischen Gesellschaft gelebt und gearbeitet<br />

haben. Sie alle, ob sie nun früher Dissidenten,<br />

Häftlinge oder Beamte waren, beschreiben<br />

eine Gesellschaft, die von einer bizarren Dualität<br />

beherrscht wird. Auf der einen Seite eine<br />

Wirtschaft, die kaum funktionierte, mit leeren<br />

Läden und alten Frauen, die zu arm waren,<br />

um ihr Zimmer zu heizen. Auf der anderen<br />

Spruchbänder, die den Triumph des Sozialismus<br />

verkündeten und die «heroischen Errungenschaften<br />

des sowjetischen Vaterlandes».<br />

Wer nicht einverstanden war, wurde verhaftet.<br />

Und die Leute akzeptierten die Propaganda, aus<br />

Angst, aus Apathie und auch weil sie glaubten,<br />

sie würde irgendwann wahr werden.<br />

Auch dieses «Doublethink», wie es George<br />

Orwell genannt hatte – dass man zwei sich ausschliessende<br />

Ansichten miteinander vereinbaren<br />

kann –, war bereits in den frühesten Tagen<br />

der Revolution etabliert worden. <strong>Die</strong> Bolschewiken<br />

fühlten sich gezwungen, sofort den<br />

Sieg des Proletariats zu verkünden, obwohl<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 13


