Hochbegabung und Sonderpädagogik - sonderpaedagoge.de!
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Ausgabe 02|09<br />
Die Fachzeitschrift im Internet<br />
Rezensionen<br />
Veranstaltungshinweise<br />
ISSN 1610-613X / Jg. 8<br />
2/ 09<br />
Albert Ziegler<br />
„Ganzheitliche För<strong>de</strong>rung“ umfasst mehr als nur die Person:<br />
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Heidrun Stöger<br />
Die I<strong>de</strong>ntifikation Hochbegabter basierend auf einem<br />
systemischen Begabungsansatz <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Relevanz für<br />
Begabte mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf<br />
Bettina Har<strong>de</strong>r<br />
Twice exceptional – in zweifacher Hinsicht außergewöhnlich:<br />
Hochbegabte mit Lern-, Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungsstörungen<br />
o<strong>de</strong>r Autismus<br />
Philipp Martzog/ Heidrun Stöger/ Albert Ziegler<br />
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
Christine Sontag/ Julia Schäfer<br />
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Robert Grassinger<br />
Beratung Hochbegabter
Inhalt<br />
Editorial...................................................................3<br />
Albert Ziegler<br />
„Ganzheitliche För<strong>de</strong>rung“ umfasst mehr als nur die Person:<br />
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung..........................5<br />
Heidrun Stöger<br />
Die I<strong>de</strong>ntifikation Hochbegabter basierend auf einem systemischen<br />
Begabungsansatz <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Relevanz für Begabte<br />
mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf ................35<br />
Bettina Har<strong>de</strong>r<br />
Twice exceptional – in zweifacher Hinsicht außergewöhnlich:<br />
Hochbegabte mit Lern-, Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungsstörungen<br />
o<strong>de</strong>r Autismus...........................64<br />
Philipp Martzog, Heidrun Stöger & Albert Ziegler<br />
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter................................................................90<br />
Christine Sontag & Julia Schäfer<br />
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte.......................113<br />
Robert Grassinger<br />
Beratung Hochbegabter..........................................138<br />
Rezensionen.........................................................163<br />
Veranstaltungshinweise ..........................................179<br />
Hinweise für Autoren..............................................183<br />
Leserbriefe <strong>und</strong> Forum............................................184<br />
- 1 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Heilpädagogik online 02/ 09<br />
ISSN 1610-613X<br />
Herausgeber <strong>und</strong> V.i.S.d.P.:<br />
Dr. Sebastian Barsch Tim Bendokat<br />
Lin<strong>de</strong>nthalgürtel 94 Südstraße 79<br />
50935 Köln<br />
48153 Münster<br />
Erscheinungsweise: 4 mal jährlich<br />
http://www.heilpaedagogik-online.com<br />
- 2 -<br />
Markus Brück<br />
Simmererstraße 12<br />
50935 Köln<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Editorial<br />
Liebe Leserinnen <strong>und</strong> Leser,<br />
Editorial<br />
mit dieser Zeitschrift können wir Ihnen eine Schwerpunktausgabe<br />
zu einem in <strong>de</strong>r Heilpädagogik bislang kaum beachteten Forschungs-<br />
<strong>und</strong> Arbeitsfeld präsentieren, das <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong>.<br />
Im Jahr 2004 fragte Christina Schenz in Heilpädagogik online:<br />
„Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung als Arbeitsfeld <strong>de</strong>r <strong>Son<strong>de</strong>rpädagogik</strong>?“ Sie<br />
plädierte für ein erweitertes Verständnis son<strong>de</strong>rpädagogischer För<strong>de</strong>rung:<br />
„Son<strong>de</strong>rpädagogische För<strong>de</strong>rung soll hier als Unterstützung<br />
beson<strong>de</strong>rer Entwicklungspotentiale durch die zur Verfügungstellung<br />
einer geeigneten, nicht durch herkömmliche Maßnahmen zu erreichen<strong>de</strong>n<br />
Lernumwelt verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, die ein Mensch braucht,<br />
um sich einerseits individuell zu entfalten <strong>und</strong> an<strong>de</strong>rerseits, um diese<br />
Fähigkeiten auch in die Gesellschaft einbringen zu können.“ (In:<br />
Heilpädagogik online, 1/2004, 11).<br />
In dieser Ausgabe bieten wir Ihnen nun eine ganz Reihe von Artikeln,<br />
die sich mit spannen<strong>de</strong>n Facetten <strong>de</strong>s Themas <strong>Hochbegabung</strong><br />
beschäftigen. Dabei konnten wir Prof. Dr. Albert Ziegler, Universität<br />
Ulm, <strong>und</strong> Prof. Dr. Heidrun Stöger, Universität Regensburg, zur Mitarbeit<br />
als Gasteditor <strong>und</strong> Gasteditorin gewinnen. Bei<strong>de</strong> haben Beiträge<br />
für diese Ausgabe verfasst. Die weiteren Artikel stammen von<br />
Mitarbeitern <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sweiten Beratungs- <strong>und</strong> Forschungsstelle für<br />
<strong>Hochbegabung</strong> <strong>de</strong>r Universität Ulm sowie von Mitarbeitern <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
Gast-Editoren.<br />
Im Einzelnen fin<strong>de</strong>n Sie Artikel zu folgen<strong>de</strong>n Schwerpunkten:<br />
Albert Ziegler streicht in seinem Beitrag die Be<strong>de</strong>utung einer systemischen<br />
Betrachtung von <strong>Hochbegabung</strong> hervor. In seinem Aktiotopmo<strong>de</strong>ll<br />
wird die Erreichung von Leistungsexzellenz als Ergebnis<br />
einer ganzheitlichen För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r hochbegabten Person, seiner<br />
Lern-Umgebung <strong>und</strong> entsprechen<strong>de</strong>r Ko-Adaptionen abgebil<strong>de</strong>t.<br />
Heidrun Stöger befasst sich mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation Hochbegabter.<br />
Dazu wur<strong>de</strong> von ihr selbst <strong>und</strong> Albert Ziegler das ENTER-Mo<strong>de</strong>ll<br />
entwickelt. Die Schritte <strong>de</strong>s ENTER-Mo<strong>de</strong>lls (Explore, Narrow,<br />
Transform, Evaluate <strong>und</strong> Review) wer<strong>de</strong>n vorgestellt. Außer<strong>de</strong>m<br />
diskutiert Stöger die Möglichkeit, die dieses Mo<strong>de</strong>ll für die I<strong>de</strong>ntifi-<br />
- 3 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Editorial<br />
kation hochbegabter Menschen mit heilpädagogischem (o<strong>de</strong>r son<strong>de</strong>rpädagogischem)<br />
För<strong>de</strong>rbedarf bietet.<br />
Bettina Har<strong>de</strong>r widmet sich <strong>de</strong>n „twice exceptional children“: hochbegabten<br />
Kin<strong>de</strong>rn, die eine Begleitstörung in <strong>de</strong>n Bereichen Lern-,<br />
Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungsstörungen o<strong>de</strong>r Autismus haben.<br />
Knapp informiert sie über Charakteristiken dieser Personen, das<br />
diagnostische Vorgehen <strong>und</strong> För<strong>de</strong>rmöglichkeiten.<br />
Philipp Martzog, Heidrun Stöger <strong>und</strong> Albert Ziegler wie<strong>de</strong>rum widmen<br />
sich <strong>de</strong>r Gruppe <strong>de</strong>r hochbegabten Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen,<br />
die erwartungswidrig niedrige Schulleistungen aufweisen (Un<strong>de</strong>rarchievern).<br />
Vor allem <strong>de</strong>r Aspekt von Defiziten in motorischen Fertigkeiten<br />
bil<strong>de</strong>t die Erklärungsgr<strong>und</strong>lage für dieses Phänomen. Hinweise<br />
zu Diagnostik <strong>und</strong> För<strong>de</strong>rung schließen <strong>de</strong>n Artikel ab.<br />
Christina Sontag <strong>und</strong> Julia Schäfer beschreiben in ihrem Beitrag<br />
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte. Akzelerations- (frühe Einschulung,<br />
Überspringen einer Klasse) <strong>und</strong> Enrichmentmaßnahmen<br />
(Zusätzliche Fächer, Sommerkurse usw.) wer<strong>de</strong>n dargestellt <strong>und</strong><br />
aus empirischer Sicht bewertet. Sie stellen zuletzt <strong>de</strong>n Lernpfad im<br />
Rahmen einer umfassen<strong>de</strong>n För<strong>de</strong>rstrategie dar.<br />
Robert Grassinger beschäftigt sich im letzten Artikel <strong>de</strong>r Ausgabe<br />
mit <strong>de</strong>r Beratung Hochbegabter. Er beschreibt primäre, sek<strong>und</strong>äre<br />
<strong>und</strong> tertiäre Beratungsanlässe. Das von ihm dargestellte ENTER-<br />
Triple L – Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Beratung eignet sich in <strong>de</strong>n Facetten Lernberatung,<br />