Essay<br />

der Kampf andauerte und obwohl Russland<br />

in Wahrheit von einer kleinen Gruppe von<br />

Intellektuellen regiert wurde, von denen viele<br />

das Proletariat zutiefst verachteten. Einige<br />

wenige Personen hatten schon damals schier<br />

unbegrenzte Macht, behaupteten aber vor der<br />

Öffentlichkeit, dass dem nicht so sei.<br />

Mit der Zeit lernten die Menschen einfach<br />

die Lücke zwischen Propaganda und Realität<br />

zu akzeptieren. Und auch hier ist festzustellen:<br />

<strong>Die</strong> Menschen in Putins Russland tun das<br />

immer noch. Putins momentaner Erfolg geht<br />

zum Teil auf das Geschick zurück, mit welchem<br />

er den Schein von Demokratie wahrt,<br />

während er sie in Wahrheit jedes bedeutungsvollen<br />

Inhaltes beraubt. So hat er es zum Beispiel<br />

immer abgelehnt, zum dritten Mal für die<br />

Präsidentenwahl anzutreten, weil dies gegen<br />

die Verfassung verstosse. Stattdessen will er<br />

nun Premierminister werden, und man kann<br />

davon ausgehen, dass er die russische Verfassung<br />

in diesem Sinne umschreiben wird. Putin<br />

hält sich unechte politische Parteien, kontrolliert<br />

die Medien, manipuliert Wahlen. Unabhängige<br />

Denker werden wie früher als ausländische<br />

Spione bezeichnet. Und doch bewahrt<br />

Putin die äusserlichen Formen einer verfassungsmässigen<br />

Demokratie, genau wie es die<br />

Sowjetunion einst tat – und für die meisten<br />

Russen ist das ganz akzeptabel.<br />

Romantisierung der Revolution<br />

Vielleicht kann man nichts anderes erwarten,<br />

als dass die Russen damals das bolschewistische<br />

Modell akzeptierten: Sich dagegenzustellen,<br />

hiess Verhaftung oder Tod. Und in der<br />

Gesellschaft hält sich noch immer eine latente<br />

Angst. Erstaunlicher ist im Rückblick das Ausmass,<br />

in dem Ausländer die Revolution bewunderten:<br />

von kambodschanischen Bauern und<br />

angolanischen Rebellen bis zu französischen<br />

Philosophen und britischen Politikern.<br />

Natürlich setzte diese Romantisierung der<br />

Revolution nicht sofort ein. In den 1920er <strong>Jahre</strong>n<br />

p<strong>rot</strong>estierten die westlichen Sozialisten,<br />

deren Genossen von den Bolschewiken ins<br />

Gefängnis geworfen wurden, lautstark gegen<br />

die Verbrechen der Revolution. Aber nach<br />

1930, als die Welt von einer Wirtschaftskrise<br />

geschüttelt wurde, änderte sich der Ton. Westliche<br />

Intellektuelle begannen, die Sowjetunion<br />

zu besuchen, wollten dort lernen, was man zu<br />

Hause gebrauchen konnte. In den USA wurde<br />

John Reed, ein amerikanischer Kommunist, der<br />

die Geschehnisse von 1917 beschrieben hatte,<br />

zu einer Art Volksheld, ebenso wie Lenin, die<br />

Hauptperson in Reeds Buch «Zehn Tage, die<br />

die Welt erschütterten».<br />

In den 1930er und 1940er <strong>Jahre</strong>n bemühte sich<br />

ein Teil der westlichen Linken sogar, den Terror<br />

zu erklären und zu entschuldigen, der damals<br />

die Sowjetunion verschlang, gerade weil sie<br />

gewisse Aspekte des sowjetischen Experiments<br />

zu Hause ausprobieren wollten. Damals wie<br />

später dienten westliche Sichtweisen auf Russland<br />

immer auch westlichen politischen Zielen:<br />

Besucher von Russland sahen allzu oft nur das,<br />

was ihren Anliegen zu Hause nützte.<br />

Seit 1989 ist die Oktoberrevolution als Politikum<br />

in den Hintergrund getreten: <strong>Die</strong> Haltung<br />

zur Sowjetunion spaltet westliche Politik<br />

nicht mehr, und kaum jemand sieht in Lenin<br />

noch etwas anderes als den ersten totalitären<br />

Diktator. T<strong>rot</strong>zdem lassen sich westliche Intellektuelle<br />

und Politiker noch immer zum Narren<br />

halten von den geistigen Erben der Revolution:<br />

von Wladimir Putin und seinen Imitatoren<br />

in Ländern wie Venezuela und Iran. Wie in<br />

der Vergangenheit sind wir immer noch allzu<br />

schnell bereit, die Korruption unserer eigenen<br />

Sprache zu tolerieren. <strong>Die</strong> Sowjetunion<br />

sprach von Frieden und unterhielt gleichzeitig<br />

14 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

RIA NOWOSTI / AKG<br />

<strong>Die</strong> Erstürmung des Winterpalasts am 25. Oktober<br />

(7. November) 1917 in St. Petersburg.<br />

die am meisten militarisierte Gesellschaft der<br />

Welt. Heute nennt sich Putin «Demokrat», um<br />

im Forum der G-8 akzeptiert zu werden. Mit<br />

seiner Art des Doublethink unterminiert er<br />

die westliche Kritik am eigenen undemokratischen<br />

Verhalten. Diktatorischen Verhaltens<br />

angeklagt, dreht er den Spiess um und erklärt,<br />

George W. Bush sei der wahre Diktator.<br />

Der Westen hat wenig gelernt<br />

Eine ganz ähnliche Taktik gebraucht der iranische<br />

Präsident Ahmadinejad: Als er im vergangenen<br />

Winter eine Anzahl von Holocaust-<br />

Leugnern einlud, den Holocaust in Teheran zu<br />

diskutieren, behauptete er, damit die «Dissidenten»<br />

des Westens in Schutz zu nehmen. Das<br />

ist eine atemberaubende Lüge von einem Mann,<br />

dessen Regime Akademiker einsperrt, weil sie<br />

das «Verbrechen» begangen haben, akademische<br />

Konferenzen zu organisieren.<br />

«Putin bewahrt die äusseren<br />

Formen einer verfassungs-<br />

mässigen Demokratie, genau<br />

wie es die Sowjetunion einst<br />

tat – für die meisten Russen<br />

ist das ganz akzeptabel.»<br />

Doch er bekam Applaus – ein Beweis dafür,<br />

dass wir im Westen t<strong>rot</strong>z der Erfahrung des<br />

vergangenen Jahrhunderts noch immer gerne<br />

an den guten Willen von fremden Diktatoren<br />

glauben, noch immer die revolutionäre Gewalt<br />

anderer Völker verherrlichen und noch immer<br />

beides durch das Prisma unserer eigenen politischen<br />

Debatten sehen. Wenn Putin oder Ahmadinejad<br />

den amerikanischen Präsidenten kritisieren,<br />

dann stimmen ihnen jene Europäer und<br />

Amerikaner zu, die Präsident Bush selbst auch<br />

nicht mögen. Meinungsumfragen zeigen, dass<br />

eine erstaunliche Zahl von Europäern Amerika<br />

für das gefährlichste Land der Welt hält – gefährlicher<br />

als Russland, das seine Nachbarn im Baltikum<br />

und in Georgien offen erpresst, einen<br />

versteckten Krieg in Tschetschenien führt und<br />

sein Öl als Waffe gegen die Europäer einsetzt;<br />

gefährlicher als Iran, das weltweit islamistische<br />

Terroristen unterstützt, und gefährlicher als<br />

Nordkorea, wo Hunderttausende Menschen<br />

in Konzentrationslagern sitzen, deren direktes<br />

Vorbild Stalins Gulag ist.<br />

<strong>Die</strong> Lektion ist ernüchternd: Wir haben im<br />

Westen wenig gelernt von der Katastrophe der<br />

russischen Revolution, der Zerstörung, die sie<br />

bewirkte, den vielen Menschenleben, die sie<br />

forderte und dem verheerenden Schaden, den<br />

sie Umwelt und Wirtschaft zufügte. Vielleicht<br />

sollten wir ihren 90. Geburtstag benutzen, um<br />

sie zu erforschen, darüber nachzudenken und<br />

sie neu zu bewerten – einmal mehr. �<br />

Übersetzung aus dem Amerikanischen von<br />

Kathrin Meier-Rust


GAËTAN BALLY / KEYSTONE<br />

Kolumne<br />

Charles Lewinskys Zitatenlese<br />

Charles Lewinsky,<br />

61, ist Schriftsteller,<br />

Radio- und TV-Autor<br />

und lebt in Frankreich.<br />

Sein Roman<br />

«Melnitz» (2006)<br />

wurde zum Bestseller.<br />

Entweder sie kaufen<br />

ein Buch und lesen<br />

es nicht. Oder sie<br />

leihen ein Buch und<br />

geben es nicht wieder und lesen es<br />

auch nicht. Oder sie geben es wieder<br />

und haben es nicht gelesen.<br />

Irmgard Keun<br />

Es soll hier nicht von allen Büchern<br />

die Rede sein, die kein Mensch liest.<br />

Davon gibt es wohl mehr, als wir<br />

Autoren uns gern eingestehen. Sondern<br />

nur von denen, über die man sich<br />

in ungelesener Weise fachmännisch<br />

äussert.<br />

In diesem von der Literaturwissenschaft<br />

sträflich vernachlässigten<br />

Forschungsbereich unterscheiden wir<br />

drei Untergruppen:<br />

Das gesellschaftliche Nichtlesen.<br />

Eine sehr nette Bekannte fühlte sich<br />

einmal der Höflichkeit halber verpflichtet,<br />

mir zu sagen, wie gut ihr<br />

doch einer meiner Romane gefallen<br />

habe. Ich fragte sie nach einer<br />

bestimmten Figur, und – o Wunder!<br />

– gerade dieser Charakter hatte ihr<br />

ganz besonderes Lesevergnügen bereitet.<br />

Obwohl die Figur in dem Buch gar<br />

nicht vorkam.<br />

<strong>Die</strong>se Art des Nichtlesens erwächst<br />

aus lobenswerter Absicht und erfreut<br />

den Autor zusätzlich, wenn sie mit<br />

dem tantiementrächtigen Kauf eines<br />

Buches (vorzugsweise Hardcover)<br />

verbunden ist.<br />

Das gebildete Nichtlesen.<br />

«Ulysses», «A la recherche du temps<br />

perdu» und «Der Mann ohne Eigenschaften».<br />

Im kulturelitären Diskurs<br />

ist es fast schon Verpflichtung,<br />

zumindest einmal pro Gespräch oder<br />

Kritik eines dieser drei Werke als<br />

Vergleichsgrösse anzuführen. Dabei<br />

spielt es keine Rolle, wenn man von<br />

den drei Büchern nicht mehr weiss,<br />

als dass in dem einen furchtbar komplizierte<br />

Wortspiele gemacht und in<br />

dem andern Madeleines gegessen<br />

werden (was immer das sein mag).<br />

Ach ja, und natürlich, dass Robert<br />

Musil kein österreichischer Fussballer<br />

ist. Ich habe bisher noch niemanden<br />

getroffen, der alle drei Bücher wirklich<br />

gelesen hätte. Aber sie machen sich im<br />

Gespräch ebenso gut wie im Regal.<br />

Das journalistische Nichtlesen.<br />

Es gibt Bücher, über die kann man<br />

als Journalist schreiben – und als<br />

Zeitungsleser fachkundig mitreden<br />

–, obwohl man nicht mehr von ihnen<br />

kennt als einen einzelnen Kernsatz.<br />

Und den hat wahrscheinlich ein Journalistenkollege<br />

aus dem Klappentext<br />

zitiert. Eva Hermans Bücher gehören<br />

zu dieser Kategorie. Niemand liest sie,<br />

aber jeder weiss, dass darin die Forderung<br />

aufgestellt wird: «Frauen zurück<br />

an den Herd!»<br />

Aber vielleicht muss man solche<br />

Bücher wirklich nicht<br />

lesen. Sonst ist man dann<br />

hinterher auf der Suche<br />

nach der eigenen verlorenen<br />

Zeit.<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

Heidi Witzig: Wie kluge Frauen alt<br />

werden. Was sie tun und was sie lassen.<br />

Xanthippe, Zürich 2007. 320 Seiten, Fr. 34.–.<br />

Ob der feministische Impetus, der seit<br />

den siebziger <strong>Jahre</strong>n positive Frauenbilder<br />

propagiert, nun auch positive<br />

Altersbilder für Frauen hergibt? Das war<br />

die Ausgangsfrage für die Historikern<br />

Heidi Witzig, um Frauen in der dritten<br />

Lebensphase zu porträtieren, die beruflich<br />

aktiv waren und sich gegen patriarchalische<br />

Einschränkungen gewehrt<br />

hatten. Zusammengekommen sind 10<br />

feministisch engagierte Frauen mit Jahrgängen<br />

von 1917 bis 1944, die in der<br />

Schweiz leben, darunter Marthe Gosteli<br />

vom Archiv für Frauengeschichte, die<br />

Psychologin Julia Onken, die Basler Professorin<br />

Regina Wecker. <strong>Die</strong> selbstbewusst-lebensklugen,<br />

manchmal kämpferischen<br />

Interviews hat die Autorin nach<br />

Themen gebündelt: Beruf, Pensionierung,<br />

Geld, Beziehungen, Alter. Das ist<br />

etwas viel auf einmal – und vibriert doch<br />

mit weiblichem Mut, aktiver Lebensgestaltung<br />

und Selbstreflexion.<br />

Kathrin Meier-Rust<br />

Heiko Haumann (Hrsg.): <strong>Die</strong> Russische<br />

Revolution 1917. Studienbuch. Böhlau,<br />

Köln 2007. 182 Seiten, Fr. 23.–.<br />

<strong>Die</strong> Aufsatzsammlung von Heiko Haumann,<br />

Professor für Osteuropäische<br />

Geschichte an der Universität Basel,<br />

und seinem Team rückt einfache Teilnehmer<br />

der russischen Revolution<br />

und deren Lebenswelten ins Zentrum.<br />

Geschildert werden die Prägung im Exil<br />

– unter anderem in der Schweiz –, die<br />

revolutionären Ereignisse in Dörfern<br />

und an der Peripherie, auch aus Sicht<br />

eines Schweizer Reisenden (Hans Limbach).<br />

<strong>Die</strong> Autoren erörtern die Folgen<br />

der Umsturzes: Sozialismus, Gegenrevolution,<br />

Stalinismus, ebenso wie<br />

die Utopie vom neuen Menschen. Erst<br />

gegen Schluss verlässt Haumann die<br />

weitgehend historisierende Bilanzierung<br />

des Jahrhundertereignisses und<br />

wirft, etwas zögerlich, die Frage auf, ob<br />

die russische Revolution nicht als «Irrweg<br />

der Geschichte» abzulegen sei. Eine<br />

Zeittafel, ein Glossar, ein Personen- und<br />

ein Sachwortregister runden den handlichen<br />

Studienband ab.<br />

Urs Rauber<br />

Roderich Ptak: <strong>Die</strong> maritime Seidenstrasse.<br />

C. H. Beck, München 2007.<br />

368 Seiten, Fr. 43.70.<br />

Als Kolumbus sich im 15. Jahrhundert<br />

aufmachte, den Seeweg nach Indien zu<br />

entdecken, war er spät dran. Araber,<br />

Inder und vor allem Chinesen schipperten<br />

damals schon längst auf den Meeren<br />

zwischen Ostafrika, Indien, Japan und<br />

China. China galt in Asien als Grossmacht<br />

und beherrschte das, was der<br />

Sinologe Roderich Ptak die «maritime<br />

Seidenstrasse» nennt. Ptak beschreibt<br />

die Entwicklung der erfolgreichen asiatischen<br />

Seefahrt von ihren Anfängen,<br />

das heisst von den chinesischen Qin<br />

und Han im 3. Jahrhundert v. Chr., bis<br />

ins 16. Jahrhundert und eröffnet so völlig<br />

neue Perspektiven auf ein bis anhin<br />

– mindestens in Europa – vernachlässigtes<br />

Geschichtskapitel. In China hingegen<br />

erinnert man sich mit Stolz und<br />

neuem Selbstbewusstsein an diese Epoche,<br />

an die es heute anzuknüpfen gilt.<br />

Das Thema entbehrt damit nicht einer<br />

gewissen Aktualität.<br />

Geneviève Lüscher<br />

Harald Bergsdorf: <strong>Die</strong> neue NPD.<br />

Antidemokraten im Aufwind. Olzog,<br />

München 2007. 160 Seiten, Fr. 25.90.<br />

<strong>Die</strong> Nationaldemokratische Partei<br />

Deutschlands (NPD) gibt es als rechtsextremistische<br />

Splittergruppe schon<br />

seit 1964. Doch erst seit Udo Voigt, ein<br />

ehemaliger Hauptmann der Bundeswehr<br />

und Politologe, 1996 ihre Führung<br />

übernommen hat, hat sie sich zu einer<br />

aggressiven antikapitalistischen Kraft<br />

entwickeln können, die in zwei Parlamenten<br />

(Sachsen und Mecklenburg-<br />

Vorpommern) Einzug gehalten hat. Dass<br />

die Rechtspopulisten Deutschlands<br />

t<strong>rot</strong>zdem – im Vergleich zu Frankreich,<br />

Italien, Österreich und der Schweiz<br />

– geradezu marginal sind, warum man<br />

ihren dreisten Halbwahrheiten nicht<br />

mit Hysterie, sondern mit Argumenten<br />

entgegentreten sollte, gerade auch im<br />

Fernsehen, das erklärt der Bonner Politikwissenschafter<br />

Harald Bergsdorf in<br />

seiner wohltuend nüchternen und gut<br />

lesbaren Darstellung der Geschichte,<br />

Strategie, Ideologie und jüngsten Erfolge<br />

der NPD.<br />

Kathrin Meier-Rust<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 15


Sachbuch<br />

Schweizer Geschichte Eine neue Biografie schildert<br />

das Leben Saly Mayers, eines führenden, aber<br />

umstrittenen Exponenten der Schweizer Juden<br />

Plädoyer für<br />

einen<br />

Unverstandenen<br />

Hanna Zweig-Strauss: Saly Mayer,<br />

1882–1950. Ein Retter jüdischen Lebens<br />

während des Holocaust.<br />

Böhlau, Köln 2007. 392 Seiten, Fr. 66.–.<br />

Von Paul Stauffer<br />

<strong>Die</strong> quellennah erarbeitete Darstellung,<br />

die Hanna Zweig-Strauss dem Wirken<br />

von Saly Mayer (1882–1950) widmet,<br />

bemüht sich um eine gerechte Würdigung<br />

dieses zeitweise umstrittenen<br />

Repräsentanten des schweizerischen<br />

Judentums. Als geschäftsführender<br />

Sekretär und – seit 1936 – Präsident des<br />

Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes<br />

(SIG) fand der St. Galler Textilunternehmer<br />

sich in einer konfliktträchtigen<br />

Situation. Einerseits lag ihm<br />

viel daran, keinerlei Zweifel an seiner<br />

staatsbürgerlichen Loyalität und seinem<br />

Schweizer Patriotismus aufkommen zu<br />

lassen. Anderseits musste er befürchten,<br />

dass die Solidarität, die er als Jude<br />

seinen bedrohten Glaubensbrüdern in<br />

Hitlers Machtbereich schuldete, mit der<br />

restriktiven Grundtendenz der schweizerischen<br />

Ausländerpolitik früher oder<br />

später in Konflikt geraten würde.<br />

Partnerschaft mit Rothmund<br />

<strong>Die</strong> Autorin vermag zu zeigen, weshalb<br />

das hier angelegte Spannungspotenzial<br />

lange Zeit nicht zutage trat: Saly Mayer<br />

war peinlich darauf bedacht, mit dem<br />

für Ausländer- und Flüchtlingsfragen in<br />

Bern zuständigen Chefbeamten, Heinrich<br />

Rothmund, das bestmögliche Einvernehmen<br />

zu pflegen. Ende November<br />

1933 war Mayer ein erstes Mal mit<br />

Rothmund zusammengetroffen. Der<br />

oberste «Fremdenpolizist» benützte<br />

die Gelegenheit, klarzumachen, dass<br />

die Schweiz am bisher praktizierten<br />

Arbeitsverbot für jüdische Flüchtlinge<br />

festhalten werde. Im Übrigen verstehe<br />

sich die Schweiz nur als Transitland für<br />

die Weiterreise von Flüchtlingen, nicht<br />

als Ort dauernden Aufenthaltes.<br />

Mayer war mit Rothmunds Absicht,<br />

einen massiven Zustrom jüdischer<br />

Flüchtlinge und ihren Verbleib in der<br />

Schweiz nicht zuzulassen, grundsätzlich<br />

einverstanden. In ihren Motiven<br />

16 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

stimmten die beiden freilich nicht überein.<br />

Rothmund ging es darum, der Überfremdung<br />

– gelegentlich sprach er deutlicher<br />

von «Verjudung» – der Schweiz<br />

entgegenzuwirken. Mayer befürchtete<br />

von einem Anschwellen jüdischer Präsenz<br />

primär eine Zunahme des Antisemitismus,<br />

welche die mühsam gewonnene<br />

gesellschaftliche Anerkennung der<br />

alteingesessenen Schweizer Juden zu<br />

gefährden drohte.<br />

Hinzu kam, dass Mayer und seine<br />

Kollegen im Führungsgremium des SIG<br />

es als moralische Verpflichtung empfanden,<br />

die Kosten der Flüchtlingshilfe<br />

aus jüdischen Mitteln aufzubringen, d. h.<br />

weitgehend mit Spendengeldern der<br />

Schweizer Israeliten und Zuwendungen<br />

aus den USA zu finanzieren. Aber diese<br />

Finanzquellen waren naturgemäss nicht<br />

unerschöpflich, weshalb die Leitung<br />

des SIG einem unkontrollierten Einlass,<br />

namentlich von Juden aus Österreich<br />

nach dem «Anschluss» 1938, ablehnend<br />

gegenüberstand. Polizeihauptmann Grüninger<br />

war bei manchen St. Galler Juden<br />

nicht eben populär, und Saly Mayer sah<br />

damals in Heinrich Rothmund eher<br />

einen Verbündeten als einen Gegner.<br />

<strong>Die</strong> Autorin schliesst nicht aus, dass<br />

Mayer den Polizeioffizier bei Rothmund<br />

denunziert haben könnte.<br />

Als SIG-Präsident bewältigte Mayer<br />

im Alleingang ein enormes Arbeitspensum.<br />

Er entwickelte eine gewisse<br />

Neigung zu einsamen Entschlüssen und<br />

liess es an Sinn für Öffentlichkeitsarbeit<br />

und Kommunikation weitgehend fehlen.<br />

Daraus erklärt sich zumindest teilweise,<br />

dass weder er selbst noch der SIG in<br />

den P<strong>rot</strong>eststurm einstimmten, mit dem<br />

weite Teile der schweizerischen Öffentlichkeit<br />

im August 1942 Rothmunds<br />

Erlass einer Grenzsperre «für Flüchtlinge<br />

nur aus Rassegründen» quittierten.<br />

Bekanntlich bewirkte diese Reaktion<br />

eine gewisse Lockerung der Aufnahmepraxis.<br />

Bei manchen Mitgliedern der<br />

SIG-Führung stiess Mayers Passivität<br />

auf lebhafte Kritik; man empfand seinen<br />

Kurs unbeirrbar loyaler «Partnerschaft»<br />

mit Rothmund als nicht mehr<br />

verantwortbar. Er musste als Präsident<br />

zurücktreten und übergab die Geschäfte<br />

im März 1943 seinem Nachfolger.<br />

PHOTOPRESS-ARCHIVE / KEYSTONE<br />

«Schwieriger, aber<br />

verdienstvoller<br />

und integrer Akteur<br />

der Zeitgeschichte»:<br />

SIG-Präsident Saly<br />

Mayer (1882–1950).<br />

<strong>Die</strong>se Demission bedeutete indes keineswegs<br />

das Ende von Mayers Engagement<br />

für die Sache der Juden. Schon<br />

seit 1940 vertrat er das American Jewish<br />

Joint Distribution Committee, kurz Joint<br />

genannt, in der Schweiz. <strong>Die</strong>ses bedeutende<br />

Hilfswerk leistete bereits seit<br />

1939 namhafte Beiträge an die Kosten<br />

der jüdischen Flüchtlingshilfe in der<br />

Schweiz, Zuwendungen, die zeitweise<br />

mehr als die Hälfte von deren Ausgaben-


udget deckten. 1939 betrug die Joint-<br />

Subvention 2 Millionen Franken, in den<br />

beiden folgenden <strong>Jahre</strong>n je 1,5 Millionen,<br />

um 1944 auf 3,3 Millionen Franken anzusteigen.<br />

Als weitgehend unabhängiger Gebieter<br />

über diese beträchtlichen Summen<br />

war Mayer eine Schlüsselfigur bei den<br />

jüdischen Hilfsbemühungen zugunsten<br />

der verfolgten Glaubensgenossen.<br />

Sein Zuständigkeitsbereich, zunächst<br />

auf die Schweiz beschränkt, weitete<br />

sich nach dem Kriegseintritt der USA<br />

auf das gesamte deutsch beherrschte<br />

Europa aus. Während Monaten setzten<br />

restriktive amerikanische Transfervorschriften<br />

die Fortsetzung der Hilfstätigkeit<br />

aufs Spiel. Erst die Schaffung einer<br />

eigenen Behörde für Angelegenheiten<br />

der Flüchtlingshilfe, des War Refugee<br />

Board (WRB), im Januar 1944 markierte<br />

das Ende der amtlichen amerikanischen<br />

Zurückhaltung gegenüber den humanitären<br />

Bemühungen zugunsten der Juden<br />

Europas.<br />

Der amerikanischen Gesandtschaft<br />

in Bern wurde ein Spezialist für diesen<br />

Tätigkeitsbereich, Roswell McClelland,<br />

zugeteilt. Zwischen ihm und Saly Mayer<br />

entwickelte sich eine freundschaftliche<br />

Zusammenarbeit. <strong>Die</strong>se sollte besonders<br />

wirksam werden, als Vertreter jüdischer<br />

Organisationen in Ungarn im Sommer<br />

1944 den Versuch unternahmen, die<br />

überlebende dortige jüdische Bevölkerung<br />

durch Verhandlungen mit der SS<br />

vor der Vernichtung zu retten.<br />

Retter von 1700 KZ-Juden<br />

Innerhalb der SS-Hierarchie – bis hinauf<br />

zu «Reichsführer» Heinrich Himmler<br />

– hegte man die Hoffnung, sich durch<br />

die Freilassung von Juden den Goodwill<br />

der Amerikaner, möglicherweise<br />

sogar ihre Bereitschaft zu einem Separatfrieden,<br />

erkaufen zu können. McClelland<br />

erwirkte von Washington die Einwilligung<br />

zu entsprechenden (Schein-)<br />

Verhandlungen, lediglich zum Zweck<br />

des Zeitgewinns. In seiner Eigenschaft<br />

als Repräsentant des Joint übernahm<br />

es Saly Mayer, mehrmals an der österreichischen<br />

Grenze mit SS-Offizieren<br />

zusammenzutreffen. <strong>Die</strong> von ihm<br />

hinhaltend geführten Verhandlungen<br />

blieben natürlich ergebnislos, aber als<br />

«Geste des guten Willens» liessen die<br />

SS-Leute immerhin nahezu 1700 ungarische<br />

Juden aus dem KZ Bergen-Belsen<br />

in die Schweiz ausreisen.<br />

Hanna Zweig-Strauss ist sehr gewissenhaft<br />

und im offenkundigen Bestreben<br />

zu Werk gegangen, die Vita Saly Mayers<br />

möglichst lückenlos und detailliert<br />

nachzuzeichnen. Gewisse Längen ihres<br />

Textes sind diesem Bemühen um biografische<br />

Vollständigkeit und Differenziertheit<br />

zuzuschreiben. Angesichts der<br />

streckenweise prekären Quellenlage ist<br />

der Autorin indes zu bescheinigen, dass<br />

ihr ein bemerkenswert instruktives, ausgewogenes<br />

Porträt eines schwierigen,<br />

aber bei aller Problematik verdienstvollen<br />

und integren Akteurs der Zeitgeschichte<br />

gelungen ist. �<br />

Paul Stauffer ist Historiker und war<br />

Schweizer Botschafter in Polen.<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 17