Lernplan <strong>und</strong> Lernpfad für die Zielgruppe <strong>de</strong>r Hochbegabten<br />
in <strong>de</strong>n unterschiedlichen Beratungsanlässen.<br />
Auch in dieser Ausgabe fin<strong>de</strong>n Sie zu<strong>de</strong>m Buchbesprechungen <strong>und</strong><br />
Veranstaltungshinweise. Wir wünschen Ihnen wie immer eine aufschlussreiche<br />
<strong>und</strong> anregen<strong>de</strong> Lektüre. Reaktionen Ihrerseits sind<br />
uns <strong>und</strong> unseren Autoren wie immer willkommen.<br />
Sebastian Barsch Tim Bendokat Markus Brück<br />
- 4 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Albert Ziegler<br />
„Ganzheitliche För<strong>de</strong>rung“ umfasst<br />
mehr als nur die Person: Aktiotop- <strong>und</strong><br />
Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Nach einer kritischen Besprechung zentraler Annahmen traditioneller<br />
<strong>Hochbegabung</strong>skonzeptionen wer<strong>de</strong>n wichtige<br />
Argumente für einen handlungsbasierten Zugang zu Leistungsexzellenz<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Entwicklung präsentiert. Es wird<br />
<strong>de</strong>r prototypische Verlauf <strong>de</strong>r Expertisierung skizziert <strong>und</strong><br />
anschließend das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll vorgestellt. Die Be<strong>de</strong>utung<br />
von Soziotopen wird herausgestrichen. Als Hauptergebnis<br />
wird festgehalten, dass ein ganzheitlicher För<strong>de</strong>ransatz<br />
sowohl die Person als auch Ko-Adaptationen <strong>und</strong> die<br />
Lernumwelt adressieren muss.<br />
Schlüsselwörter: Aktiotop, Soziotop, Leistungsexzellenz, Expertise<br />
After a critique of traditional conceptions of giftedness arguments<br />
will be presented in favour of an action oriented approach<br />
to achievement excellence and its <strong>de</strong>velopment. An<br />
outline is given of a prototypical trajectory to eminence and,<br />
subsequently, the actiotope mo<strong>de</strong>l is introduced. The importance<br />
of sociotopes is highlighted. As a main result of<br />
this contribution it will be <strong>de</strong>termined that a holistic approach<br />
has to equally address the person and the learning<br />
environment.<br />
Keywords: Actiotope, Sociotope, Achievement Excellence, Expertise<br />
1 Einleitung<br />
Lange Zeit wur<strong>de</strong> eine <strong>Hochbegabung</strong> als eine stabile Eigenschaft<br />
einer Person angesehen. Dementsprechend hielt man Leibniz, Goe-<br />
the <strong>und</strong> Einstein im Alter von vier Jahren für genauso hochbegabt<br />
wie im Alter von zehn Jahren o<strong>de</strong>r als Erwachsene. Diese Auffas-<br />
sung spiegelt sich auch in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikationspraxis wi<strong>de</strong>r: Wer ein-<br />
mal als hochbegabt i<strong>de</strong>ntifiziert wur<strong>de</strong>, verlor diesen Status nicht<br />
mehr (ZIEGLER 2007).<br />
- 5 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Eine statische Konzeptualisierung von <strong>Hochbegabung</strong> kontrastiert<br />
jedoch scharf mit <strong>de</strong>n in allen Persönlichkeitsbereichen beobachtba-<br />
ren dramatischen Entwicklungen während <strong>de</strong>r Ontogenese. So<br />
nimmt beispielsweise die Intelligenz von <strong>de</strong>r Geburt bis ins Erwach-<br />
senenalter enorm zu: Vorschulkin<strong>de</strong>r haben keinerlei Chance, die<br />
für Erwachsene durchschnittlich schweren Aufgaben eines IQ-Tests<br />
zu lösen. Umgekehrt haben jedoch Erwachsene nicht die geringsten<br />
Probleme mit <strong>de</strong>n altersadäquaten Items für Vorschulkin<strong>de</strong>r. Selbst<br />
die höchsten Stabilitätskoeffizienten 1 von Persönlichkeitsmerkmalen<br />
zwischen Vorschulalter <strong>und</strong> Erwachsenenalter liegen selten über<br />
rtt=.30. Es stellt sich daher die Frage, warum eine <strong>Hochbegabung</strong><br />
von <strong>de</strong>r Entwicklung ausgeschlossen wird?<br />
Neben <strong>de</strong>m statischen Zugang stechen weitere konzeptuelle Eng-<br />
führungen <strong>de</strong>r traditionellen Hochbegabtenforschung ins Auge. Die<br />
erste besteht in ihrer Beschränkung <strong>de</strong>s Merkmalsträgers (z.B.<br />
TERMAN 1925; ROST & SCHILLING 2006): Hochbegabt kann nach<br />
dieser Auffassung stets nur eine Person sein. Die I<strong>de</strong>e, dass Hoch-<br />
begabung <strong>de</strong>m gesamten System aus Person <strong>und</strong> ihrer Umwelt, in<br />
<strong>de</strong>r sie han<strong>de</strong>lt, zukommt, ist dagegen relativ neu (DAI & RENZULLI<br />
2008; CSIKSZENTMIHALYI & WOLFE 2000; ZIEGLER 2005). Aller-<br />
dings ist hierfür auch in einer weiteren Hinsicht eine Rekonzeptuali-<br />
sierung von <strong>Hochbegabung</strong> notwendig. Insbeson<strong>de</strong>re in Deutsch-<br />
land wird sie nicht nur in <strong>de</strong>r Person verortet, son<strong>de</strong>rn meist auch<br />
auf einen einzigen Zahlenwert rudimentisiert: <strong>de</strong>n Intelligenzquoti-<br />
enten. In <strong>de</strong>r Praxis wird üblicherweise ab einem IQ von 130 von<br />
einer <strong>Hochbegabung</strong> gesprochen. (ZIEGLER 2006; HELLER & ZIEG-<br />
LER 2007). Diese Definition ist aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n unge-<br />
eignet.<br />
1 Stabilitätskoeffizienten geben ohnehin keine Merkmalsstabilität an, son<strong>de</strong>rn nur<br />
die Stabilität <strong>de</strong>r relativen Position eines Individuums im Vergleich zu seiner Alterskohorte.<br />
- 6 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Erstens übersieht sie, dass <strong>de</strong>r Begriff <strong>Hochbegabung</strong> ähnlich wie<br />
<strong>de</strong>r Begriff Geschichte ein Kollektivsingular ist. So spricht man zwar<br />
von <strong>de</strong>r Geschichte, tatsächlich han<strong>de</strong>lt es sich jedoch um viele in-<br />
dividuelle Geschichten, die im Kollektivsingular zusammengefasst<br />
sind. Solche Begriffe suggerieren Eindimensionalität, Monokausali-<br />
tät <strong>und</strong> Unilinearität, wo tatsächlich Multidimensionalität, Kausalge-<br />
flechte <strong>und</strong> vielfältige Wechselwirkungen existieren. Es gibt daher<br />
nicht die <strong>Hochbegabung</strong> als Voraussetzung für Leistungsexzellenz<br />
in allen Bereichen, die man auf einen einzigen Zahlenwert herunter<br />
brechen könnte, son<strong>de</strong>rn jeweils individuelle Bedingungskonstella-<br />
tionen.<br />
Zweitens ist die empirische Basis sehr schmal. Mit <strong>de</strong>m IQ lassen<br />
sich zwar ganz gut schulische <strong>und</strong> Studienleistungen voraussagen,<br />
allerdings keine außergewöhnlichen Leistungen (vgl. ERICSSON,<br />
CHARNESS, FELTOVICH & HOFFMAN 2006; ERICSSON, NANDAGO-<br />
PAL & RORING im Druck). Doch gera<strong>de</strong> solche sind es, die man von<br />
Hochbegabten erwarten wür<strong>de</strong> <strong>und</strong> die <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong> bil<strong>de</strong>n, warum<br />
dieses Konstrukt eingeführt wur<strong>de</strong>.<br />
Drittens sind mit <strong>de</strong>r Gleichsetzung von <strong>Hochbegabung</strong> mit hohem<br />
IQ verschie<strong>de</strong>ne fragwürdige Implikationen verb<strong>und</strong>en. Sie betref-<br />
fen die Domänen, in <strong>de</strong>nen <strong>Hochbegabung</strong>en auftreten können, die<br />
Gruppe <strong>de</strong>r potentiell hochbegabten Personen <strong>und</strong> die Ereignisse,<br />
die Leistungsexzellenz indikatorisieren:<br />
• Domänenbeschränkung: Vertreter einer Intelligenzbasierten<br />
<strong>Hochbegabung</strong>s<strong>de</strong>finition reklamieren das Erklärungs- <strong>und</strong><br />
Prognosespektrum <strong>de</strong>s IQ hauptsächlich für die aka<strong>de</strong>mischen<br />
Fächer, nicht jedoch für beispielsweise sportliche, musikali-<br />
sche, malerische, handwerkliche o<strong>de</strong>r soziale Fähigkeiten.<br />
Dies hat in <strong>de</strong>n letzten Jahren lei<strong>de</strong>r zu einer <strong>de</strong>utlichen Ab-<br />
wertung dieser Fächergruppen geführt. So wird eine Hochbe-<br />
gabung immer seltener als ihre Leistungsvoraussetzung ange-<br />
- 7 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
sehen. Statt<strong>de</strong>ssen verlangt man nur noch spezifische Talente<br />
(ROST & SCHILLING 2006). Damit fallen diese Fähigkeiten<br />
aus <strong>de</strong>m Kanon <strong>de</strong>r prototypischen Anwendungsbereiche <strong>de</strong>r<br />
Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung heraus.<br />
• Personenbeschränkung: Intelligenztests sind <strong>de</strong>rart konstru-<br />
iert, dass sie in <strong>de</strong>n Industrienationen relativ zuverlässig<br />
schulische <strong>und</strong> aka<strong>de</strong>mische Abschlüsse prognostizieren kön-<br />
nen. Gute Abschlüsse sind natürlich noch längst keine Leis-<br />
tungsexzellenz. Zu<strong>de</strong>m wird außer Acht gelassen, dass auch<br />
weitere Personengruppen in <strong>de</strong>r Lage sind, Höchstleistungen<br />
zu erzielen, die in ihrer aka<strong>de</strong>mischen Laufbahn weniger er-<br />
folgreich waren. Dies sind beispielsweise Personen mit Insel-<br />
begabungen (auch als Personen mit Savant Syndrom be-<br />
kannt; TREFFERT 2005) o<strong>de</strong>r Lehrlinge in ihren Fachberufen.<br />
• Ereignisbeschränkung: Hochbegabte sollten mit einer größe-<br />
ren Wahrscheinlichkeit Leistungsexzellenz erreichen können.<br />
Beispielsweise wür<strong>de</strong> ein Nobelpreis auf eine <strong>Hochbegabung</strong><br />
schließen lassen. Was ist aber mit <strong>de</strong>m Sieg bei Berufswelt-<br />
meisterschaften? Müssten <strong>de</strong>r beste Mechatroniker o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
beste Koch <strong>de</strong>r Welt nicht ein hohes Maß an Begabung aufwei-<br />
sen? Was ist mit Goldmedaillengewinnern bei <strong>de</strong>n Paralym-<br />
pics? Da solche Höchstleistungen kaum mit <strong>de</strong>m Intelligenz-<br />
quotienten erklärt wer<strong>de</strong>n können, fielen sie bisher nicht in<br />
die Reichweite <strong>de</strong>r Hochbegabtenforschung.<br />
2 Definitorische <strong>und</strong> konzeptuelle Aspekte von Hochbe-<br />
gabung<br />
Wie soeben dargelegt wur<strong>de</strong>, weist eine Intelligenzbasierte Definiti-<br />
on von <strong>Hochbegabung</strong> gravieren<strong>de</strong> Nachteile auf. Ein besserer<br />
- 8 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Startpunkt ist es, am Erklärungsgegenstand von <strong>Hochbegabung</strong>en<br />
anzusetzen: Leistungsexzellenz.<br />
Die Minimalanfor<strong>de</strong>rung, die ein <strong>Hochbegabung</strong>smo<strong>de</strong>ll erfüllen<br />
muss, ist das Transitivitätskriterium: Eine höher begabte Person<br />
sollte mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Leistungsexzellenz er-<br />
reichen können als eine geringer begabte Person. Ausgehend von<br />
dieser Überlegung habe ich an an<strong>de</strong>rer Stelle (ZIEGLER 2008) fol-<br />
gen<strong>de</strong> Definitionen vorgeschlagen:<br />
Talent:<br />
Eine Person, die möglicherweise einmal Leistungsexzellenz errei-<br />
chen wird.<br />
Hochbegabter:<br />
Eine Person, die wahrscheinlich einmal Leistungsexzellenz errei-<br />
chen wird.<br />
Hochleisten<strong>de</strong>r (Experte):<br />
Eine Person, die schon sicher Leistungsexzellenz erreicht hat.<br />
Un<strong>de</strong>rachiever:<br />
Talente, <strong>de</strong>ren Leistung aktuell beeinträchtigt ist, wodurch sich bei<br />
Nichtintervention ungünstige Prognosen für <strong>de</strong>n weiteren Verlauf<br />
<strong>de</strong>r Leistungsentwicklung ergeben.<br />
Bei diesen Definitionen han<strong>de</strong>lt es sich um so genannte <strong>de</strong>lphische<br />
Definitionen 2 , die auf <strong>de</strong>n Urteilen von <strong>Hochbegabung</strong>sforschern be-<br />
ruhen. Allerdings können diese nicht festlegen, welche Erfindungen,<br />
Ent<strong>de</strong>ckungen, Leistungen etc. das Prädikat „leistungsexzellent“<br />
2 Die Bezeichnung spielt auf das antike Orakel zu Delphi an, das Ratsuchen<strong>de</strong>n<br />
die Zukunft voraussagte. Heute wird bei Delphi-Befragungen eine Gruppe von<br />
Experten um ihre Sachmeinung gebeten.<br />
- 9 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
verdienen. In einigen Gesellschaften mögen beispielsweise Rekor-<br />
<strong>de</strong>, wie sie sich im Guinnessbuch befin<strong>de</strong>n, als leistungsexzellent<br />
gelten. In an<strong>de</strong>ren Gesellschaften mögen sie dagegen als lächerlich<br />
abgetan wer<strong>de</strong>n. Bei leistungsexzellenten Personen kann es sich<br />
daher um Nobelpreisträger han<strong>de</strong>ln, Künstler <strong>de</strong>ren Musicals am<br />
Broadway aufgeführt wer<strong>de</strong>n, Medaillengewinner bei <strong>de</strong>n Berufs-<br />
weltmeisterschaften o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Paralympics.<br />
Wichtig ist, dass <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong>sforscher erst aktiv wird, nach-<br />
<strong>de</strong>m solche Festsetzungen von Leistungsexzellenz getroffen wur-<br />
<strong>de</strong>n. Dann ist es seine Aufgabe herauszufin<strong>de</strong>n, ob <strong>und</strong> gegebenen-<br />
falls wie ein Individuum (o<strong>de</strong>r auch eine Gruppe) eine solche Leis-<br />
tungsexzellenz erreichen kann. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass<br />
ihm ein einziges Konstrukt wie <strong>de</strong>r IQ eine Universalantwort bieten<br />
könnte.<br />
Nehmen wir an, a1) die Erstellung einer brillanten mathematischen<br />
Theorie, a2) ein magisch anmuten<strong>de</strong>r Billardstoß <strong>und</strong> a3) ein vir-<br />
tuoses Geigensolo wären leistungsexzellente Handlungen. Ein in-<br />
struktiver Ansatz bestün<strong>de</strong> darin, ihnen die ersten tapsigen Versu-<br />
che in <strong>de</strong>n jeweiligen Domänen gegenüberzustellen: b1) das Zählen<br />
mit <strong>de</strong>n Fingern, b2) das Anstoßen eines Steines mit einem Stock,<br />
b3) das Herumkratzen auf <strong>de</strong>n Geigenseiten mit einem Bogen. Die<br />
Entwicklung immer höherer Leistungsniveaus lässt sich wie in Ab-<br />
bildung 1 dargestellt als ständige Erweiterung <strong>de</strong>s individuellen<br />
Handlungsrepertoires <strong>de</strong>uten. Die zentrale Frage lautet dann, wie<br />
es möglich ist, dass manche Personen die gigantischen Handlungs-<br />
lücken zwischen a1 <strong>und</strong> b1, a2 <strong>und</strong> b2, a3 <strong>und</strong> b3 schließen kön-<br />
nen? Negativ gewen<strong>de</strong>t könnte man auch die Frage stellen, woran<br />
es liegt, wenn jemand die nächste Handlungsrepertoireerweiterung<br />
nicht mehr vollzieht? Aus mangeln<strong>de</strong>m Interesse, wegen einer<br />
schlechten Lernstrategie o<strong>de</strong>r doch, wie traditionelle Hochbegab-<br />
tenforscher behaupten, aufgr<strong>und</strong> einer zu geringen Intelligenz?<br />
- 10 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Leistung<br />
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Abbildung 1: Leistungsentwicklung als Erweiterung <strong>de</strong>s Handlungsrepertoires<br />
Tatsächlich konnte in zehntausen<strong>de</strong>n Intelligenzstudien kein einzi-<br />
ger Beweis geführt wer<strong>de</strong>n, dass Personen innerhalb <strong>de</strong>s normalen<br />
Intelligenzspektrums wegen unzureichen<strong>de</strong>r Intelligenz an einer Er-<br />
weiterung ihres Handlungsrepertoires gescheitert wären. Das Voll-<br />
ziehen eines Lernschrittes wird nicht durch die Höhe <strong>de</strong>r individuel-<br />
len Intelligenz begrenzt, son<strong>de</strong>rn dadurch, dass eine notwendige<br />
vorangegangene Lernstufe nicht gemeistert wur<strong>de</strong>. Dies wird als<br />
das Vorgängerprinzip bezeichnet (DAI & RENZULLI 2008; ZIEGLER<br />
2008). Ist dagegen die vorangegangene Lernstufe erreicht, kann<br />
eine Vielzahl von Grün<strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n Stillstand verantwortlich sein:<br />
mangeln<strong>de</strong>s Interesse, ineffektives Lernen, ungenügen<strong>de</strong> För<strong>de</strong>-<br />
rung, schlechte Lerninfrastruktur u.v.m. Die große Anzahl potenti-<br />
eller Risikofaktoren für Lernfortschritte <strong>de</strong>utet übrigens schon an,<br />
wie komplex zu je<strong>de</strong>m Zeitpunkt <strong>de</strong>r Leistungsentwicklung För<strong>de</strong>-<br />
rung sein muss.<br />
Handlungsrepertoire<br />
- 11 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09<br />
Zeit
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
3 Prototypischer Entwicklungsverlauf von Leistungsex-<br />
zellenz<br />
Mittlerweile kann auf <strong>de</strong>r Basis einer stattlichen Zahl von Biografien<br />
leistungsexzellenter Personen eine einigermaßen verlässliche Skiz-<br />
ze <strong>de</strong>s prototypischen Verlaufes <strong>de</strong>r Entwicklung von beson<strong>de</strong>rer<br />
Expertise beziehungsweise Leistungsexzellenz nachgezeichnet wer-<br />
<strong>de</strong>n (siehe Abbildung 2). Folgen<strong>de</strong> Punkte sind beson<strong>de</strong>rs festhal-<br />
tenswert (vgl. ERICSSON ET AL. im Druck):<br />