Sachbuch<br />

Erinnerungen <strong>Joschka</strong> <strong>Fischer</strong>s Memoiren sind Bekenntnis und Rechtfertigung<br />

Vom Sponti zum Staatsmann<br />

<strong>Joschka</strong> <strong>Fischer</strong>: <strong>Die</strong> <strong>rot</strong>-<strong>grünen</strong> <strong>Jahre</strong>.<br />

Deutsche Aussenpolitik – vom Kosovo<br />

bis zum Irak. Kiepenheuer & Witsch,<br />

Köln 2007. 444 Seiten, Fr. 41.50.<br />

Jürgen Schreiber: Meine <strong>Jahre</strong> mit<br />

<strong>Joschka</strong>. Nachrichten von fetten und<br />

mageren <strong>Jahre</strong>n. Econ, Berlin 2007.<br />

207 Seiten, Fr. 35.40.<br />

Von Gerd Kolbe<br />

Witzig und schlagfertig, angriffslustig<br />

und gelegentlich auch wehmütig, nie um<br />

eine Antwort und erst recht um keine<br />

Provokation verlegen. So kennen die<br />

Deutschen – und nicht nur sie – ihren<br />

früheren Aussenminister und viele <strong>Jahre</strong><br />

heimlichen Vorsitzenden der Grünen<br />

<strong>Joschka</strong> <strong>Fischer</strong>. Er war und ist ein Mann<br />

der losen Zunge und, wie sein Buch über<br />

die sieben <strong>Jahre</strong> der <strong>rot</strong>-<strong>grünen</strong> Regierung<br />

zeigt, ein Meister der Rede, nicht<br />

aber des geschriebenen Wortes.<br />

Seine Memoiren enttäuschen. Man<br />

spürt förmlich, wie sich einer über 444<br />

Seiten quälte und alles, was ihn bewegte,<br />

für die Nachwelt detailliert aufschreiben<br />

wollte. So detailliert, dass im ersten Band<br />

nur die ersten zwei von sieben <strong>rot</strong>-<strong>grünen</strong><br />

Regierungsjahren überhaupt vorkommen.<br />

Das Buch unterscheidet sich<br />

nur wenig von den üblichen Politiker-<br />

Erinnerungen. Auch der sonst so kritische<br />

<strong>Fischer</strong> war nicht gegen die Versuchung<br />

gefeit, eine Rechtfertigungsschrift<br />

zu verfassen, und zwar vor allem wohl<br />

für die Grünen selbst, mit deren Bundespartei<br />

er, wie er reichlich spät bekennt,<br />

nie richtig warm geworden sei.<br />

Nagelprobe der Grünen<br />

Das ausführlichste Kapitel, <strong>Fischer</strong>s<br />

langatmige Schilderung des Kosovo-<br />

Konflikts, erinnert daran, wie schwer<br />

sich gerade seine Partei mit der ersten<br />

deutschen Kriegsbeteiligung nach<br />

1945 tat. Gern wären er und die Grünen<br />

«an einer heissen Konfrontation vorbeigekommen»,<br />

schreibt er. Innerhalb<br />

weniger Minuten jedoch habe er, ohne<br />

Möglichkeit der Abstimmung mit Partei<br />

und Fraktion, eine der weitreichendsten<br />

politischen Entscheidungen in seinem<br />

politischen Leben zu treffen gehabt. Ein<br />

Nein zur Nato-Intervention in Kosovo<br />

hätte die <strong>rot</strong>-grüne Koalition bereits im<br />

Herbst 1998 beendet. «Warum», so fragt<br />

er und hadert, «musste ausgerechnet<br />

die erste Bundesregierung, die von der<br />

politischen Linken gebildet worden war,<br />

mit Deutschland wieder in den Krieg<br />

ziehen?» Für den Fall der Ablehnung<br />

am Parteitag der Grünen in Bielefeld,<br />

so erfährt man, wollte er nicht nur als<br />

Minister zurücktreten, sondern auch<br />

Partei und Fraktion verlassen.<br />

Folgt man <strong>Fischer</strong>s Darstellung, so<br />

war er es, der vom ersten Tag der Luftangriffe<br />

auf Serbien an im Kreis der<br />

Kosovo-Kontaktgruppe auf eine friedliche<br />

Lösung drängte. Auch heute noch<br />

kommt es einem erstaunlich vor, wie<br />

schnell sich <strong>Fischer</strong> auf dem diplomati-<br />

18 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

CHARLES DHARAPAK / AP<br />

<strong>Joschka</strong> <strong>Fischer</strong> mit<br />

Journalisten, nach<br />

einem Treffen im<br />

Weissen Haus mit<br />

Dick Cheney, 2003.<br />

schen Parkett zurechtfand und wie gut<br />

seine Zusammenarbeit mit US-Aussenministerin<br />

Madeleine Albright funktionierte.<br />

Fast wirkt es, als hätte die Chefin<br />

des State Department einen Narren<br />

am deutschen Aussenseiter gefressen.<br />

Spöttisch erwähnt <strong>Fischer</strong> demgegenüber<br />

die «glorious nations» und meint<br />

damit Grossbritannien und Frankreich.<br />

Sie unterzogen den neuen Kollegen<br />

zunächst einmal einem Härtetest mit<br />

dem Versuch, Deutschland und Italien<br />

aus der geplanten Friedenskonferenz<br />

herauszuhalten. Vergessen hat es ihnen<br />

<strong>Fischer</strong> offenbar nie.<br />

Selbst die Spitzenbeamten im Auswärtigen<br />

Amt hatten anfangs ihre Probleme<br />

mit dem Grünen, der doch aus der<br />

Frankfurter Spontiszene kam. Genüsslich<br />

und mit der ihm eigenen Gabe zur Ironie<br />

erzählt er, wie er Verdacht schöpfte. Bei<br />

der Vorbereitung eines Nato-Aussenministertreffens<br />

hatte er den Eindruck,<br />

dass seine Staatssekretäre ihm nur<br />

belanglose Dokumente, aber keine mit<br />

Geheimstempeln versehenen Papiere<br />

vorlegten. Er sah sich an die britische<br />

Fernsehserie «Yes Minister» erinnert,<br />

in der ein Tropf von Ressortchef von<br />

seinen Beamten gesteuert wird. <strong>Fischer</strong><br />

p<strong>rot</strong>estierte lautstark und war hinterher<br />

sicher, dass seine Mitarbeiter ihn ernst<br />

nahmen.<br />

Den stärksten Eindruck hinterlässt<br />

<strong>Fischer</strong>s energisches Bekenntnis zur<br />

deutschen Verantwortung für Israel.<br />

Seine Beschreibung der verfahrenen<br />

Situation im Nahen Osten ist lesenswert.<br />

Er macht kein Hehl daraus, dass er<br />

Israels Premier Sharon grossen Respekt<br />

zollt. Scharf urteilt er über seine Zeitgenossen.<br />

Seine Abneigung gegenüber<br />

dem französischen Präsidenten Chirac<br />

zum Beispiel ist überdeutlich. Ihm krei-<br />

det er den Niedergang der deutsch-französischen<br />

Beziehungen an. <strong>Fischer</strong> trauert<br />

der Europapolitik Helmut Kohls nach<br />

und beklagt Gerhard Schröders «emotionale<br />

Distanziertheit gegenüber Europa».<br />

Es ist dies nicht die einzige Kritik an seinem<br />

früheren Regierungschef.<br />

«Ich und <strong>Fischer</strong>»<br />

Das andere <strong>Fischer</strong>-Buch, das ebenfalls<br />

neu erschienen ist, stammt von Jürgen<br />

Schreiber, einem Reporter, der sich<br />

zugute hält, den Leitwolf der Grünen<br />

aus gemeinsamer Hausbesetzer- und<br />

Spontizeit in Frankfurt zu kennen. Der<br />

Titel «Meine <strong>Jahre</strong> mit <strong>Joschka</strong>» täuscht<br />

indes eine Nähe vor, die es zumindest<br />

zum Schluss so nicht mehr gab. <strong>Die</strong><br />

Überschrift «Ich und <strong>Fischer</strong>» würde<br />

der Sache eher gerecht. Natürlich bietet<br />

Schreiber das völlige Kontrastprogramm<br />

zur staatsmännischen Bilanz <strong>Fischer</strong>s.<br />

In Schreibers teilweise amüsanten, aber<br />

nicht für Historiker-Archive tauglichen<br />

Reflexionen über <strong>Fischer</strong> bleibt der spätere<br />

Aussenminister stets der Strassenkämpfer,<br />

Fotolehrling, Taxifahrer, Antiquar,<br />

Putzmacher und Müssiggänger aus<br />

dem Frankfurter Westend.<br />

Aus seiner militanten Vergangenheit<br />

habe er nie ein Geheimnis gemacht, verteidigt<br />

sich demgegenüber <strong>Fischer</strong>. Mit<br />

der Behauptung aber, den Unionsparteien<br />

sei es bei der lautstarken Kontroverse<br />

2001 um «eine ideologische Gesamtabrechnung<br />

mit der Generation der 68er»<br />

gegangen, überschätzt er die damalige<br />

Opposition und auch die eigene Bedeutung.<br />

<strong>Die</strong> CDU wollte von ihrer eigenen<br />

Krise ablenken und die <strong>rot</strong>-grüne Regierung<br />

ins Stolpern bringen. Das Auftauchen<br />

einer Foto, die <strong>Fischer</strong> zeigt, wie<br />

er auf einen Polizisten einschlagen will,<br />

kam dazu wie gerufen. �


Deutscher Herbst Eine neue Darstellung des RAF-<br />

Terrors verharrt in mediengängigen Klischees<br />

Baader, Meinhof und<br />

Sympathisanten<br />

Willi Winkler: <strong>Die</strong> Geschichte der RAF.<br />

Rowohlt, Berlin 2007. 528 S., Fr. 40.40.<br />

Von Heribert Seifert<br />

Über die deutschen Terroristen Baader,<br />

Meinhof und Co, die sich zur Rote-<br />

Armee-Fraktion (RAF) erklärt hatten,<br />

ist anscheinend immer noch nicht alles<br />

gesagt. Auch jetzt erscheinen weitere<br />

Bücher zum Thema, so eine neue Gesamtdarstellung,<br />

die uns «die Geschichte der<br />

RAF» verspricht. Der Journalist Willi<br />

Winkler will hohen Ansprüchen gerecht<br />

werden, wenn er den Leser auf den deutschen<br />

«Sonderweg» unterdrückter oder<br />

gescheiterter Revolten einstimmt, auf<br />

dem Baader, Meinhof und andere unterwegs<br />

gewesen sein sollen.<br />

Der Autor holt weit aus und beginnt<br />

in den fünfziger <strong>Jahre</strong>n der Bonner<br />

Republik. Kurzbiografien der späteren<br />

Terror-P<strong>rot</strong>agonisten wechseln mit<br />

knappen Skizzen deutscher Nachkriegspolitik.<br />

Chronologisch reihen sich die<br />

Stationen aneinander: die Revolte der<br />

Studenten in Berlin, Radikalisierungsschübe,<br />

der Wechsel von der Gewalt der<br />

Worte zu den Waffen, Fahndung und<br />

Verhaftung, der Stammheimer Prozess<br />

und die Selbstmorde, natürlich auch die<br />

Schleyer-Entführung und die späteren<br />

Morde an führenden Repräsentanten<br />

des «Schweine-Systems», schliesslich<br />

die triste Endphase einer nur noch mit<br />

der Logistik des Überlebens im Untergrund<br />

befassten Desperado-Truppe.<br />

<strong>Die</strong> fragwürdige Rolle, die der Staatsschutz<br />

zeitweise spielte, wird ebenso<br />

erwähnt wie die «Waffenbrüderschaft»<br />

der DDR.<br />

Verarbeitet ist nicht bloss die kaum<br />

noch überschaubare Literatur zum<br />

Thema. Winkler hat auch mit Zeitgenossen<br />

Kontakt gehabt und ihre Informationen<br />

eingearbeitet. Neues hat er dabei<br />

nicht zutage gefördert. Mit ein paar<br />

steilen Thesen versucht er aber seiner<br />

bieder-fleissigen Ereignisgeschichte, die<br />

angesichts der Stofffülle kaum je Tiefenschärfe<br />

gewinnt, Gewicht zu geben.<br />

So heisst es am Schluss des Buches:<br />

«Eine Historisierung der RAF kann aber<br />

nicht gelingen, solange der Zusammenhang<br />

zwischen dem Sündenfall des Staates<br />

und der Feindschaft gegen den Staat<br />

nicht eingestanden wird.» Das gehört<br />

zwar zu den mediengängigen Wandersagen<br />

über die «Mitschuld» des Staates<br />

am deutschen Terrorismus, kann aber<br />

auch bei Winkler plausibel nur wirken,<br />

wenn man mit einem Tunnelblick auf<br />

die damaligen deutschen Verhältnisse<br />

blickt und bloss Notstandsgesetze, die<br />

Unterstützung für den Vietnamkrieg<br />

der USA und die recht ruppige Praxis<br />

der Berliner Polizei sieht.<br />

Wer auch die andere Seite ausleuchtete,<br />

müsste Willy Brandt als Aussenminister<br />

und Kanzler der sozialliberalen<br />

Koalition ins Blickfeld rücken. Der<br />

sähe auch die Einführung der Mitbestimmung,<br />

den grosszügigen Ausbau<br />

des Sozialstaats und den Aufbruch ins<br />

Offene auf vielen gesellschaftlichen<br />

Feldern. Von «bleierner Zeit» im «deutschen<br />

Herbst» bleibt da wenig, wie<br />

einsichtige Linke längst eingestanden<br />

haben. Eine solch abwägende Situierung<br />

Von der Rote-Armee-<br />

Fraktion entführt<br />

und ermordet:<br />

Arbeitgeberpräsident<br />

Hanns-Martin<br />

Schleyer, 1977.<br />

Sozialwerk <strong>Die</strong> erste unabhängige Darstellung über den bekannten Schweizer Arzt<br />