(1)Die Entwicklung von Leistungsexzellenz erstreckt sich über sehr<br />
lange Zeiträume, wobei als Daumenregel von einem Minimum von<br />
10 Jahren ausgegangen wird, um das Handlungsrepertoire eines<br />
Hochleisten<strong>de</strong>n aufzubauen. Dies entspricht ca. 10 000 St<strong>und</strong>en in-<br />
tensiver Lernpraxis. Diese wird häufig als mühevoll <strong>und</strong> sogar als<br />
aversiv empf<strong>und</strong>en, was ganz <strong>und</strong> gar nicht <strong>de</strong>m gängigen Klischee<br />
<strong>de</strong>s leicht lernen<strong>de</strong>n Hochbegabten entspricht.<br />
(2)Das Han<strong>de</strong>ln in einer Domäne wird abhängig vom Grad <strong>de</strong>r er-<br />
reichten Kompetenz durch verschie<strong>de</strong>ne Ziele geprägt. Während in<br />
<strong>de</strong>r ersten Phase die Spielfreu<strong>de</strong> im Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong> steht, wird in <strong>de</strong>r<br />
sich daran anschließen<strong>de</strong>n Phase die Verbesserung <strong>de</strong>r Leistung<br />
konsequent angestrebt. Ist schließlich ein bestimmtes Leistungsni-<br />
veau erreicht, besteht unter Umstän<strong>de</strong>n die Möglichkeit, von <strong>de</strong>r<br />
professionellen Nutzung <strong>de</strong>r Expertise zu leben.<br />
(3)Beeindruckend ist das enorme Maß <strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>s Lern-<br />
prozesses, wobei <strong>de</strong>r Umwelt eine überragen<strong>de</strong> Rolle zukommt. So<br />
ist das Erreichen aka<strong>de</strong>mischer Leistungsexzellenz ohne professio-<br />
nelle Instruktionen schlichtweg unmöglich. Schon in <strong>de</strong>r Schule<br />
wer<strong>de</strong>n Situationen <strong>de</strong>rart arrangiert, dass Handlungen durchge-<br />
führt wer<strong>de</strong>n können, die optimales Lernen ermöglichen sollen. So<br />
wer<strong>de</strong>n Lernzeiten, Lernorte, Lernmaterial, Lerninhalte etc. festge-<br />
legt. Eigens ausgebil<strong>de</strong>te pädagogische Fachkräfte kümmern sich<br />
um die Lernfortschritte. Analoges gilt für alle untersuchten Bereiche<br />
- 12 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
von Leistungsexzellenz, darunter Sport, Musik, Kunst, Handwerk,<br />
Schach. Auch hier ist ohne eine kompetente <strong>und</strong> minutiöse Planung<br />
kaum Leistungsexzellenz erreichbar. Durchgehend ist zu beobach-<br />
ten, wie mit steigen<strong>de</strong>m Expertisegrad <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>ren Um-<br />
welt immer professioneller auf ihre speziellen Lernbedürfnisse zu-<br />
geschnitten wird. Eine solche strikt <strong>de</strong>n Lernerfor<strong>de</strong>rnissen ange-<br />
passte <strong>und</strong> durchgeplante Organisation <strong>de</strong>s Lernprozesses wird mit<br />
<strong>de</strong>m Fachterminus Deliberate Practice belegt.<br />
(4)Die in Abbildung 2 eingetragenen Komponenten <strong>und</strong> beteiligten<br />
sozialen Akteure agieren nicht isoliert, son<strong>de</strong>rn sind Teil eines<br />
Netzwerks. Deliberate Practice geschieht nicht zufällig, son<strong>de</strong>rn in<br />
Form geplanter, zielgerichteter Interaktionen <strong>und</strong> kann in Form von<br />
Rückkopplungen <strong>und</strong> Feedbackschleifen beschrieben wer<strong>de</strong>n, die<br />
<strong>de</strong>n systemischen Charakter <strong>de</strong>s Lernprozesses begrün<strong>de</strong>n. So wird<br />
<strong>de</strong>r gute Tennistrainer, nach<strong>de</strong>m er eine Schwäche beim Rückhand-<br />
spiel seines Schützlings ent<strong>de</strong>ckt hat, nicht einfach nur diesen eini-<br />
ge St<strong>und</strong>en spielen lassen. Statt<strong>de</strong>ssen wird er gezielt eine Lernsi-<br />
tuation herstellen, in <strong>de</strong>r beispielsweise ein Gegner passen<strong>de</strong>r<br />
Spielstärke seinem Schützling <strong>de</strong>n Ball stets auf die schwächere<br />
Rückhandseite spielt. In kürzester Zeit sind so mehrere Dutzend<br />
Lernhandlungen möglich, die das Ziel <strong>de</strong>r Verbesserung <strong>de</strong>s Rück-<br />
handspiels verfolgen. Dabei wird ein guter Trainer kompetentes<br />
Feedback geben, wie<strong>de</strong>rholt die Ausführungen korrigieren, bis er<br />
nach vielen Feedbackschleifen mit <strong>de</strong>r Ausführung zufrie<strong>de</strong>n ist.<br />
- 13 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Abbildung 2: Prototypischer Verlauf <strong>de</strong>s Erwerbs von Expertise<br />
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Diese Ausführungen legen es nahe, bei <strong>de</strong>r Beantwortung <strong>de</strong>r Fra-<br />
ge, ob eine Person einmal Leistungsexzellenz erreichen wird, statt<br />
auf Persönlichkeitseigenschaften wie <strong>de</strong>n IQ auf Lernprozesse <strong>und</strong><br />
ihre Einbettung in leistungsexzellenzför<strong>de</strong>rliche o<strong>de</strong>r -hemmen<strong>de</strong><br />
Umwelten zu fokussieren. Dabei sollte ein systemischer Ansatz ge-<br />
wählt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r es gestattet, die Vernetztheit <strong>de</strong>r einzelnen Teil-<br />
- 14 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
prozesse umfassend zu analysieren. Ein solcher wird im Folgen<strong>de</strong>n<br />
mit <strong>de</strong>m Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll vorgestellt.<br />
4 Überblick über das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll<br />
Das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll ist ein systemischer Ansatz zur Beschreibung<br />
ausge<strong>de</strong>hnter Lernprozesse (ZIEGLER 2005). Zentrales Konstrukt<br />
ist das Aktiotop, <strong>de</strong>ssen Komponenten in Abbildung 3 dargestellt<br />
<strong>und</strong> nachstehend <strong>de</strong>tailliert besprochen wer<strong>de</strong>n.<br />
U<br />
M<br />
W<br />
E<br />
L<br />
T<br />
Abbildung 3: Komponenten eines Aktiotops<br />
4.1 Handlungen<br />
Handlungsrepertoire<br />
Handlungen<br />
Ziele<br />
Das Aktiotop einer Person<br />
Leistungsexzellenz bezeichnet eine beson<strong>de</strong>re Qualität von Hand-<br />
lungen. Diese haben erstens eine Phasenstruktur, d.h. sie bestehen<br />
aus einer Sequenz von Teilhandlungen. In <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s be-<br />
obachten<strong>de</strong>n Wissenschaftlers äußert sich dies im berühmten Ak-<br />
kor<strong>de</strong>oneffekt (DAVIDSON 1990): Die gleiche Handlung kann ent-<br />
- 15 -<br />
Subjektiver<br />
Handlungsraum<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
we<strong>de</strong>r weit o<strong>de</strong>r eng beschrieben wer<strong>de</strong>n, gleichsam wie ein Akkor-<br />
<strong>de</strong>on ausge<strong>de</strong>hnt o<strong>de</strong>r zusammen gepresst wer<strong>de</strong>n kann. Zweitens<br />
sind sämtliche Handlungen Parallel- beziehungsweise Mehrfach-<br />
handlungen. Ein einfaches Beispiel hierfür ist das Klavier spielen,<br />
das wir zwar oft als eine einzige Handlung beschreiben. Tatsächlich<br />
geschehen jedoch mehrere Handlungen gleichzeitig: die motorische<br />
Tätigkeit <strong>de</strong>r Finger, die kritische Überwachung <strong>de</strong>s eigenen Kla-<br />
vierspiels, das ästhetische Genießen <strong>de</strong>r selbst produzierten Musik<br />
etc. Drittens verlangen Handlungen Regulationen auf verschie<strong>de</strong>-<br />
nen Ebenen wie zum Beispiel die korrekten Durchführungen moto-<br />
rischer, kognitiver, sprachlicher <strong>und</strong> an<strong>de</strong>rer Aktivitäten; die Steue-<br />
rung <strong>de</strong>s Aufwands <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Intensität; <strong>de</strong>n Umgang mit negativen<br />
Affekten; eine Überprüfung, ob <strong>de</strong>r angestrebte Ausdruck erreicht<br />
wur<strong>de</strong>.<br />
Die Beachtung dieser Dreidimensionalität ist von überragen<strong>de</strong>r Be-<br />
<strong>de</strong>utung für die Anfor<strong>de</strong>rungsanalyse leistungsexzellenter Handlun-<br />
gen. Diese ist notwendige Voraussetzung für die Erstellung einer<br />
konkreten <strong>Hochbegabung</strong>stheorie.<br />
Nehmen wir an, es soll bestimmt wer<strong>de</strong>n, ob ein Mädchen ein<br />
Schachtalent ist, d.h. ob sie gr<strong>und</strong>sätzlich in <strong>de</strong>r Lage wäre, Leis-<br />
tungsexzellenz im Schach zu erreichen. Zur Beantwortung dieser<br />
Frage muss jedoch eine begrün<strong>de</strong>te Vermutung aufgestellt wer<strong>de</strong>n,<br />
welche schachbezogenen Handlungen mit <strong>de</strong>m Prädikat „leistungs-<br />
exzellent“ belegt wer<strong>de</strong>n können. Erst dann kann entschie<strong>de</strong>n wer-<br />