Der Fall Guido Zäch als Wirtschaftskrimi<br />

Peter Zihlmann: Dr. Guido A. Zäch.<br />

Wohltäter oder Täter? Orell Füssli,<br />

Zürich 2007. 205 Seiten, Fr. 39.80.<br />

Von Markus Häfliger<br />

In nur zwei <strong>Jahre</strong>n ist es das dritte Buch<br />

über Guido A. Zäch – und das erste,<br />

das sich zu lesen lohnt. Das erste Buch<br />

«Für immer und ewig?» von Balz<br />

Theus war eine Streitschrift in Zächs<br />

Straf prozess. Auch Trudi von Fellenberg-<br />

Bitzis Heiligendarstellung «Guido<br />

A. Zäch – ohne Wenn und Aber» wurde<br />

von Zächs Paraplegikerstiftung finanziert.<br />

Peter Zihlmann ist nun der erste<br />

unabhängige Autor, der sich der Figur<br />

Guido A. Zäch annimmt.<br />

Sein Wirtschaftskrimi erzählt den<br />

Aufstieg des berühmtesten Schweizer<br />

Arztes – von seinen Anfängen in Basel<br />

bis zum Bau des Paraplegikerzentrums<br />

in Nottwil. Zäch wird geschildert als<br />

Macher und Visionär, der eine Milliarde<br />

Franken für die Querschnittgelähmten<br />

sammelt, mit der Zeit aber immer selbstherrlicher<br />

wird. Wie er sich mit der<br />

Paraplegikerstiftung ein Reich erschafft,<br />

in dem er fast ohne Kontrolle schaltet<br />

und waltet. Zihlmann korrigiert auch<br />

das Bild, wonach der Strafprozess Zäch<br />

ohne Vorwarnung getroffen habe: Mehrere<br />

Mitstreiter hatten intern jahrelang<br />

für Machtbeschränkung gekämpft - vergeblich.<br />

<strong>Die</strong>se Vorgänge, Zächs Vetternwirtschaft<br />

und seine Tobsuchtsanfälle<br />

sind vielfach belegt mit Sitzungsp<strong>rot</strong>o-<br />

AP<br />

des Terrorismus erspart sich Winkler<br />

ebenso wie eine kritische Prüfung der<br />

Behauptung, die RAF sei eine Antwort<br />

auf die deutsche NS-Geschichte gewesen.<br />

<strong>Die</strong> Täter haben damit wiederholt<br />

operiert, ihr Handeln dementierte solche<br />

Parolen. Winkler vermeidet eine<br />

klare Analyse dieser Doppelbödigkeit,<br />

bedient sich stattdessen vor allem suggestiver<br />

Anspielungen, indem er etwa<br />

durch einen Verweis auf die Geschwister<br />

Scholl im Zweiten Weltkrieg Baader<br />

und Meinhof in eine diffuse Nähe zum<br />

legitimen Widerstand rückt.<br />

Bei dieser Anlage des Buches überrascht<br />

es nicht, dass der Autor auf das<br />

einzige Rätsel nicht eingeht, das der<br />

deutsche Terrorismus bis heute stellt:<br />

warum Baader-Meinhof so lange Sympathie<br />

und Verständnis im intellektuellen<br />

und publizistischen Milieu gefunden<br />

haben. <strong>Die</strong>ses «Gespenst» aus jener Zeit<br />

kann Geisterjäger Winkler nicht finden<br />

– weil er es nicht sehen will. �<br />

kollen und Zeugenaussagen. Schade nur,<br />

dass Zihlmann die Fakten immer wieder<br />

mit blumigen Vergleichen aus der griechischen<br />

Mythologie vermischt.<br />

Im zweiten Teil nimmt Zihlmann<br />

einen seltsamen Perspektivenwechsel<br />

vor: Aus dem Machtmenschen wird das<br />

Justizopfer Zäch, das keine Chance auf<br />

ein gerechtes Urteil hat und wegen Veruntreuung<br />

verurteilt wird. Zwar weist<br />

der Autor zu Recht auf Widersprüche in<br />

der Argumentation der Justiz hin. Doch<br />

schwingen hier auch Ressentiments mit,<br />

die mit Zihlmanns beruflicher Karriere<br />

als Basler Anwalt und Richter zusammenhängen<br />

dürften. «Wohltäter oder<br />

Täter?» – so der Untertitel. T<strong>rot</strong>z einigen<br />

Schwächen erlaubt das Buch dem Leser,<br />

sich ein eigenes Urteil zu bilden. �<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 19


Sachbuch<br />

Staatskunde Der Diplomat Paul Widmer legt Wurzeln und Potenzial des Sonderfalls Schweiz offen<br />

– und führt damit weg von einer mürrischen Debatte in den neunziger <strong>Jahre</strong>n<br />