<strong>de</strong>n, ob das Mädchen in <strong>de</strong>r Lage ist, die Lernprozesse bis zur Be-<br />
herrschung dieser Zielhandlungen erfolgreich zu meistern. 3<br />
3 An dieser Stelle soll wenigstens eine knappe Anmerkung zur Reichweite <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls<br />
gemacht wer<strong>de</strong>n. Obgleich es zur Erklärung von Leistungsexzellenz<br />
entwickelte wur<strong>de</strong>, ist seine Anwendung nicht darauf beschränkt. Die Ausführungen<br />
gelten daher mutatis mutandis für sämtliche Handlungsrepertoireerweiterungen.<br />
Dazu zählen explizit auch <strong>de</strong>r Aufbau von Handlungsrepertoires von<br />
Lernbehin<strong>de</strong>rten, <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>raufbau von Handlungsrepertoires im Rahmen von<br />
Rehabilitationsprozessen, Handlungsrepertoireerweiterungen, die nicht zu Leistungsexzellenz<br />
führen, sowie viele Formen <strong>de</strong>generativer Handlungsrepertoire-<br />
- 16 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
4.2 Handlungsrepertoire<br />
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Unter <strong>de</strong>m Handlungsrepertoire wer<strong>de</strong>n die objektiv feststellbaren<br />
Handlungsmöglichkeiten einer Person verstan<strong>de</strong>n. Damit ist das<br />
Gesamt an Handlungen gemeint, zu <strong>de</strong>ren Durchführung eine Per-<br />
son gr<strong>und</strong>sätzlich fähig wäre, wenn sie a) sich ein entsprechen<strong>de</strong>s<br />
Ziel setzt, b) die Beschaffenheit <strong>de</strong>r Umwelt ihr die Handlungsaus-<br />
führung gestattet <strong>und</strong> c) sie diese Handlungsmöglichkeit für sich im<br />
subjektiven Handlungsraum (siehe unten) in Betracht zieht. Diese<br />
drei Einschränkungen machen schon <strong>de</strong>utlich, dass Personen durch-<br />
aus über Handlungsmöglichkeiten verfügen, die sie nicht nutzen<br />
beziehungsweise <strong>de</strong>ren Nutzung ihnen misslingt. Solche Phänome-<br />
ne sind sehr vielfältig <strong>und</strong> reichen von Worten, die uns auf <strong>de</strong>r Zun-<br />
ge liegen, aber nicht abgerufen wer<strong>de</strong>n können („Tip-of-the-<br />
tongue-Phänomen“, vgl. BROWN 1991), bis hin zum so genannten<br />
trägen Wissen, wenn wir Erlerntes nicht in <strong>de</strong>r passen<strong>de</strong>n Situation<br />
anwen<strong>de</strong>n können (MANDL & GERSTENMAIER 2000; RENKL 1995).<br />
4.3 Ziele<br />
Es konnte in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Domänen nachgewiesen wer<strong>de</strong>n,<br />
dass das Erreichen von Leistungsexzellenz min<strong>de</strong>stens 10 000<br />
St<strong>und</strong>en intensiver Lernpraxis verlangt (s.o.). Allerdings bezieht<br />
sich dieser Schätzwert keineswegs auf die bloße Beschäftigung mit<br />
einer Domäne. Beispielsweise häufen viele Musiker o<strong>de</strong>r Schach-<br />
spieler sehr hohe Praxiszeiten an, ohne dass sie dadurch ihre Leis-<br />
tungen spürbar verbessern können (GRUBER, WEBER & ZIEGLER<br />
1996). Sie verfolgten vielmehr das Ziel, einen möglichst hohen Ge-<br />
nuss aus ihren Tätigkeiten zu ziehen. ERICSSON <strong>und</strong> seine Mitar-<br />
beiter (1993; 2006; im Druck) haben jedoch überzeugend belegen<br />
können, dass nur jene Ziele <strong>de</strong>r Entwicklung von Leistungsexzellenz<br />
entwicklungen.<br />
- 17 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
för<strong>de</strong>rlich sind, die auf die Verbesserung <strong>de</strong>s gegenwärtigen Leis-<br />
tungsstan<strong>de</strong>s gerichtet sind.<br />
Ziele sind unter zwei weiteren Gesichtspunkten be<strong>de</strong>utsam. Erstens<br />
haben sie eine steuern<strong>de</strong> Funktion. So haben zwar fast alle Jungen<br />
<strong>und</strong> Mädchen im Alter von 10 Jahren in <strong>de</strong>r Mathematik, <strong>de</strong>m<br />
Handballspiel, <strong>de</strong>m Malen, <strong>de</strong>m Schreiben o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Singen die ers-<br />
ten <strong>de</strong>r notwendigen 10 000 St<strong>und</strong>en bis zur Leistungsexzellenz<br />
gesammelt – doch die Drop-out-Quote, bevor Leistungsexzellenz<br />
tatsächlich erreicht wird, beträgt fast 100%. Nur ein ganz geringer<br />
Teil hält durch <strong>und</strong> sammelt die 10 000 St<strong>und</strong>en. Zweitens beein-<br />
flussen Ziele in erheblichem Maß die Qualität <strong>de</strong>s Lernprozesses.<br />
Nicht je<strong>de</strong>s Lernziel garantiert einen optimalen Lernzuwachs. Bei-<br />
spielsweise unterliegen viele Schüler <strong>de</strong>r Ten<strong>de</strong>nz, sich bei <strong>de</strong>r Vor-<br />
bereitung auf eine bevorstehen<strong>de</strong> Klassenarbeit bevorzugt mit Stoff<br />
zu befassen, <strong>de</strong>n sie schon besser beherrschen.<br />
4.4 Umwelt<br />
In Abbildung 3 wird <strong>und</strong>ifferenziert <strong>de</strong>r Begriff Umwelt verwen<strong>de</strong>t.<br />
Diese Vereinfachung verschleiert die tatsächliche Vielschichtigkeit<br />
<strong>und</strong> Komplexität. Umwelt umfasst eine Vielzahl an unterschiedlichs-<br />
ten Entitäten wie soziale Akteuren, Lernressourcen, Informationen,<br />
Settings etc., die in mannigfaltiger Weise miteinan<strong>de</strong>r interagieren.<br />
Zur Abbildung dieser Beziehungen empfiehlt sich eine systemtheo-<br />
retische Perspektive. Dabei interessieren vor allem die mit be-<br />
stimmten Umwelten verb<strong>und</strong>enen Entwicklungsanreize, Entwick-<br />
lungschancen, aber auch Entwicklungsgefahren.<br />
Von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung ist <strong>de</strong>rjenige Umweltausschnitt, <strong>de</strong>n<br />
man als Talent- o<strong>de</strong>r Begabungsdomäne bezeichnet (siehe ZIEG-<br />
LER & HELLER 2000). Dessen objektive Struktur erlaubt es (1) zu-<br />
min<strong>de</strong>st ansatzweise, das Universum <strong>de</strong>r in diesem System mögli-<br />
chen Handlungen zu analysieren. Beispielsweise bil<strong>de</strong>n die Kennt-<br />
- 18 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
nisse <strong>de</strong>r Handballregeln, <strong>de</strong>r Spielstättenbeschaffenheiten <strong>und</strong> <strong>de</strong>s<br />
notwendigen Equipments die Basis, um in etwa erschließen zu kön-<br />
nen, welche Handlungen im Spiel Handball gr<strong>und</strong>sätzlich möglich<br />
wären. Die Ergebnisse <strong>de</strong>r Analysen können (2) mit <strong>de</strong>m aktuellen<br />
Handlungsrepertoire einer Person <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Entwicklungsmöglich-<br />
keiten in Beziehung gesetzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Das Sportbeispiel wur<strong>de</strong> übrigens nicht zufällig gewählt. Gera<strong>de</strong> in<br />
dieser Domäne wer<strong>de</strong>n häufig <strong>de</strong>r objektive Handlungsraum <strong>und</strong><br />
potentielle Handlungsrepertoireerweiterungen in Beziehung gesetzt<br />
(vgl. ERICSSON ET AL. 1993). Bekannt sind etwa Analysen körper-<br />
licher Merkmale (beispielsweise das Verhältnis von Körpergröße<br />
<strong>und</strong> Körpergewicht beim Skiflug o<strong>de</strong>r optimale Längenverhältnisse<br />
von Ober- <strong>und</strong> Unterschenkel zum Treten beim Radsport), <strong>de</strong>ren<br />
Ergebnisse als Hinweise genutzt wer<strong>de</strong>n, wie effektiv ein Hand-<br />
lungsrepertoire weiterentwickelt wer<strong>de</strong>n kann.<br />
4.5 Subjektiver Handlungsraum<br />
Menschen haben Ziele. Ob sie diese erreichen können, hängt nicht<br />
nur von ihrem Handlungsrepertoire <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Handlungsmöglichkei-<br />
ten in ihrer persönlichen Umwelt ab. Es ist zu<strong>de</strong>m wichtig, dass sie<br />
aus ihrem Handlungsrepertoire geeignete Handlungen auswählen.<br />
Dazu wird im Aktiotop-Ansatz eine spezielle Entität postuliert: <strong>de</strong>r<br />
Subjektive Handlungsraum. 4 Seine konzeptuellen Wurzeln fin<strong>de</strong>n<br />
sich bereits im Konstrukt <strong>de</strong>s Problemraums. Dieser kann als das<br />
Universum möglicher Problemlöseschritte angesehen wer<strong>de</strong>n, durch<br />
<strong>de</strong>n eine Person bei <strong>de</strong>r Lösungssuche gedanklich navigiert. Analog<br />
hierzu kann <strong>de</strong>r Subjektive Handlungsraum als das Universum<br />
möglicher Handlungsschritte angesehen wer<strong>de</strong>n, die eine Person<br />
4 Wichtig ist, dass hier nicht von einer Entität gesprochen wird, die einem im<br />
menschlichen Gehirn i<strong>de</strong>ntifizierbaren materiellen Substrat entspricht. Viel mehr<br />