Offenheit und dezenter Patriotismus<br />

Paul Widmer: <strong>Die</strong> Schweiz als Sonderfall.<br />

Grundlagen – Geschichte – Gestaltung.<br />

NZZ Libro, Zürich 2007. 250 S., Fr. 45.–.<br />

Von Urs Rauber<br />

In den neunziger <strong>Jahre</strong>n des 20. Jahrhunderts<br />

mit ihrem Kult zur Selbstbezichtigung<br />

galt der Begriff Sonderfall Schweiz<br />

unter Intellektuellen als hochtoxische<br />

Vokabel, gemieden wie die Pest. Er stand<br />

für Retro-Denken und die Verbohrten im<br />

Land. Heute schreibt Paul Widmer, der<br />

Verfasser einer engagierten und gründlichen<br />

Publikation: «<strong>Die</strong>ses Buch ist ein<br />

Bekenntnis zum Sonderfall.»<br />

Dabei stützt sich der Autor nicht allein<br />

auf eine durchwegs überzeugende Argumentation.<br />

Er weiss sich auch in<br />

Übereinstimmung mit einem seit 2001<br />

feststellbaren Meinungswandel. Eine<br />

Mehrheit der Jugend wünscht sich,<br />

wie die Rekrutenbefragungen von 2003<br />

ergaben, den Sonderfall zurück, auch<br />

welsche und Tessiner Jugendliche –<br />

Letztere sogar stärker als der Schweizer<br />

Durchschnitt. Bei älteren Generationen<br />

hat, wie andere repräsentative Umfragen<br />

zeigen, die Zustimmung zum «Sonderfall<br />

Schweiz» ebenfalls zugenommen: von<br />

25 Prozent (1992) auf 41 Prozent (2003).<br />

<strong>Die</strong> Expo 02 und die Swissness-Welle<br />

seit Beginn dieses Jahrhunderts stützen<br />

den Paradigmawechsel augenfällig.<br />

Dabei ist das Sonderfall-Denken diesmal<br />

kein Ausdruck rückwärtsgewandter<br />

Sehnsucht, sondern ein Wunsch nach<br />

Modernisierung, verbunden mit jenem<br />

nach Autonomie und Eigenständigkeit,<br />

wie der Verfasser schreibt.<br />

«Soft power» der Schweiz<br />

Dass der Blick auf den Sonderfall von<br />

aussen stammt, scheint kein Zufall. Paul<br />

Widmer, 58, ist promovierter Historiker<br />

und Schweizer Botschafter in Amman;<br />

zuvor war er Botschafter in Zagreb und<br />

Berlin. Der Diplomat, der nicht nur die<br />

differenzierte Ausdrucksweise, sondern<br />

auch die klare Sprache kennt, verfasste<br />

mehrere Bücher, das zweitjüngste unter<br />

dem Titel «Schweizer Aussenpolitik<br />

und Diplomatie» (2003). <strong>Die</strong> Erfahrung<br />

der Welt und die Distanz zur Heimat<br />

ermöglichen, zusammen mit analytischem<br />

Scharfsinn, den Blick auf das<br />

Wesentliche.<br />

Widmer zählt die Schweiz zu den am<br />

stärksten internationalisierten Staaten<br />

der Welt, sie sei geradezu «ein Schrittmacher<br />

der Globalisierung». Er zitiert<br />

den Dekan einer anerkannten Schule<br />

für Politikwissenschaft in Singapur, der<br />

über unser Land sagt, es sei zwar keine<br />

Grossmacht, verfüge aber über «enorm<br />

viel soft power». Das renommierte US-<br />

Magazin «Science» hielt seinerseits<br />

in einer Untersuchung der nationalen<br />

Eigenschaften der Völker von 2005 fest,<br />

die Schweizer seien «von allen Nationen<br />

am weltoffensten».<br />

20 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

MARTIN RÜTSCHI / KEYSTONE<br />

«<strong>Die</strong> Schweiz steht<br />

und fällt mit dem<br />

Grad an Freiheit, den<br />

sie ihren Bürgern<br />

verschafft.»<br />

<strong>Die</strong>se gesellschaftliche Verfassung<br />

hängt laut Widmer entscheidend mit<br />

dem Sonderfall Schweiz zusammen, der<br />

auf vier Säulen beruht: direkte Demokratie,<br />

Föderalismus, aussenpolitische<br />

Neutralität und sprachlich-kulturelle<br />

Vielfalt. Der Autor untersucht die vier<br />

Elemente in ihrem geschichtlichen Werden,<br />

ihrer politischen Gestaltungskraft<br />

und ihrer Zukunftsfähigkeit. Dass dabei<br />

nicht alles genuin helvetisch ist, zeigt er<br />

beispielsweise am föderalistischen System,<br />

das 1848 aus den USA importiert<br />

wurde.<br />

Zu den schweizerischen Besonderheiten<br />

gehört ferner ein ausgeprägter<br />

Anti-Zentralismus, der sich etwa darin<br />

äusserte, dass Appenzell Innerrhoden<br />

100 <strong>Jahre</strong> lang alle eidgenössischen Vorlagen<br />

abgelehnt habe und es auch heute<br />

noch schwieriger sei, etwa die Schwyzer,<br />

Obwaldner und Walliser Kantonsbürger<br />

von den Vorteilen einer Bundesvorlage<br />

zu überzeugen als von deren Nachteilen.<br />

Der Verfasser skizziert seine Heimat als<br />

nüchternes, austariertes Staatsgebilde,<br />

das eine Idee verkörpere. Zu den ungeschriebenen<br />

Gesetzen gehören der Vor-<br />

rang von Freiheit und Selbstverantwortung,<br />

helvetische Tugenden wie Einvernehmlichkeit,<br />

Bedächtigkeit, Sparsamkeit<br />

in öffentlichen Dingen, ein hohes<br />

Bürgerengagement (das Milizprinzip)<br />

und aussenpolitische Zurückhaltung.<br />

Das Volk als Opposition<br />

In der Schweiz, dem «prägnantesten<br />

Beispiel einer Konkordanzdemokratie»,<br />

liege die eigentliche oppositionelle<br />

Kraft beim Volk. «<strong>Die</strong> direkte Demokratie<br />

wacht darüber, dass die Mehrheit<br />

nicht in satter Fülle erschlafft.» Wie<br />

die anderen drei Säulen ist auch die<br />

Neutralität mit ihrer auf Bruder Klaus<br />

zurückgehenden Maxime «Mischt euch<br />

nicht in fremde Händel» bis heute tief<br />

im Volk verankert. So sprachen sich in<br />

einer ETH-Umfrage von 2006 insgesamt<br />

90 Prozent der Befragten dafür aus, sie<br />

beizubehalten – im Unterschied zur<br />

politischen Elite, die weit skeptischer<br />

eingestellt ist. Der Diplomat Widmer<br />

kritisiert denn auch den 1996 erfolgten<br />

Beitritt der Schweiz zur Nato-Partnerschaft<br />

für den Frieden und das offizielle<br />

«Verständnis» für den Kosovo-Krieg


ohne Uno-Mandat im Jahr 1998, statt<br />

dass die klare Völkerrechtsverletzung<br />

verurteilt worden wäre.<br />

<strong>Die</strong> Weltoffenheit des Landes erklärt<br />

Widmer aus drei Faktoren, die genuin<br />

zum Staat Schweiz gehören: erstens<br />

bilde die Schweiz eine Willensnation;<br />

eine solche müsse sich stets erneuern,<br />

sei also dynamischer angelegt als<br />

eine Kulturnation. Zweitens seien in<br />

der direkten Demokratie die Durchschnittsbürger<br />

besser informiert als in<br />

andern Staaten, was die argumentative<br />

Auseinandersetzung fördere. Drittens<br />

widersetze sich der Föderalismus der<br />

Einheitlichkeit und biete stets mehrere<br />

Handlungsvarianten an, was ebenfalls<br />

die geistige Offenheit fördere.<br />

«Den Sonderfall pflegen»<br />

Paul Widmer ist nicht nur aufmerksamer<br />

Beobachter, sondern auch engagierter<br />

Staatsbürger, der vor möglichen Gefahren<br />

wie dem schwindenden Gemeinsinn<br />

oder einem überbordenden staatlichen<br />

Regulierungseifer warnt. <strong>Die</strong> Schweiz<br />

stehe und falle mit dem Grad von Freiheit,<br />

den sie ihren Bürgern verschaffe. Er<br />

plädiert dafür, sich «nicht bloss mürrisch<br />

mit dem Sonderfall abzufinden, sondern<br />

ihn bewusst zu pflegen». Er habe nämlich<br />

nichts mit Engstirnigkeit und Eigennutz,<br />

jedoch sehr viel mit Weltoffenheit<br />

und dezentem Patriotismus zu tun. <strong>Die</strong>ses<br />

Buch dürfte zu einem Standardwerk<br />

des schweizerischen Staats- und Gesellschaftsverständnisses<br />

in künftigen Diskussionen<br />

werden. �<br />

Christine Moser<br />

Weltwetter<br />

Über 650 Abbildungen von Zeitungsausschnitten gesammelt von<br />

Christine Moser mit einem Textbeitrag von David Signer,<br />

170 x 230 mm, 336 Seiten, Broschur mit amerikanischem Umschlag<br />

ISBN 978-3-905810-01-1, CHF 48.–, plus Versandkosten<br />

Über zwei <strong>Jahre</strong> hat Christine Moser die Satellitenbilder<br />

der Wetterseite aus der Neuen Zürcher Zeitung ausgeschnitten<br />

und gesammelt. <strong>Die</strong> schwarz weissen Abbildungen<br />

dokumentieren zusammen mit den zufälligen Ausschnitten<br />

aus den Vermischten Meldungen auf den Rückseiten<br />

überraschend poetisch unseren Zeitgeist. Das Aufeinandertreffen<br />

fragmentarischer Alltagsmeldungen weckt<br />

unterhaltsame und kritische Assoziationen zu einer kuriosen Welt.<br />

JAFFER<br />

Maharadschas Pracht und Herrlichkeit<br />

Der Buchautor Amin Jaffer ist Direktor für asiatische<br />

Kunst des Auktionshauses Christie’s in London<br />

und gilt als Indien-Spezialist. Nachdem Britannien<br />

den indischen Fürsten die Integrität ihrer Staatsgrenzen<br />

zugesichert hatte, waren die Maharadschas<br />

nicht mehr gezwungen, kostspielige Armeen zu<br />

finanzieren – ihr Reichtum mehrte sich dadurch ins<br />

Un ermessliche. Zugleich kamen Luxusgüter aus<br />

Europa in den Stand höchster Wertschätzung. <strong>Die</strong><br />

Bild: Joschi Herczeg<br />

besten europäischen Manufakturen für Schmuck,<br />

Möbel, Geschirr, Mode und Fahrzeuge arbeiteten<br />

für die Maharadschas. Das Buch dokumentiert die<br />

Hochblüte dieses Luxus sehr eindrücklich. <strong>Die</strong><br />

Maharani Gayatri Devi von Jaipur (im Bild) liess<br />

sich und ihr Seidenkleid durch den Fotografen feiern.<br />

Jost Auf der Maur<br />

Amin Jaffer: Made for Maharajas. Luxus und Design.<br />

Christian-Verlag, München 2007. 276 S., Fr. 124.–.<br />

Bitte senden Sie mir mit Rechnung<br />

Christine Moser, Weltwetter, ISBN 978-3-905810-01-1<br />

CHF 48.–, plus Versandkosten<br />

Anzahl<br />

Vorname, Name<br />

Strasse, Hausnummer<br />

PLZ, Ort<br />

Datum, Unterschrift<br />

Brikett Verlag Zürich AG, Geroldstrasse 5, 8005 Zürich<br />

www.brikett.ch<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 21


BRIDGEMANART<br />

Sachbuch<br />

Sozialgeschichte <strong>Die</strong> Abschaffung der Sklaverei als Vorläuferin einer Bürgerbewegung<br />

Mit modernen Waffen gegen Sklaverei<br />

Adam Hochschild: Sprengt die Ketten.<br />

Der entscheidende Kampf um die<br />

Abschaffung der Sklaverei. Klett-Cotta,<br />

Stuttgart 2007. 504 Seiten, Fr. 49.–.<br />

Von Ina Boesch<br />

In der Westminster Abbey steht die<br />

Statue eines schmächtigen Mannes, der<br />

berühmt war für seine melodiöse Stimme<br />

und heute bekannt ist als einer der<br />

grossen Kämpfer gegen den britischen<br />

Sklavenhandel: William Wilberforce.<br />

Lange stand die Figur des vermögenden<br />

und konservativen Unterhausabgeordneten<br />

allein da, bis man vor zehn <strong>Jahre</strong>n<br />

Gerechtigkeit schuf: Zu Füssen des Politikers<br />

erinnert ein Gedenkstein an einen<br />

Mann, der viele seiner Zeitgenossen<br />

nicht nur körperlich, sondern auch geistig<br />

überragte: Thomas Clarkson.<br />

Petitionen und Zuckerboykott<br />

Der ehemalige Geistliche machte mit<br />

einem Essay zur Sklaverei den Politiker<br />

Wilberforce zum Abolitionisten und zu<br />

seinem überzeugten Mitstreiter. Während<br />

Jahrzehnten bildeten die beiden<br />

auf ihrem «Kreuzzug» gegen den Sklavenhandel<br />

ein erfolgreiches Gespann,<br />

bei dem jeder auf den Part des anderen<br />

angewiesen war. Es brauchte Wilberforce,<br />

der im Parlament lobbyierte und<br />

stundenlange Reden hielt, ebenso wie<br />

Clarkson, der auf seinem Pferd Tausende<br />

von Kilometern ritt und die Bevölkerung<br />

zur Unterzeichnung von Petitionen<br />

oder zum Boykott von Zucker animierte,<br />

um innerhalb von nur zwanzig <strong>Jahre</strong>n<br />

im März 1807 die Abschaffung des britischen<br />

Sklavenhandels zu bewirken.<br />

Nun erweist der amerikanische<br />

Journalist Adam Hochschild, bekannt<br />

22 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

Im 18. Jahrhundert<br />

gehörte die Sklaverei<br />

zum Alltag wie heute<br />

das Auto.<br />

geworden mit einem ähnlich gestrickten<br />

Sachbuch, «Schatten über dem Kongo»,<br />

dem spät wertgeschätzten Clarkson die<br />

ihm gebührende Ehre und stellt ihn ins<br />

Zentrum seiner mitreissend erzählten<br />

Geschichte über die Abschaffung der<br />

Sklaverei. Hochschild setzt sich zwar<br />

nicht als erster Autor mit dem Rotschopf<br />

Clarkson und der britischen Antisklavenhandelbewegung<br />

auseinander, doch<br />

er ist der erste, der dieses Kapitel britischer<br />

Sozialgeschichte so spannend<br />

schildert und zudem überraschende<br />

Bezüge schafft.<br />

Um die schier unvorstellbare Leistung<br />

der ursprünglich zwölfköpfigen,<br />

vorwiegend aus Quäkern bestehenden<br />

Gruppe um Clarkson zu betonen, vergleicht<br />

er deren Initiative mit der heute<br />

undenkbaren Forderung, weltweit das<br />

Auto abzuschaffen. Im 18. Jahrhundert<br />

gehörte die Sklaverei ebenso zum Alltag<br />

wie heute das Auto. Es war damals<br />

normal, dass ein Abgeordneter sagen<br />

konnte, der Sklavenhandel sei «kein<br />

anziehendes Geschäft, aber das ist das<br />

Handwerk des Metzgers nicht, und dennoch<br />

ist ein Hammelkotelett eine feine<br />

Sache». Nicht alle von Hochschild präsentierten<br />

Analogien leuchten gleichermassen<br />

ein, doch es überzeugt seine<br />

Interpretation des Abolitionismus als<br />

«bestorganisierte Bürgerbewegung<br />

aller Zeiten», die agitatorische Mittel,<br />

wie sie heute zivilgesellschaftliche P<strong>rot</strong>estbewegungen<br />

kennen, erstmals oder<br />

zumindest perfektioniert einsetzte.<br />

Wie in der Sardinenbüchse<br />

So störte einer der ersten Warenboykotte<br />

der Geschichte, der Boykott<br />

von Zucker – damals das wichtigste<br />

Schmiermittel der globalen Wirtschaft<br />

–, die Selbstgewissheit der Plantagenbe-<br />

sitzer empfindlich. Und das von Clarkson<br />

und seinen Männern produzierte<br />

Poster mit der schematischen Aufsicht<br />

des Sklavenschiffes «Brookes» erregte<br />

mit seiner Darstellung von unendlich<br />

vielen flach auf dem Boden liegenden<br />

Sklavenkörpern, eng zusammengepresst<br />

wie Sardinen in der Büchse, die Besucher<br />

von Pubs im ganzen Land. Ebenso<br />

modern wie das Poster oder der Boykott<br />

mutet der Einsatz eines Logos an. Das<br />

Bild vom knienden Afrikaner in Ketten<br />

mit flehend erhobenen Händen, darüber<br />

die Worte «Bin ich nicht ein Mensch und<br />

Bruder?», hatte der bekennende Abolitionist<br />

und berühmte Steingutproduzent<br />

Josiah Wedgwood in Auftrag gegeben.<br />

Möglicherweise vertraut Hochschild<br />

seiner Lesart der Bewegung als Vorläuferin<br />

der modernen P<strong>rot</strong>estbewegung<br />

zu sehr, weshalb er andere Fragen aus<br />

dem Blick verliert. Leider diskutiert er<br />

kaum die Ideologien hinter der Abschaffung<br />

des Sklavenhandels – so wie zum<br />

Beispiel die Autoren David, Etemad und<br />

Schaufelbuehl in ihrem Buch «Schwarze<br />

Geschäfte» (2005) plausibel dargelegt<br />

haben, dass der Kampf gegen die Sklaverei<br />

in der Schweiz eigentlich ein Kampf<br />

gegen den moralischen Zerfall der Gesellschaft<br />

war. Und man hätte gern genauer<br />

erfahren, warum der P<strong>rot</strong>est gegen den<br />

Sklavenhandel gerade in Grossbritannien<br />

zum Erfolg führte. Das dichte Strassennetz,<br />

der effiziente Briefverkehr oder<br />

das Aufkommen von Kaffeehäusern förderten<br />

zweifelsohne die Verbreitung der<br />

Idee. Ob aber zwangsrekrutierte Briten<br />

wegen der am eigenen Leib erfahrenen<br />

Knechtschaft tatsächlich empathisch<br />

für die Leiden der Sklaven wurden, sei<br />

dahingestellt. Angesichts der grossartigen<br />

Darstellung ist dies jedoch lediglich<br />

Erbsenzählerei. �


Auswanderung Ein junges jurassisches Paar steigt zur<br />

gesellschaftlichen Elite in Äthiopien auf<br />

Sägereimeister<br />

in Abessinien<br />

Rolf Meier: Briefe aus Abessinien.<br />

Aus dem Leben einer Schweizer<br />

Auswandererfamilie in Äthiopien. Hier<br />

und jetzt, Baden 2007. 160 S., Fr. 29.80.<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Das Bild ist prächtig, um nicht zu sagen<br />

herrschaftlich: Ganz in Weiss und hoch<br />

zu Ross sitzt die junge Dame, sie trägt<br />

lange Handschuhe und einen pompösen<br />

Hut, auf dem Schoss hält sie ein ebenfalls<br />

vollständig weiss gekleidetes Kind.<br />

<strong>Die</strong> Zügel des Pferdes hält ein Schwarzer.<br />

<strong>Die</strong> auf dem Pferd sitzt, ist Jeanne<br />

Evalet-Roth, Tocher eines jurassischen<br />

Uhrenmachers und Frau des Uhrenmachers<br />

Edouard Evalet, der 1898 nach<br />

Äthiopien ausgewandert war.<br />

Das Buch von Rolf Meier, der mit der<br />

Auswandererfamilie entfernt verwandt<br />

ist, basiert auf Unterlagen, die in einer<br />

alten Hutschachtel auf einem lang nicht<br />

mehr geräumten Estrich zum Vorschein<br />

gekommen sind. Meier hat diese Briefe,<br />

Fotografien, Postkarten und Zeitungsausschnitte<br />

gesichtet und das Wichtigste<br />

zusammengefasst. Grau unterlegte<br />

Seiten liefern Hintergrundwissen zur<br />

Vergangenheit Äthiopiens. Entstanden<br />

ist ein kleines Stück kaum bekannte<br />

Schweizer Kolonialgeschichte sowie die<br />

anrührende Familiengeschichte einer<br />

letztlich gescheiterten Auswanderung.<br />

<strong>Die</strong> Gefühle des Autors waren dabei<br />

gemischt: «Man würde lieber darüber<br />

berichten, wie die eigenen Verwandten<br />

in Ostafrika uneigennützig und nachhaltig<br />

zur Entwicklung des armen Landes<br />

beigetragen haben, aber die Briefe zeigen,<br />

dass das Wirtschaften in die eigene<br />

Tasche eine wichtige Rolle spielte.» So<br />

haben die Evalets zum Beispiel mit ihrer<br />

Sägerei der rücksichtslosen Abholzung<br />

des Urwaldes Vorschub geleistet.<br />

<strong>Die</strong> Familie wurde nicht reich in Afrika,<br />

aber es ging ihr gut, mindestens am<br />

Anfang. Edouard Evalet hatte den Jura<br />

auch nicht aus Not verlassen, er wollte<br />

die Welt sehen und etwas erleben. Deswegen<br />

meldete er sich auf ein Stelleninserat,<br />

in dem Kaiser Menelik im fernen<br />

Afrika einen Uhrenmacher suchte.<br />

<strong>Die</strong> Pflege der kaiserlichen Uhrensammlung<br />

war ihm dann aber nicht<br />

genug. Er richtete die erste und lange<br />

Zeit einzige Sägerei im Land ein, versuchte<br />

sich im Waffenhandel und etlichen<br />

anderen Geschäften, die zeitweise<br />

ganz gut liefen. <strong>Die</strong> politische Situation<br />

war aber unsicher, und es war mitunter<br />

schwierig, die richtige Partei am Hof zu<br />

unterstützen. Es war dann vor allem die<br />

skrupellose Abschöpfung der Erträge<br />

durch Kaiser Haile Selassie I., welche<br />

die Evalets an den Rand des Ruins trieb.<br />

Edouard, durch das Klima gesundheitlich<br />

angeschlagen, starb 1943, kurz nach<br />

der italienischen Besetzung.<br />

Jeanne, die 20-jährige tüchtige Modistin,<br />

folgte ihrem Mann mit Begeisterung<br />

ins Ausland. Sie führte bald die Buchhaltung<br />

und leitete die Sägerei, wenn er zur<br />

Edouard und Jeanne<br />

Evalet-Roth und<br />

ihre drei Kinder<br />

(aufgenommen in der<br />

Schweiz).<br />

Kur in die Schweiz fuhr. Das Geldverdienen<br />

machte ihr Spass, und sie versuchte<br />

sich ebenfalls in kleinen Import-Export-<br />

Geschäften, handelte einmal mit Briefmarken,<br />

das andere Mal mit Seifen oder<br />

Seidenstoffen aus Zürich. Als Weisse<br />

gehörten die Evalets zur gesellschaftlichen<br />

Elite, pflegten einen entsprechenden<br />

Lebensstil und nahmen am kaiserlichen<br />

Hofe an vornehmen Anlässen<br />

teil. Selbstverständlich stand ihnen eine<br />

Schar von schwarzen Bediensteten zur<br />

Verfügung.<br />

Nach dem Tod Edouards versuchte<br />

Jeanne, ihren Besitz zu verkaufen, um<br />

in die Heimat zurückzukehren. Sie starb<br />

1973 in Addis Abeba und liegt dort neben<br />

ihrem Mann begraben. Ihre Nachkommen<br />

kehrten in die Schweiz zurück. �<br />

Familie Eberhard Rathgeb philosophiert über Sohn- und Vaterrolle, ohne seine Partnerin zu erwähnen<br />

Pathetisch überhöhtes Vatersein<br />

Eberhard Rathgeb: Schwieriges Glück.<br />

Versuch über die Vaterliebe. Hanser,<br />

München 2007. 159 Seiten, Fr. 27.20.<br />

Von Daniel Puntas Bernet<br />

Der Versuch, den Gründen nachzugehen,<br />

wieso das Wort «Vaterliebe» in<br />

unserem Wortschatz kaum vorkommt<br />

oder ein Mensch sich nie «vaterseelenallein»<br />

fühlt, könnte zu interessanten<br />

Erkenntnissen über Väter führen. Der<br />

«FAZ»-Redaktor Eberhard Rathgeb<br />

unternimmt ihn in diesem Buch und<br />

lotet aus, warum Väter offenbar leichten<br />

Herzens morgens zur Arbeit fahren und<br />

es ihnen nichts ausmacht, ihre Kinder<br />

nur am Wochenende zu erleben. Oder<br />

wieso die Kommunikation zwischen<br />

Vater und Sohn eine schwierigere ist<br />

als zwischen Mutter und Sohn. Leider<br />

bleibt es beim Versuch.<br />

Rathgeb findet darauf keine Antworten.<br />

Sein «Versuch über die Vaterliebe»<br />

liefert weder anregende Unterhaltung<br />

noch vertiefte Analyse. In 52 Kapiteln<br />

schildert der Autor seine Beziehung<br />

zum Vater, romantisiert das Verhältnis<br />

zur Tochter, spricht über die Patchworkfamilien,<br />

welche sich in dieselbe ländliche<br />

Idylle zurückgezogen haben wie<br />

er selbst, und versucht, seine Gedanken<br />

mit Bezügen zur Literatur und Metaphern<br />

aus der Natur zu untermauern.<br />

Lose schweift der Autor von in der<br />

dritten Person formulierten, pathetisch<br />

überhöhten Schilderungen («Als er<br />

selbst, der Sohn, Vater geworden war,<br />

hat er jeden Abend, den er zu Hause sein<br />

konnte, seiner Tochter vorgelesen»)<br />

zu zwischen den Zeilen formulierter<br />

Gesellschaftskritik: «Doch wie wir mit<br />

unseren Eltern umgehen, die wir lieber<br />

ins Altersheim stecken, als daheim<br />

bei uns aufzunehmen, weil wir keinen<br />

Platz und keine Zeit haben, gehen wir<br />

mit unseren Kindern um, die wir wegen<br />

irgendwelcher Glücksversprechen vernachlässigen<br />

oder ganz verlassen.»<br />

Rathgeb moniert, dass das Muttersein<br />

dem Ruf der Natur entspringe,<br />

das Vatersein hingegen eine Verhaltensbe<br />

stimmung sei. Seine Enttäuschung<br />

darüber kann er im stilistisch überstrapazierten<br />

Buch nicht verbergen.<br />

Bezeichnend, dass die Mutter seiner<br />

Tochter in keiner Zeile vorkommt: Es<br />

ist die «Zeit»-Redaktorin und «Literaturclub»-Moderatorin<br />

Iris Radisch, die<br />

kürzlich mit «<strong>Die</strong> Schule der Frauen»<br />

eine gefeierte Analyse über die Familie<br />

vorgelegt hat. �<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 23


Sachbuch<br />

Familie Über den schwierigen Umgang von Erwachsenen mit ihren bedürftigen Eltern<br />

Vom Haus ins Heim<br />

Anonymus: Wohin mit Vater? Ein Sohn<br />

verzweifelt am Pflegesystem. S. <strong>Fischer</strong>,<br />

Frankfurt 2007. 190 Seiten, Fr. 30.60.<br />

Christine Eichel: <strong>Die</strong> Liebespflicht.<br />

Zwischen alten Eltern und kleinen<br />

Kindern. Pendo, München 2007.<br />

229 Seiten, Fr. 32.–.<br />

Cyrille Offermans: Warum sollte ich<br />

meine demente Mutter belügen?<br />

Antje Kunstmann, München 2007.<br />

160 Seiten, Fr. 26.20.<br />

Von Simone von Büren<br />

«Ob wir das mit unseren Eltern einigermassen<br />

anständig hinbekommen, ob wir<br />

sie so pflegen, unterbringen, versorgen,<br />

wie es angemessen wäre, das gehört<br />

nicht zum Kanon der stolz präsentierten<br />

Lebensleistungen», schreibt Christine<br />

Eichel in ihrem Essay «<strong>Die</strong> Liebespflicht».<br />

Womöglich wird sich das bald<br />

ändern. Jedenfalls widmen sich gleich<br />

drei Neuerscheinungen aus Deutschland<br />

und den Niederlanden den Herausforderungen<br />

dieser Aufgabe.<br />

Von einem Tag auf den andern ist die<br />

Mutter nicht mehr da. Was tun mit dem<br />

pflegebedürftigen Vater, der allein im<br />

Wohnzimmer sitzt und sich ohne Hilfe<br />

nicht von der Stelle bewegen kann? Im<br />

autobiografisch geprägten Sachbuch<br />

«Wohin mit dem Vater?» schildert ein<br />

deutscher Journalist distanziert in der<br />

dritten Person und in einer Mischung<br />

aus Erzählung, sachlicher Kritik und<br />

praktischen Informationen, wie er in<br />

kürzester Zeit eine Pflegelösung für<br />

seinen Vater finden muss. Der Generationenvertrag<br />

fordert, dass er die<br />

Betreuung selber übernimmt: «Ich muss<br />

das tun, jedes Kind muss das tun, es ist<br />

das Mindeste, was man seinen Eltern<br />

schuldig ist.» Er hat eine eigene Familie<br />

und Arbeit am andern Ende des Landes.<br />

<strong>Die</strong> verzweifelte Suche nach Alternativlösungen<br />

beginnt.<br />

Pflegerin aus Polen<br />

Ein ganztätiger professioneller Pflegedienst<br />

zu Hause stellt sich schnell als<br />

unbezahlbar heraus. Besuche in verschiedenen<br />

Pflegeheimen in der ungenannt<br />

bleibenden Stadt im Osten Deutschlands<br />

bestätigen seine schlimmsten Befürchtungen:<br />

sedierte Insassen in Doppelzimmern,<br />

Uringeruch, Magensonden<br />

und Katheter, weil Füttern und Toilette<br />

zu zeitaufwendig sind. Zudem wird<br />

klar, dass ein ökonomisches Interesse<br />

an möglichst pflegebedürftigen Patienten<br />

besteht: je schlechter der Zustand,<br />

desto höher die Pflegestufe, desto mehr<br />

Geld vom Staat. Der Sohn realisiert: Den<br />

Vater in eine solche Institution zu geben,<br />

käme einem Akt der Entsorgung gleich.<br />

<strong>Die</strong> Lösung, die er schliesslich findet,<br />

sieht eine Pflegefachfrau aus Polen vor<br />

und ist illegal. Deshalb veröffentlicht er<br />

sein Sachbuch anonym.<br />

Auch die deutsche Autorin Christine<br />

Eichel ist auf der Suche nach einer<br />

Lösung für ihren zunehmend demen-<br />

24 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

ZELCK/LAIF<br />

Leise Aufmerksamkeit<br />

für verwirrte alte<br />

Menschen statt<br />

märtyrerhafter<br />

Aktionismus.<br />

ten Vater. Er ist vorerst in einem Heim<br />

untergebracht. Doch die pflichtbewusste<br />

Tochter hat ein schlechtes Gewissen und<br />

beginnt, sich mit andern Betreuungsmöglichkeiten<br />

auseinanderzusetzen. In<br />

einer leicht verzettelten Mischung aus<br />

eigenen Beobachtungen und Fallbeispielen<br />

thematisiert sie die Probleme,<br />

auf die sie dabei stösst: das schlechte<br />

Gewissen, das erneute Abhängigkeitsverhältnis<br />

zwischen Eltern und Kindern<br />

nach <strong>Jahre</strong>n «planvoll verlernter Nähe»,<br />

die Konfrontation mit dem eigenen<br />

Älterwerden, den Zusammenhang zwischen<br />

Pflegenotstand und individualistischer<br />

Gesellschaft.<br />

Wie schon der Titel ihres Essays zeigt,<br />

stellt sie dabei die moralische Verpflichtung<br />

ins Zentrum und orientiert sich<br />

als Pfarrerstochter stark an christlichen<br />

Werten. Auf eigenartig abstrakte Weise<br />

fordert sie den Eltern gegenüber Liebe<br />

und Aufmerksamkeit, geht aber, abgesehen<br />

von einigen sentimentalen Passagen,<br />

kaum auf den eigenen Vater ein.<br />

Ganz anders Cyrille Offermans in<br />

seinem aufwühlend ehrlichen Essay<br />

«Warum sollte ich meine demente<br />

Mutter belügen». Im Unterschied zu<br />

den beiden andern Autoren, welche die<br />

Möglichkeit, die Eltern selbst zu pflegen,<br />

pflichtbewusst erwägen, dann aber<br />

verwerfen, begleiten der niederländische<br />

Autor und seine Geschwister die an<br />

Alzheimer erkrankte Mutter jahrelang<br />

auf ihrem Weg in die totale Abhängigkeit<br />

und Verwirrung. Mit dem liebevollen<br />

Blick des Sohnes beobachtet Offermans<br />

ihr ununterbrochenes Reden und<br />

die g<strong>rot</strong>esken Rollenspiele, mit denen<br />

sie die wachsenden Löcher im Gedächtnis<br />

zu vertuschen sucht.<br />

Faszinierend genau beschreibt er, wie<br />

mentale, sprachliche und motorische<br />

Abläufe zerbröckeln, bis sie alles «wie<br />

angeleitet von einer unverständlichen<br />

peniblen Gebrauchsanweisung» ausführt.<br />

Witzig und liebevoll<br />

Er verbindet witzige Anekdoten mit philosophischen<br />

Überlegungen und findet<br />

kraftvolle Metaphern für den Zustand<br />

der Mutter: Sie eilt «wie ein schludriges<br />

Gespenst auf der Suche nach einem<br />

Beichtvater durch die Gänge meines<br />

Hirns» oder erinnert ihn an einen<br />

Clown, dessen Bewegungen experimentellen<br />

Charakter haben: «Alle seine<br />

Aktionen sind ein Schlag in die Luft. Zu<br />

keinem Ding hat er noch eine vertraute<br />

Beziehung, jeder Gegenstand ist ihm ein<br />

Hindernis, das er überwinden muss.»<br />

Wenn die Mutter ihm erzählt, sie sei<br />

in einem Leierkasten abgeführt worden,<br />

tut er das nicht als Wahn ab, sondern<br />

respektiert es als Ausdruck ihres Erlebens.<br />

Überhaupt ist er bemüht, sie ernst<br />

zu nehmen. Oft ist aber gar nicht klar,<br />

was das bedeutet: Was tun, wenn sie<br />

seine Fürsorglichkeit als verräterische<br />

Vormundschaft erlebt? Ist es human,<br />

sie möglichst lange für voll zu nehmen?<br />

Oder ist es sinnvoller, zu lügen? Wie<br />

geht man dann mit dem Gefühl um, sie<br />

überlistet zu haben?<br />

Unsicherheit und Schuldgefühle bleiben<br />

auch bei Offermans. Doch sein Buch<br />

zeigt, dass die grosse Leistung nicht in<br />

märtyrerhaftem Aktionismus besteht.<br />

Viel wichtiger ist die leise Aufmerksamkeit,<br />

die den verwirrten alten Menschen<br />

statt als demographische Kategorie<br />

als ein Individuum mit einer eigenen<br />

Geschichte und Emotionalität wahrnimmt<br />

und damit seine Würde bewahrt.<br />

Gelingt einem das, darf man es durchaus<br />

stolz als Lebensleistung präsentieren. �


Bundesratswahlen Der frühere Aargauer SP-Nationalrat Silvio Bircher beschreibt die Abwahl von<br />