ist <strong>de</strong>r Subjektive Handlungsraum eine funktionelle Einheit mit Systemcharakter,<br />
wobei <strong>de</strong>ssen Funktionen allerdings als real angesehen wer<strong>de</strong>n.<br />
- 19 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
bei <strong>de</strong>r Handlungsplanung <strong>und</strong> Handlungsregulation antizipativ <strong>und</strong><br />
steuernd durchläuft.<br />
Subjektiv ist dieser Handlungsraum <strong>de</strong>shalb, weil er eine Konstruk-<br />
tion darstellt, die nicht mit <strong>de</strong>r Wirklichkeit übereinstimmen muss.<br />
So kann eine Person beispielsweise ihr Handlungsrepertoire in einer<br />
bestimmten Situation über- o<strong>de</strong>r unterschätzen. Ein bekanntes Bei-<br />
spiel sind Mädchen in <strong>de</strong>r Mathematik, <strong>de</strong>n Naturwissenschaften<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>m Techniksektor. Trotz vergleichbarer <strong>und</strong> oft besserer<br />
Handlungsrepertoires als Jungen nehmen sie etwa ab <strong>de</strong>m 10. Le-<br />
bensjahr einen limitierten Subjektiven Handlungsraum wahr (ZOR-<br />
MAN & DAVID 2000). Sie unterschätzen ihre Kompetenzen <strong>und</strong> sind<br />
unter an<strong>de</strong>rem <strong>de</strong>r Meinung, dass sie mehr Aufwand betreiben<br />
müssten, um gleiche Erfolge wie Jungen zu erzielen. Sie haben ge-<br />
ringere Kontrollüberzeugungen <strong>und</strong> beschreiben sich schon zu die-<br />
sem Zeitpunkt hilfloser als ihre Mitschüler (SCHOBER 2002).<br />
4.6 Systemische Perspektive<br />
Personen, die Leistungsexzellenz anstreben, adaptieren ihr Aktiotop<br />
an ihre Talentdomäne. An<strong>de</strong>rs ausgedrückt: Sie bauen ein immer<br />
reichhaltigeres Handlungsrepertoire auf, das ihnen in ihrer Talent-<br />
domäne mehr <strong>und</strong> effektivere Handlungen gestattet. Das von ihnen<br />
angestrebte Leistungsniveau ist daher immer höher als das gera<strong>de</strong><br />
erreichte. Das Aktiotop einer Person, die Leistungsexzellenz an-<br />
strebt, ist <strong>de</strong>shalb ein dynamisches, sich ständig weiter entwickeln-<br />
<strong>de</strong>s System. Technisch gesprochen: Es ist nie im Gleichgewichtszu-<br />
stand, die ständigen Verän<strong>de</strong>rungen können Instabilitäten verursa-<br />
chen. Ein einfaches Beispiel hierfür ist, dass beispielsweise steigen-<br />
<strong>de</strong> Lernzeiten die Aufgabe an<strong>de</strong>rer Aktivitäten notwendig machen<br />
können. Einem Schüler, <strong>de</strong>r sich etwa gezielt auf <strong>de</strong>n B<strong>und</strong>eswett-<br />
bewerb Mathematik vorbereitet, steht weniger Zeit für soziale Kon-<br />
takte mit Fre<strong>und</strong>en zur Verfügung. Seine unbefriedigten sozialen<br />
- 20 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Bedürfnisse könnten Anlass sein, dass er mehr Zeit mit Familien-<br />
mitglie<strong>de</strong>rn verbringen möchte. Allerdings sind seine Eltern beruf-<br />
lich sehr stark eingespannt, sodass sie darauf nicht in erwünschtem<br />
Maß reagieren, was zu Spannungen führt.<br />
Ein wichtiges Kennzeichen erfolgreicher Handlungsrepertoireerwei-<br />
terungen sind Ko-Adaptationen <strong>de</strong>r Komponenten. Dagegen wur<strong>de</strong><br />
in <strong>de</strong>n traditionellen Begabungsmo<strong>de</strong>llen die Entwicklung von Leis-<br />
tungsexzellenz hauptsächlich als autokatalytisch betrachtet: Steht<br />
die Umwelt (<strong>und</strong> teilweise auch Persönlichkeitseigenschaften wie<br />
Motivation, Interesse) <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> nicht im Wege, wird sich<br />
Leistungsexzellenz schon irgendwie entwickeln (TERMAN 1925).<br />
Forscher wie GAGNÉ sprechen <strong>de</strong>r Umwelt <strong>und</strong> verschie<strong>de</strong>nen Per-<br />
sönlichkeitsfaktoren eine viel aktivere Rolle zu (z.B. GAGNÉ, 2003).<br />
Sie bezeichnen sie als Katalysatoren. Allerdings stimulieren o<strong>de</strong>r in-<br />
hibieren diese lediglich Prozesse, verän<strong>de</strong>rn sich jedoch selbst<br />
nicht. Im Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll wird hingegen ausdrücklich davon ausge-<br />
gangen, dass die einzelnen Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops gleicher-<br />
maßen weiter entwickelt – also ko-adaptiert – wer<strong>de</strong>n müssen. Ist<br />
ein Lernziel erreicht, wur<strong>de</strong> das Handlungsrepertoire erweitert. Es<br />
muss nun ein neues, anspruchsvolleres Lernziel ausgebil<strong>de</strong>t wer-<br />
<strong>de</strong>n, um das Lernen weiter voranzutreiben. Zur Erreichung dieses<br />
neuen Lernziels müssen neue Handlungsmöglichkeiten im Subjekti-<br />
ven Handlungsraum entworfen wer<strong>de</strong>n, die Lernen möglich ma-<br />
chen. Doch auch die Umwelt muss passend weiter entwickelt wer-<br />
<strong>de</strong>n. Ein einfaches Beispiel ist das neue Schulbuch, das mit je<strong>de</strong>r<br />
höheren Jahrgangsstufe notwendig wird. Oft ist jedoch sogar ein<br />
vollständiger Wechsel <strong>de</strong>r Umwelt notwendig, wenn sich ein Um-<br />
weltsystem nicht mehr <strong>de</strong>m wachsen<strong>de</strong>n Handlungsrepertoire <strong>und</strong><br />
seinen Lernzielen anpassen kann <strong>und</strong> keine Handlungen in dieser<br />
Umwelt mehr Lernen ermöglichen. Uns aus <strong>de</strong>m Alltag vertraute<br />
Beispiele sind das Aufrücken in die nächste Jahrgangsstufe an <strong>de</strong>r<br />
- 21 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Schule, <strong>de</strong>r Wechsel von Schule zu Universität o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wechsel in<br />
ein Profiteam.<br />
Systemische Analysen eines Aktiotops gelten also erstens <strong>de</strong>r Fra-<br />
ge, wie gut die einzelnen Komponenten ko-adaptiert sind. Die Sta-<br />
bilität eines Aktiotops ist umso größer, je besser Handlungsreper-<br />
toire, Ziele <strong>und</strong> Umwelt aufeinan<strong>de</strong>r abgestimmt sind <strong>und</strong> je besser<br />
<strong>de</strong>ren Verknüpfung zu effektiven Handlungen im Subjektiven Hand-<br />
lungsraum gelingt. Unter Lernaspekten ist jedoch zweitens die Mo-<br />
difizierbarkeit eines Aktiotops genauso wichtig. Dabei interessieren<br />
in Bezug auf eine bestimmte Erweiterung <strong>de</strong>s Handlungsrepertoires<br />
Fragen wie die Folgen<strong>de</strong>n: Dient diese Handlungsrepertoireerweite-<br />
rung persönlichen Zielen <strong>de</strong>r Person? Stellt die Umwelt geeignete<br />
Lerngelegenheiten zur Verfügung (z.B. Mentoren, Kursangebote,<br />
Lernressourcen etc.)? Wie reagiert die Umwelt auf das erweiterte<br />
Handlungsrepertoire (z.B. Reaktion <strong>de</strong>r Eltern auf gestiegene Ent-<br />
scheidungskompetenzen ihres Kin<strong>de</strong>s)? Wird die Person die Hand-<br />
lungsrepertoireerweiterung adäquat im Subjektiven Handlungsraum<br />
abbil<strong>de</strong>n können (z.B. unterschätzen Mädchen ihre gestiegenen<br />
mathematischen Kompetenzen häufig)?<br />
5 För<strong>de</strong>rung<br />
Aus <strong>de</strong>n bisherigen Ausführungen dürfte klar gewor<strong>de</strong>n sein, dass<br />
komplexe Lernprozesse, die sich über längere Zeiträume erstre-<br />
cken, durch punktuelle För<strong>de</strong>rungen nicht entschei<strong>de</strong>nd verbessert<br />
wer<strong>de</strong>n können. Dazu bedarf es einer ganzheitlichen För<strong>de</strong>rung, die<br />
das gesamte Aktiotop einer Person umfassen muss. Hierzu zählen<br />
selbstverständlich auch Umweltaspekte. Im Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll wer<strong>de</strong>n<br />
insgesamt elf Cluster von Erziehungszielen postuliert, die sich auf<br />
die Verbesserung <strong>und</strong> Ko-Adaptation <strong>de</strong>r vier Komponenten <strong>de</strong>s Ak-<br />
- 22 -<br />
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Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
tiotops, Lernaspekte 5 sowie systemische Aspekte <strong>de</strong>s Aktiotops be-<br />
ziehen (für Einzelheiten <strong>und</strong> konkrete Beispiele siehe STOEGER &<br />
ZIEGLER 2005). In diesem Beitrag soll exemplarisch <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rbe-<br />
darf zu einem dieser elf Cluster dargestellt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r bei einer<br />
ganzheitlichen För<strong>de</strong>rung oft vernachlässigt wird: <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rbedarf<br />
<strong>de</strong>r Umwelt.<br />
5.1 Umweltbezogener För<strong>de</strong>rbedarf: Ansatzpunkt Soziotope<br />
Studien belegen, dass Hochleisten<strong>de</strong>n ein exzellentes Lernumfeld<br />