Ruth Metzler und die Wahl Christoph Blochers in die Landesregierung 2003<br />

«Parteipolitisierung» im Bundesrat<br />

Silvio Bircher: Wahlkarussell Bundeshaus.<br />

Umstrittene Bundesratswahlen<br />

und Schweizer Politik. AT-Verlag,<br />

Baden 2007. 206 Seiten, Fr. 29.90.<br />

Von Urs Altermatt<br />

«Parlamentswahlen sind auch Bundesratswahlen<br />

geworden.» So steht es im vorliegenden<br />

Buch, das der zweiundsechzigjährige<br />

Aargauer SP-Politiker Silvio Bircher<br />

nach einer dreissigjährigen Laufbahn als<br />

Grossrat, Nationalrat und Regierungsrat<br />

verfasst hat. In Europa sind Regierungsbildungen<br />

ein Abbild der Wahlen und<br />

der nachfolgenden, zum Teil langwierigen<br />

Koalitionsverhandlungen. Insofern<br />

beginnt sich die Schweiz auch in dieser<br />

Beziehung zu europäisieren, wobei sie<br />

die rapide Entwicklung in diese Richtung<br />

paradoxerweise jener Partei verdankt, die<br />

sonst den «Sonderfall Schweiz» bei jeder<br />

Gelegenheit betont.<br />

Nach der Einführung des Proporzwahlrechts<br />

musste die Sozialdemokratie ein<br />

Vierteljahrhundert warten, bis sie 1943<br />

einen und 1959 dank einer Allianz mit den<br />

Christlichdemokraten einen zweiten Sitz<br />

in der Landesregierung erhielt. Für die<br />

Integration der SP in den Bundesrat war<br />

die inhaltliche Konkordanz und nicht der<br />

arithmetische Proporz massgebend. <strong>Die</strong><br />

SP hatte ihr Bekenntnis zur proletarischen<br />

Weltrevolution aufgegeben und die militärische<br />

Landesverteidigung anerkannt.<br />

Bircher beschreibt ausführlich die spannende<br />

Wahl von Christoph Blocher. Nach<br />

den eidgenössischen Wahlen von 2003<br />

warf eine knappe Parlamentsmehrheit<br />

die christlichdemokratische Bundesrätin<br />

Ruth Metzler kurz vor ihrem Präsidialjahr<br />

aus dem Amt. <strong>Die</strong> Parteistrategen der SVP<br />

und der FDP beriefen sich auf die Wahlarithmetik<br />

und gingen kaltschnäuzig über<br />

die von Sozial- und Christlichdemokraten<br />

vorgebrachten Argumente der inhaltlichen<br />

Konkordanz hinweg. In einem Kommentar<br />

nannte ich damals die Abwahl der<br />

Vizepräsidentin Metzler einen «Tabubruch»,<br />

der Folgen habe – indem künftig<br />

auch anderen Bundesräten das gleiche<br />

Schicksal drohen könne.<br />

Wie nie zuvor bei Nationalratswahlen<br />

– dies hebt Silvio Bircher hervor – stehen<br />

die Bundesräte im Zentrum einer eigentlichen<br />

Marketing-Wahlschlacht, die die<br />

SVP zu einem Plebiszit für oder gegen<br />

Christoph Blocher umfunktionierte. 2003<br />

wollte der Freisinn den Volkstribun Blocher<br />

durch den Einbezug in die Landesregierung<br />

bändigen, stattdessen revolutionierte<br />

dieser nicht nur den Stil der<br />

schweizerischen Politik, sondern auch die<br />

eidgenössischen Wahlen.<br />

Der ehemalige Chefredaktor des so -<br />

zialdemokratischen «Freien Aargauers»<br />

beschreibt den Wandel des politischen<br />

Systems in unaufgeregtem Ton und lässt<br />

die Geschichte der «Zauberformel» detailreich<br />

Revue passieren. Im Unterschied zu<br />

andern Autoren vermittelt Silvio Bircher<br />

wenig Klatsch und Tratsch, wenn er auch<br />

der Personalisierung seinen Tribut leistet<br />

und in die Darstellung des politischen<br />

Systems Porträts der sieben Bundesrätinnen<br />

und Bundesräte einstreut. Wer für<br />

die «Parteipolitisierung» des Bundesrates<br />

Belege sucht, findet zahlreiche Beispiele.<br />

Wirklich spannend ist das Buch dennoch<br />

nicht geworden, denn der Politiker Bircher<br />

schlängelt sich um die Grundfrage herum,<br />

ob die Zusammensetzung des Bundesrates<br />

einer blossen Proporzrechnung folgen<br />

soll oder die Konkordanz gerade eine<br />

inhaltliche Übereinstimmung in den politischen<br />

Grundfragen voraussetzt. �<br />

Urs Altermatt ist Professor für<br />

Zeitgeschichte an der Uni Freiburg.<br />

Überwachung Ein Pamphlet von Wolfgang Sofsky – brillant geschrieben, antiquiert im Inhalt<br />

<strong>Die</strong> Zitadelle der Freiheit<br />

Wolfgang Sofsky: Verteidigung des<br />

Privaten. Eine Streitschrift. C. H. Beck,<br />

München 2007. 158 Seiten, Fr. 26.80.<br />

Von Thomas Köster<br />

Wolfgang Sofsky ist ein grimmiger Hüter<br />

des Privaten. In seiner neuen Streitschrift<br />

hat sich der Göttinger Soziologe, mit<br />

dem blendenden Panzer seiner Sprache<br />

gerüstet, auf den Wehrturm gestellt, den<br />

er die «Zitadelle der persönlichen Freiheit»<br />

nennt. Es gilt, das Bollwerk von all<br />

jenem, was kein Fremder sehen, hören,<br />

wissen soll, gegen die allgegenwärtige<br />

Bedrohung von draussen zu beschützen.<br />

«Recht so, Herr Sofsky!», möchte der<br />

Leser zu dieser «Verteidigung des Privaten»<br />

rufen. In einer Zeit, in der Politiker<br />

die Online-Durchsuchung von privaten<br />

Computern als präventives Mittel gegen<br />

Terror verkaufen und E-Mails einen<br />

Umweg über weltweit vernetzte Server<br />

nehmen, die von ausländischen Geheimdiensten<br />

bespitzelt werden, scheint die<br />

Privatsphäre mehr denn je bedroht.<br />

YOSHIKO KUSANO / KEYSTONE<br />

Am Tag der Abwahl:<br />

Bundesrätin Ruth<br />

Metzler, 10. 12. 2003.<br />

Dass dem Leser der spontane<br />

Zuspruch zu Sofskys Thesen dann aber<br />

doch im Hals stecken bleibt, liegt an der<br />

Methode, aber auch am Inhalt des Pamphlets.<br />

Denn der Soziologe argumentiert<br />

weitgehend ohne aktuellen Bezug<br />

und derart polemisch, dass selbst der<br />

demokratischste Sozialstaat im Lichte<br />

martialischer Metaphern wie ein totalitaristisches<br />

Regime erscheint.<br />

«Fern jedes moralischen Anspruchs<br />

kennt die Entwicklung des Staates nur<br />

eine Richtung: Vorwärts in der Entmündigung<br />

und Enteignung der Bürger!»,<br />

schreibt Sofsky – und vergisst in<br />

seinem Zorn auf Steuereintreiber und<br />

Sicherheitsfanatiker, dass die Gefahr,<br />

von Firmen übers Internet, über Kredit-<br />

und Kundenkarten ausspioniert zu<br />

werden, heute schon viel realer ist. «Der<br />

gemeine Untertan wird ohne sein Wissen<br />

und gegen seinen Willen belauscht<br />

und beobachtet», steht da. Dabei muss<br />

man nur eine Talkshow im Privatfernsehen<br />

schauen oder in der Bahn mit einem<br />

jener unzähligen Handygespräche konfrontiert<br />

werden, in denen Mitreisende<br />

ihr Intimstes nach aussen kehren, um<br />

zu begreifen, dass dem grossen Bruder<br />

allzu viele Türen freiwillig geöffnet werden<br />

und die «Zitadelle» des Privaten in<br />

dieser Form längst nicht mehr existiert.<br />

Sofsky scheint dies zu merken und<br />

geht dem Problem aus dem Weg, indem<br />

er als Umfriedung des privaten Bollwerks<br />

nicht einmal mehr das soziale<br />

Band der Freunde und Familie fasst,<br />

sondern nur noch Hirn und Haut des<br />

Individuums. Konsequenterweise endet<br />

die Verteidigung des Privaten mit einem<br />

Kapitel über die Gedankenfreiheit. Nur<br />

die Gedanken sind frei, sagt Sofsky – und<br />

auch nur so lange, bis wir beginnen, sie<br />

mitzuteilen. Sein staatspolitisch radikaler<br />

Liberalismus mündet in asoziale Isolation.<br />

Eine Alternative ist das nicht.<br />

So wirkt diese Streitschrift t<strong>rot</strong>z ihrer<br />

politischen Brisanz seltsam abstrakt und<br />

antiquiert. Was an Wahrem zur alltäglichen<br />

Überwachung und Manipulation<br />

durch Staat, Medien, Gesellschaft und<br />

Religion gesagt wird, haben auch andere<br />

schon gesagt. Vielleicht nicht so schön<br />

und so suggestiv wie Sofsky. �<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 25


Sachbuch<br />

Geschichte Beatrix Mesmer beschreibt den langen Weg der Schweizer Frauen zum Stimmrecht<br />

Enttäuschungen, Demütigungen und Erfolge<br />

Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne<br />

Stimmrecht. <strong>Die</strong> Politik der schweizerischen<br />

Frauenverbände 1914−1971.<br />

Chronos, Zürich 2007. 360 S., Fr. 58.–.<br />

Von Tobias Kaestli<br />

Im Ersten Weltkrieg traten Frauen in<br />

die Lücken, wo Männer zum Militär<br />

aufgeboten wurden. Bei Kriegsende<br />

hatten der Gemeinnützige Frauenverein,<br />

der Katholische Frauenbund, der<br />

Bund Schweizerischer Frauenvereine<br />

und viele andere grössere und kleinere<br />

Verbände eindrücklich bewiesen, was<br />

längst nicht mehr zu beweisen war: dass<br />

Frauen nicht nur für den Privatbereich<br />

tätig waren, sondern wichtige Arbeiten<br />

im <strong>Die</strong>nst der Allgemeinheit leisteten.<br />

Energisch forderten sie nun das<br />

Frauenstimm- und -wahlrecht. 1918/19<br />

suchte der Schweizerische Verband für<br />

Frauenstimmrecht nach der effektivsten<br />

Strategie, um dieser Forderung zum<br />

Durchbruch zu verhelfen. Obwohl die<br />

Gewerkschaften und die SP in ihrem<br />

Generalstreikprogramm das Gleiche<br />

Das amerikanische Buch Tagebuch eines Insiders aus dem Weissen Haus<br />

Ein Paukenschlag eröffnet die posthum<br />

veröffentlichten Aufzeichnungen Journals<br />

1952–2000 des amerikanischen<br />

Historikers Arthur M. Schlesinger jr.,<br />

(Penguin Press, 894 Seiten). Im März<br />

1952 erklärte US-Präsident Harry Truman<br />

auf einer Gala der Demokraten,<br />

dass er für eine erneute Kandidatur<br />

nicht mehr zur Verfügung stehe. <strong>Die</strong><br />

Einladung zum Abend hatte Schlesinger<br />

von einem Freund erhalten. Mit den<br />

anwesenden Notabeln war der 34-jährige<br />

Sohn eines renommierten Geschichtswissenschafters<br />

bereits damals<br />

bekannt. So begab sich Schlesinger anschliessend<br />

mit Averell Har riman und<br />

Adlai Stevenson zur Nachlese in den<br />

exklusiven Washing toner Metropolitan<br />

Club.<br />

Berühmte Namen, historische Augenblicke,<br />

ein Marathon von Essen und<br />

Partys, bei dem die gutgemixten Martinis<br />

nie ausgingen – die 900 Seiten starken<br />

«Journals» sind ein anregender<br />

Cocktail aus Klatsch, bisher unbekannten<br />

Informationen und scharfsinnigen<br />

Analysen. Sofort nach Erscheinen im<br />

Oktober wurden sie am gleichen Sonntag<br />

in den Buchbeilagen der «Washington<br />

Post» und der «New York Times»<br />

als Aufmacher und sehr positiv besprochen.<br />

Eine dichtgewebte Chronik sind<br />

die Tagebücher nicht; aber aus unzähligen<br />

Episoden entsteht das Porträt einer<br />

Klasse in ihrer Epoche. Schlesingers<br />

Welt ist die einer Elite auf der Achse<br />

Boston–New York–Washington, bevölkert<br />

von Norman Mailer und Gore Vidal,<br />

Lauren Bacall und Gloria Steinem.<br />

Nebenbei treten Judy Garland oder<br />

26 � NZZ am Sonntag � 4. November 2007<br />

LEN SIRMAN / KEYSTONE<br />

ren Zusammenarbeit. Immerhin unterstützte<br />

der «bürgerliche» Frauenstimmrechtsverband<br />

eine Frauenstimmrechts-<br />

Motion des Sozialdemokraten Herman<br />

Greulich wie auch eine entsprechende<br />

Motion des Freisinnigen Emil Göttisheim.<br />

Zudem lancierte er eine Frauenstimmrechts-Petition.<br />

Alle Bemühungen verliefen im Sand!<br />

Auch auf kantonaler Ebene schickten die<br />

Männer sämtliche Vorstösse zugunsten<br />

eines partiellen oder integralen Frauenstimmrechts<br />

bachab. Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg wiederholte sich dieses<br />

Trauerspiel. Erst als die Schweiz 1962<br />

dem Europarat beitrat und sich vor die<br />

Aufgabe gestellt sah, die Europäische<br />

Menschenrechtskonvention umzusetzen,<br />

bekam die Forderung nach Gleichberechtigung<br />

der Frauen neuen Schub.<br />

Es dauerte allerdings noch fast ein Jahrzehnt,<br />

bis sie auf Bundesebene durchgesetzt<br />

wurde. Seither kämpft die «neue»<br />

Frauenbewegung für umfassende rechtliche<br />

und gesellschaftliche Gleichberechtigung.<br />

Das alles ist dargestellt in<br />

vielen Einzeluntersuchungen.<br />

<strong>Die</strong> Kennedy-Brüder<br />

Robert, Ted und John<br />

(von links), frühe<br />

1960er <strong>Jahre</strong>. Unten:<br />

Arthur M. Schlesinger.<br />

AP gefordert hatten, kam es zu keiner enge-<br />

Mick Jagger auf, der sich als «humorvoll,<br />

klug und anmutiger Tänzer» entpuppt<br />

und obendrein durch «gutes<br />

Benehmen» überrascht.<br />

Schlesinger hatte es 1952 nach einem<br />

Abstecher in den CIA-Vorläufer OSS<br />

längst zu einer Harvard-Professur und<br />

einem Pulitzerpreis gebracht. Zu Beginn<br />

der «Journals» als Redenschreiber ein<br />

Intimus von Adlai Stevenson, der zweimal<br />

als demokratischer Kandidat gegen<br />

Eisenhower scheiterte, übertrug Schlesinger<br />

seine Loyalität 1959 auf John<br />

F. Kennedy. Ihm ist er als Berater in das<br />

Weisse Haus gefolgt. Schlesinger blieb<br />

dem glamourösen Clan von JFK verbunden,<br />

auch wenn er nach dem Scheitern<br />

der präsidialen Ambitionen Ted Kennedys<br />

1980 kein politisches Amt mehr<br />

übernehmen wollte. Gleichwohl hat bis<br />

zu Bill Clinton noch jeder bedeutende<br />

demokratische Politiker den Rat des<br />

Beatrix Mesmer, emeritierte Berner<br />

Geschichtsprofessorin, legt nun eine eindrückliche<br />

Gesamtschau vor, aus der vor<br />

allem eines ersichtlich wird: <strong>Die</strong> Frauenverbände<br />

mischten sich in das politische<br />

Handeln auf allen Ebenen ein, verhielten<br />

sich «staatstragend», noch bevor sie die<br />

politische Gleichberechtigung errungen<br />

hatten. Dass sie dabei unzählige Enttäuschungen<br />

und Demütigungen erlebten,<br />

versteht sich von selber.<br />

<strong>Die</strong> Autorin schreibt einen kühlen,<br />

leicht ironischen Stil, und t<strong>rot</strong>zdem ist<br />

zu spüren, wie sie mitleidet, sich aber<br />

auch freut, wenn den Frauen ein kluger<br />

Schachzug gelingt. Sie bemüht sich, die<br />

traditionelle Einteilung der Frauenbewegung<br />

in eine bürgerliche und eine sozialdemokratische<br />

Strömung durch eine<br />

exaktere Zuordnung zu überwinden. <strong>Die</strong><br />

Situierung der Frauenverbandstätigkeit<br />

in der männerdominierten Parteien- und<br />

Verbandslandschaft verwischt sich aber<br />

durch ihre manchmal etwas detailversessene<br />

Darstellungsweise. So ist zwar<br />

der Erkenntnisgewinn in Einzelheiten<br />

hoch, aber eine einprägsame Übersicht<br />

ist nur schwer zu gewinnen. �<br />

zierlichen Insiders mit der charakteristischen<br />

Fliege gesucht.<br />

Skandalöses aus dem Leben und Treiben<br />

der von ihm so verehrten Kennedys<br />

hat Schlesinger nicht notiert. Dennoch<br />

betten die Aufzeichnungen historische<br />

Grossereignisse – bis zum Scheitern Al<br />

Gores im November 2000 – in die Zweifel<br />

und Schwächen der P<strong>rot</strong>agonisten<br />

ein. Da beklagt sich der aufstrebende<br />

Henry Kissinger bei Schlesinger, dass<br />

ihn Dean Rusk nicht zu JFK vorlasse.<br />

Auch das starke Geltungsbedürfnis<br />

Schlesingers treibt mitunter bunte Blüten.<br />

So kann er es als 80-Jähriger kaum<br />

verwinden, dass ihm im Haus der «Washington<br />

Post»-Verlegerin Katharine<br />

Graham eine Senatorenwitwe den Weg<br />

zu Prinzessin Diana verstellt.<br />

Schlesinger hat über 20 teilweise monumentale<br />

Bücher über amerikanische<br />

Geschichte geschrieben, so die Klassiker<br />

A Thousand Days: John F. Kennedy in<br />

the White House (Houghton Mifflin<br />

2002) und The Imperial Presidency<br />

(Houghton Mifflin 2004). Wie er neben<br />

allen gesellschaftlichen und politischen<br />

Verpflichtungen für die «Journals» Zeit<br />

fand, ist kaum nachvollziehbar. Dabei<br />

sind diese nur das von seinen Söhnen<br />

Andrew und Stephen erstellte Destillat<br />

aus 6000 Seiten, die Schlesinger seiner<br />

Sekretärin mitunter täglich diktierte. Er<br />

wollte daraus den zweiten Band seiner<br />

Erinnerungen verfassen. Dazu kam es<br />

nicht mehr: Er verstarb im Februar<br />

2007 standesgemäss bei einem Dinner<br />

in Manhattan.<br />

Von Andreas Mink �


Agenda<br />

Bilder einer Stimme Maria Callas<br />

Mailand, im Herbst 1958: <strong>Die</strong> Callas macht sich<br />

in ihrem Schlafzimmer schön. Sie hat ein bewegtes<br />

Jahr hinter sich. Von New York bis London ist sie<br />

frenetisch gefeiert worden, in der Scala hat man<br />

sie als Iphigenie mit 25-minütigem Applaus bedacht,<br />

während sie als Anna Bolena das Publikum polarisiert.<br />

Mit ihrem Gatten, der ihre Gagen heimlich in<br />

die eigene Tasche wirtschaftet, liegt sie in heftigem<br />

Streit. Derweil schickt Aristoteles Onassis ihr Blumen<br />

in die Garderobe, eine Romanze kündet sich an.<br />

Das Leben der Jahrhundert-Diva lässt sich nun in<br />

einem Bildband mit vielen überraschenden Fotos<br />

Bestseller November 2007<br />

Belletristik<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Paulo Coelho: <strong>Die</strong> Hexe von Portobello.<br />

Diogenes. 320 Seiten, Fr. 35.90. (1)<br />

Tim Krohn: Vrenelis Gärtli.<br />

Eichborn. 362 Seiten, Fr. 39.90. (4)<br />

Franz Hohler: Es klopft.<br />

Luchterhand. 175 Seiten, Fr. 31.90. (2)<br />

Khaled Hosseini: Tausend strahlende Son-<br />

nen. Bloomsbury. 381 Seiten, Fr. 38.–. (6)<br />

Henning Mankell: <strong>Die</strong> italienischen Schuhe.<br />

Zsolnay. 365 Seiten, Fr. 38.90. (5)<br />

Julia Franck: <strong>Die</strong> Mittagsfrau.<br />

S. <strong>Fischer</strong>. 432 Seiten, Fr. 35.40. (3)<br />

Pascal Mercier: Lea.<br />

Hanser. 256 Seiten, Fr. 36.–. (–)<br />

Milena Moser: Stutenbiss.<br />

Blessing. 250 Seiten, Fr. 31.90. (7)<br />

Warlam Schalamow: Durch den Schnee.<br />

Matthes & Seitz. 342 Seiten, Fr. 40.30. (–)<br />

Andrea Camilleri: <strong>Die</strong> dunkle Wahrheit des<br />

Mondes. Lübbe. 272 Seiten, Fr. 35.50. (8)<br />

aufblättern. Sie zeigen den Star als junges Pummelchen<br />

und reife Lady, im Pelz und im Bikini, beim Bier<br />

mit einem Berliner Arbeiter, auf ausgelassener Fahrt<br />

unter Freundinnen, lachend, manchmal tobend und<br />

oft auch in sich gekehrt. Maria Callas pflegte nicht<br />

den makellosen Schöngesang, sondern eine kompromisslose<br />

Ausdruckskunst, und sie war keine hübsche<br />

Larve, sondern eine Frau mit einem Gesicht, das man<br />

so wenig vergisst wie ihre Stimme. Manfred Papst<br />

Yann-Brice Dherbier (Hrsg.): Maria Callas.<br />

Bilder eines Lebens. Schwarzkopf & Schwarzkopf,<br />

Berlin 2007. 160 Seiten, Fr. 50.90.<br />

Sachbuch<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Rhonda Byrne: The Secret. Das Geheimnis.<br />

Goldmann. 237 Seiten, Fr. 30.10. (1)<br />

Jacky Gehring: Mit Body Reset attraktiv,<br />

schlank, vital. Sivita. 113 Seiten, Fr. 26.50. (3)<br />

Verena Wermuth: <strong>Die</strong> verbotene Frau.<br />

Woa. 317 Seiten, Fr. 23.–. (2)<br />

Richard Dawkins: Der Gotteswahn.<br />

Ullstein. 574 Seiten, Fr. 39.90. (–)<br />

André Gorz: Brief an D.<br />

Rotpunktverlag. 97 Seiten, Fr. 24.–. (–)<br />

Walter Raaflaub: Tote Hose.<br />

Wörterseh. 317 Seiten, Fr. 34.90. (10)<br />

Moritz Leuenberger: Lüge, List und Leiden-<br />

schaft. Limmat. 221 Seiten, Fr. 32.–.(5)<br />

Titus Arnu: Langenscheidt Übelsetzungen.<br />

Langenscheidt. 128 Seiten, Fr. 18.60. (8)<br />

Roberto Saviano: Gomorrha.<br />

Hanser. 384 Seiten, Fr. 38.70. (4)<br />

Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg.<br />

Malik. 353 Seiten, Fr. 35.40. (6)<br />

Erhebung im Auftrag des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbands SBVV; 25. 10. 2007. Preise laut Angaben von www.buch.ch.<br />

Agenda November 07<br />

Basel<br />

Montag, 5. November, 20.30 Uhr<br />

Zoë Jenny: Das Portrait. Lesung, Fr. 15.–.<br />

Atlantis, Klosterberg, Tel. 061 264 26 55.<br />

Donnerstag, 15. November, 19 Uhr,<br />

19.45 Uhr, 20.30 Uhr<br />

-minu: Der etwas andere Alltag. Tramlesung.<br />

Abfahrten ab Aeschenplatz, Fr. 8.–.<br />

Plätze limitiert; Tel 061 264 26 55.<br />

Freitag, 23. November, 19 Uhr<br />

Eduardo Mendoza: Mauricios Wahl.<br />

Lesung und Gespräch, Fr. 15.–. Literaturhaus,<br />

Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50.<br />

Bern<br />

Mittwoch, 7. November, 20 Uhr<br />

Lukas Hartmann: Spuren in der Polenta.<br />

Kinderbuchvernissage. Eintritt frei.<br />

Thalia Buch im Loeb. Tel. 031 320 20 20.<br />

Mittwoch, 14. November, 12 Uhr<br />

Mittagspause mit Astrid Lindgren.<br />

Kornhausbibliothek, Kornhausplatz 18,<br />

Tel. 031 327 10 26.<br />

Mittwoch, 14. November, 20 Uhr<br />

Rüdiger Safranski: Romantik.<br />

Vortrag und Lesung.<br />

Fr. 15.–. Stauffacher<br />

Buchhandlung,<br />

Neuengasse 25–37,<br />

Tel. 031 313 63 63.<br />

Zürich<br />

Donnerstag, 8. November, 20 Uhr<br />

David Albahari: <strong>Die</strong> Ohrfeige. Lesung<br />

und Gespräch, Fr. 15.– inkl. Apéro.<br />

Literaturhaus, Limmatquai 62,<br />

Tel. 044 254 50 00.<br />

<strong>Die</strong>nstag, 20. November, 20 Uhr<br />

Mircea Cǎrtǎrescu: <strong>Die</strong> Wissenden.<br />

Lesung und Gespräch, Fr. 15.– inkl.<br />

Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62,<br />

Tel. 044 254 50 00.<br />

<strong>Die</strong>nstag, 27. November, 20 Uhr<br />

Davide Longo: Der Steingänger. Lesung<br />

und Gespräch, Fr. 15.– inkl. Apéro.<br />

Literaturhaus, Limmatquai 62,<br />

Tel. 044 254 50 00.<br />

Verschiedene Orte<br />

Luzern, Mittwoch, 14. November, 20 Uhr<br />

Kurt Steinmann: Odysee von Homer.<br />

Neuübersetzung. Lesung. Orell Füssli,<br />

Frankenstr. 7–9, Tel. 041 229 60 20.<br />

Schaffhausen, Mittwoch, 21. November,<br />

20 Uhr<br />

Judith Giovanelli-Blocher: Woran wir<br />

wachsen. Lesung, Fr. 12.–. Thalia Bücher,<br />

Vordergasse 77, Tel. 052 632 40 50.<br />

Winterthur, Montag,<br />

19. November,<br />

20 Uhr<br />

Christina Viragh:<br />

Im April. Lesung.<br />

Volkarthaus,<br />

Turnerstrasse 1,<br />

Tel. 052 267 51 08.<br />

4. November 2007 �NZZ am Sonntag � 27<br />

ISOLDE OHLBAUM

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