zur Verfügung stand, in <strong>de</strong>m sie ihr Handlungsrepertoire erweitern<br />
konnten. BLOOM (1985a, 1985b) fand beispielsweise, dass die<br />
meisten Hochleisten<strong>de</strong>n ausgezeichnete Lehrer <strong>und</strong>/o<strong>de</strong>r Mentoren<br />
hatten. Hemmen<strong>de</strong> Einflüsse <strong>de</strong>r Umwelt waren seltener.<br />
Ein zentrales Konstrukt <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls zur Bewertung <strong>de</strong>r<br />
För<strong>de</strong>rwirkung <strong>de</strong>r Umwelt sind Soziotope (lat. sozio die Gemein-<br />
schaft betreffend, griech. topos Ort). Es wird ein enger Zusammen-<br />
hang zwischen <strong>de</strong>r Örtlichkeit (Klassenraum, Haus, Nachbarschaft)<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r in ihr agieren<strong>de</strong>n Personen angenommen.<br />
Soziotope haben eine objektive Struktur, das heißt es sind in ihnen<br />
nicht beliebige Handlungen möglich. Beispielsweise begrenzen<br />
Wän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r das Arrangement <strong>de</strong>r Büromöbel die Bewegung am Ar-<br />
beitsplatz, in <strong>de</strong>r naturwissenschaftlichen Sektion <strong>de</strong>r Bibliothek<br />
kann keine Belletristik ausgeliehen wer<strong>de</strong>n etc. Solche objektiven<br />
Gegebenheiten wer<strong>de</strong>n als implementiert bezeichnet.<br />
Normalerweise wird aus <strong>de</strong>m Universum möglicher Handlungen in<br />
einem Soziotop nur ein Subset gezeigt. Dies hängt damit zusam-<br />
men, dass in Soziotopen bestimmte Handlungen institutionalisiert<br />
sind. Damit sind die typischen Verhaltensweisen gemeint, die oft<br />
sachlogisch begrün<strong>de</strong>t sind (die Küche ist so eingerichtet, dass man<br />
5 Auf <strong>de</strong>ren Darstellung wur<strong>de</strong> hier aus Platzgrün<strong>de</strong>n verzichtet. Nähere Ausführungen<br />
fin<strong>de</strong>n sich in ZIEGLER, GRASSINGER & STÖGER (2007).<br />
- 23 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Speisen darin bereiten kann, das Ba<strong>de</strong>zimmer <strong>de</strong>rart, dass die indi-<br />
viduelle Körperpflege darin betrieben wer<strong>de</strong>n kann). Häufig wird je-<br />
doch auch ein starker normativer Druck ausgeübt, so dass be-<br />
stimmte Handlungen in einem Soziotop gezeigt, an<strong>de</strong>re unterlassen<br />
wer<strong>de</strong>n (z.B. rechtzeitiges Platz einnehmen vor <strong>und</strong> keine Unterhal-<br />
tung führen während <strong>de</strong>r Theateraufführung).<br />
Während ihrer Sozialisation erwerben Personen ein reichhaltiges<br />
Wissen, welche Handlungsmöglichkeiten die Soziotope in ihrer Le-<br />
benswelt bieten <strong>und</strong> welche Handlungen in ihnen sanktioniert wer-<br />
<strong>de</strong>n. Man spricht hier von internalisieren.<br />
Wichtig ist, dass Soziotope zwar sehr große Ähnlichkeiten aufwei-<br />
sen können, sodass es gerechtfertigt erscheint, sie unter einer ge-<br />
meinsamen Bezeichnung zusammenzufassen. Man kann beispiels-<br />
weise Familien, Kin<strong>de</strong>rgartengruppen o<strong>de</strong>r auch Zugabteile als So-<br />
ziotope auffassen. Doch selbstverständlich können sich Familien,<br />
Kin<strong>de</strong>rgartengruppen <strong>und</strong> Zugabteile beträchtlich unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Beispielsweise kann das Familiensoziotop, in <strong>de</strong>m ein Kind auf-<br />
wächst, bildungsnäher o<strong>de</strong>r bildungsferner sein. Das Kind kann eine<br />
Kin<strong>de</strong>rgartengruppe besuchen, in <strong>de</strong>r eher Wert auf Spielen o<strong>de</strong>r<br />
eher Wert auf Lernen gelegt wird. Soziotope können somit erstens<br />
daraufhin analysiert wer<strong>de</strong>n, welche Lernhandlungen in ihnen<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich möglich sind (Implementation von Handlungsmöglich-<br />
keiten). Sie können aber auch daraufhin analysiert wer<strong>de</strong>n, wel-<br />
chen normativen Druck sie ausüben, dass Lernhandlungen in ihnen<br />
durchgeführt wer<strong>de</strong>n (Institutionalisierung von lernför<strong>de</strong>rlichen<br />
Handlungen). Diese ersten bei<strong>de</strong>n Analysekategorien hinterfragen<br />
unidirektional die lernför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Wirkung eines Soziotops. Es ist je-<br />
doch auch wichtig, das Soziotop aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s han<strong>de</strong>ln-<br />
<strong>de</strong>n Individuums zu betrachten. Beispielsweise bietet das Soziotop<br />
Klassenzimmer in <strong>de</strong>r Regel ausgezeichnete Lernmöglichkeiten, <strong>de</strong>-<br />
ren Nutzung mit hohem normativem Druck eingefor<strong>de</strong>rt wird.<br />
- 24 -<br />
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Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Gleichwohl verweigern sich <strong>de</strong>m viele Schüler. Es ist daher auch<br />
drittens wichtig, ob eine Person in ihrem subjektiven Handlungs-<br />
raum die in Soziotopen implementierten <strong>und</strong> institutionalisierten<br />
Handlungsmöglichkeiten realisiert. Der dritte Analysegesichtspunkt<br />
richtet sich also auf die Internalisierung <strong>de</strong>r Handlungsmöglichkei-<br />
ten.<br />
5.2 Typen von Soziotopen<br />
An an<strong>de</strong>rer Stelle (ZIEGLER 2008) habe ich unter <strong>de</strong>m Gesichts-<br />
punkt ihrer För<strong>de</strong>rwirkung folgen<strong>de</strong> Klassifikation von Soziotopen<br />
vorgeschlagen:<br />
In thematischen Soziotopen wird die Kommunikation über eine Ta-<br />
lentdomäne positiv sanktioniert. Lernzuwächse wer<strong>de</strong>n also norma-<br />
tiv gestützt, doch sind in thematischen Soziotopen keine Gelegen-<br />
heiten für Lernhandlungen implementiert. Beispielsweise kann wäh-<br />
rend <strong>de</strong>s Pausengesprächs mit einem Fre<strong>und</strong> das Thema Schach<br />
hoch erwünscht sein, während die Familie vielleicht genervt rea-<br />
giert, wenn die Tochter während <strong>de</strong>s Abendbrots über die Vorteile<br />
<strong>de</strong>r Drachenvariante <strong>de</strong>r Sizilianischen Verteidigung diskutieren<br />
möchte.<br />
Infrastrukturelle Soziotope bieten die Möglichkeit, sich in einer Do-<br />
mäne zu betätigen. Beispielsweise ermöglicht eine Skipiste in <strong>de</strong>r<br />
Nachbarschaft ausgezeichnete Möglichkeiten, das Skifahren zu er-<br />
lernen. Bücher im Haushalt können <strong>de</strong>n ersten Zugang zu einem<br />
Wissensgebiet bieten. Allerdings wird in infrastrukturellen Sozioto-<br />
pen kein normativer Druck auf das Individuum ausgeübt, Lernzu-<br />
wächse zu erzielen.<br />
Die Verfügbarkeit <strong>und</strong> Zugänglichkeit infrastruktureller Soziotope<br />
ist fast immer <strong>de</strong>r erste Flaschenhals, <strong>de</strong>r zu passieren ist, wenn<br />
man sich mit einer Domäne beschäftigen will. Tatsächlich gibt es in<br />
arabischen Län<strong>de</strong>rn keine Skispringer, bei Indianervölkern <strong>de</strong>s<br />
- 25 -<br />
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Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Amazonas keine intuitionistischen Mathematiker <strong>und</strong> in Ruanda kei-<br />
ne Astronomen mit Weltruf. Hierfür mangeln<strong>de</strong> individuelle Bega-<br />
bungen verantwortlich zu machen, wäre nichts weniger als durch<br />
Ethnozentrismus bedingte Fehleinschätzungen.<br />
Lernsoziotope bieten Handlungsmöglichkeiten in einer Talentdomä-<br />
ne <strong>und</strong> sind normativ darauf ausgelegt, dass Personen in ihnen<br />
Lernzuwächse erzielen sollen. Be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Lernsoziotope sind <strong>de</strong>r<br />
Klassenraum, <strong>de</strong>r musikalische Instrumentalunterricht o<strong>de</strong>r das<br />
Training im Sportverein.<br />
Lernsoziotope können nach ihrer För<strong>de</strong>rwirkung unterschie<strong>de</strong>n wer-<br />
<strong>de</strong>n. So trägt ein besserer Lehrer dazu bei, dass ein Schüler in ei-<br />
nem effektiveren Lernsoziotop unterrichtet wird.<br />
In Professionssoziotopen können Personen Handlungen in ihrer<br />
Spezialdomäne durchführen <strong>und</strong> damit ihren Lebensunterhalt ver-<br />
dienen. Diese Möglichkeit steht jedoch nicht für alle Domänen of-<br />
fen. Beispielsweise kann man in Deutschland Schachprofi sein,<br />
nicht jedoch Mühleprofi.<br />
Professionssoziotope müssen übrigens nicht auf Leistungszuwächse<br />
ausgerichtet sein. Im Gegenteil, in ihnen wer<strong>de</strong>n fehlerfreie Aus-<br />
führungen verlangt. Ein Geiger führt etwa ein Stück vor, dass er in-<br />
tensiv geübt hat. Wür<strong>de</strong> er noch während <strong>de</strong>s Konzerts dazulernen<br />
müssen, wäre dies fatal.<br />
In konkurrieren<strong>de</strong>n Soziotopen können Lernhandlungen in <strong>de</strong>r Do-<br />
mäne normalerweise nicht durchgeführt wer<strong>de</strong>n. Beispiele sind Ki-<br />
nos o<strong>de</strong>r Diskotheken, die zur Verfolgung an<strong>de</strong>rer Ziele geschaffen<br />
wur<strong>de</strong>n. Es wird jedoch kein normativer Druck ausgeübt, dass eine<br />
Person Lernhandlungen in <strong>de</strong>r Talentdomäne unterlässt.<br />
In Antagonistischen Soziotopen sind ebenfalls keine Lernhandlun-<br />
gen in <strong>de</strong>r Talentdomäne möglich. Im Gegensatz zu Konkurrieren-<br />
<strong>de</strong>n Soziotopen besteht in ihnen jedoch ein normativer Druck,<br />
Lernhandlungen in <strong>de</strong>r Talentdomäne zu unterlassen. So kann un-<br />
- 26 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
ter Umstän<strong>de</strong>n sogar die Schulklasse für eine an <strong>de</strong>r Physik interes-<br />
sierte Schülerin ein Antagonistisches Soziotop sein, wenn sie von<br />
<strong>de</strong>n Mitschülern als Streberin abgelehnt wird. Der Durchführung<br />
von Lernhandlungen wird in Antagonistischen Soziotopen also ge-<br />
nerell entgegengewirkt.<br />
5.3 Zwei Fallbeispiele zur Be<strong>de</strong>utung von Soziotopen für die<br />
Entwicklung von Leistungsexzellenz<br />
Ultimatives Ziel von Talent- <strong>und</strong> Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung ist die<br />
konsequente Erweiterung <strong>de</strong>s Handlungsrepertoires einer Person<br />
bis sie Leistungsexzellenz erreicht hat. Dazu muss jedoch das ge-<br />
samte Aktiotop weiterentwickelt wer<strong>de</strong>n. Ganzheitliche För<strong>de</strong>rung<br />
umfasst daher auch die Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Umwelt <strong>und</strong> somit<br />
<strong>de</strong>r Soziotope.<br />
Als einfache Veranschaulichung für <strong>de</strong>n För<strong>de</strong>rbedarf von Sozioto-<br />
pen betrachten wir das Beispiel von zwei Mathematikinteressierten<br />
Jugendlichen, die jeweils 17 Jahre alt sind. Sie erbringen in diesem<br />
Fach ausgezeichnete Schulleistungen. Bei<strong>de</strong> nahmen im vorange-<br />
gangenen Jahr an <strong>de</strong>n Vorbereitungen auf die Mathematikolympia-<br />
<strong>de</strong> teil, wobei allerdings nur einer <strong>de</strong>n Sprung ins Team schaffte<br />
<strong>und</strong> später tatsächlich eine Medaille errang. Er wird im Folgen<strong>de</strong>n<br />
als Chr. adressiert, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Qualifikation knapp gescheiterte als<br />
S. In Abbildung 4 sind schematisierte Überblicke <strong>de</strong>r Soziotope von<br />
Chr. <strong>und</strong> S. während <strong>de</strong>s Qualifikationszyklus festgehalten.<br />
- 27 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Soziotope von Chr.<br />
TagesMonDiensMittDonners- Freitag Sams- Sonntag<br />
zeittagtagwochtagtag 0-6 4 4 4 4 4 4 4<br />
6-7 4 4 4 4 4 4 4<br />
7-8 2 2 2 2 2 4 4<br />
8-9 4 3 4 4 4 4 4<br />
9-10 4 2 4 3 2 3 4<br />
10-11 4 2 3 4 3 3 2<br />
11-12 4 4 3 4 4 4 2<br />
12-13 2 2 1 1 2 2 2<br />
13-14 1 1 2 2 3 2 1<br />
14-15 3 3 1 4 1 3 3<br />
15-16 3 3 1 3 2 3 3<br />
16-17 3 3 3 3 3 3 3<br />
17-18 2 1 5 4 3 4 4<br />
18-19 3 2 3 2 2 2 3<br />
19-20 1 3 4 4 4 4 4<br />
20-21 1 4 3 4 4 3 4<br />
21-22 1 4 4 4 4 4 4<br />
22-23 4 4 4 4 4 4 4<br />
23-24 4 4 4 4 4 4 4<br />
Soziotope von S.<br />
TagesMonDiensMittDonners- Freitag Sams- Sonntag<br />
zeittagtagwochtagtag 0-6 4 4 4 4 4 4 4<br />
6-7 4 4 4 4 4 4 4<br />
7-8 4 4 4 4 4 4 4<br />
8-9 3 4 3 3 4 4 4<br />
9-10 4 4 5 4 5 4 4<br />
10-11 4 3 5 4 4 1 3<br />
11-12 5 3 4 5 4 1 3<br />
12-13 5 4 4 5 5 4 4<br />
13-14 5 5 5 5 5 4 4<br />
14-15 3 3 4 3 4 4 5<br />
15-16 1 3 4 3 4 1 5<br />
16-17 4 4 4 4 4 1 4<br />
17-18 4 1 1 4 4 1 1<br />
18-19 4 4 1 5 4 1 1<br />
19-20 4 5 4 5 4 5 4<br />
20-21 4 5 4 5 4 5 4<br />
21-22 4 4 4 4 4 5 4<br />
22-23 4 4 4 4 4 5 4<br />
23-24 4 4 4 4 4 5 4<br />
Abbildung 4: Soziotopvergleiche eines Teilnehmers an <strong>de</strong>r Mathematikolympia<strong>de</strong><br />
(Chr.) <strong>und</strong> eines knapp in <strong>de</strong>r Qualifikation Gescheiterten (S.)<br />
- 28 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
Legen<strong>de</strong>: 1 = Lernen wäre gr<strong>und</strong>sätzlich möglich (Infrastrukturel-<br />
les Soziotop); 2 = Mathematik wird thematisiert <strong>und</strong> positiv aner-<br />
kannt (Thematisches Soziotop); 3 = <strong>de</strong>r Leistungsverbesserung in<br />
<strong>de</strong>r Mathematik dienend (Lernsoziotop); 4 = es wer<strong>de</strong>n Handlun-<br />
gen in an<strong>de</strong>ren Domänen durchgeführt (Konkurrieren<strong>de</strong>s Soziotop);<br />
5 = Mathematik wird abgelehnt (Antagonistisches Aktiotop)<br />
Unter an<strong>de</strong>rem weisen folgen<strong>de</strong> Einzelbeobachtungen die Soziotope<br />
von Chr. als wesentlich günstiger für Handlungserweiterungen in<br />
<strong>de</strong>r Mathematik aus:<br />
●Chr. verbringt insgesamt mehr als doppelt so viel Zeit in mathe-<br />
matischen Lernsoziotopen als S. (Schulunterricht, häuslicher Ar-<br />
beitsplatz beim Hausaufgaben verfertigen, häuslicher Arbeitsplatz<br />
bei <strong>de</strong>r Vorbereitung auf die Mathematikolympia<strong>de</strong>, Lektüre eines<br />
Mathematikbuches).<br />
●Im Gegensatz zu Chr. hält sich S. öfter in Antagonistischen Sozio-<br />
topen auf. Von einigen Klassenkamera<strong>de</strong>n, einem seiner Fre<strong>und</strong>e<br />
<strong>und</strong> Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Jugendgruppe, die er regelmäßig besucht, wird<br />
sein mathematisches Engagement abgelehnt.<br />
●Während Chr. recht häufig in Thematischen Soziotopen ist (z.B. ist<br />
die Mathematik zuhause bei ihm regelmäßig ein Thema), trifft das<br />
auf S. nicht zu.<br />
Bei diesen Betrachtungen ist die Qualität <strong>de</strong>r Lernsoziotope, die<br />
selbstverständlich auch eine große Rolle spielt, noch außer Acht ge-<br />
lassen. Nichts<strong>de</strong>stotrotz weist bereits diese erste Soziotopanalyse<br />
die mathematischen Entwicklungschancen von Chr. als wesentlich<br />
höher aus.<br />
Abbildung 4 ist ebenfalls zu entnehmen, dass bei<strong>de</strong> Jugendliche<br />
sich auch in Infrastrukturellen Soziotopen aufhielten. Damit hatten<br />
sie recht einfache Möglichkeiten, weitere Soziotope in mathemati-<br />
sche Lernsoziotope zu transformieren. Ein halbes Jahr später hatte<br />
- 29 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
dies jedoch nur Chr. getan, während S. sein mathematisches Enga-<br />
gement auf das für die Schule erfor<strong>de</strong>rliche Maß reduzierte.<br />
Die Frage, ob die Soziotope, in <strong>de</strong>nen sich Chr. aktuell aufhält, das<br />
Erreichen von Leistungsexzellenz in <strong>de</strong>r Mathematik erlauben, kann<br />
durch die Betrachtung dieses schmalen Zeitfensters nicht beant-<br />
wortet wer<strong>de</strong>n. Eine Prognose wür<strong>de</strong> verlangen, dass bausteinartig<br />
künftige Soziotope zusammengesetzt wer<strong>de</strong>n könnten, <strong>de</strong>ren<br />
Durchlaufen maximale Lernzuwächse verspräche. Die Analysen gel-<br />
ten dabei <strong>de</strong>r Zugänglichkeit <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Qualität dieser zukünftigen<br />
Lernsoziotope.<br />
Entsprechen<strong>de</strong> Untersuchungen geschehen am besten im Rahmen<br />
von Beratungen, in <strong>de</strong>nen künftige Entwicklungsmöglichkeiten in<br />
Tiefengesprächen ausgelotet wer<strong>de</strong>n können. Dies könnte bei-<br />
spielsweise im Rahmen <strong>de</strong>s Beratungsmo<strong>de</strong>lls 11-SCC vorgenom-<br />
men wer<strong>de</strong>n, das meine Kollegin Heidrun STÖGER <strong>und</strong> ich entwi-<br />
ckelt haben (ZIEGLER & STOEGER 2007; siehe auch STÖGER in<br />
dieser Ausgabe).<br />
Abschließend soll <strong>de</strong>m Eindruck entgegengewirkt wer<strong>de</strong>n, dass leis-<br />
tungsexzellenten Aktiotopen eine beson<strong>de</strong>re Wertigkeit zukommt.<br />
So war zwar Chr. erfolgreicher hinsichtlich seines Abschnei<strong>de</strong>ns bei<br />
<strong>de</strong>r Mathematikolympia<strong>de</strong>, doch hatte S. auch vielfältigere Interes-<br />
sen, sodass eine ähnliche Fokussierung auf die Mathematik nicht zu<br />
seiner Zielstruktur gepasst hätte. Zu<strong>de</strong>m fühlt er sich in seinem so-<br />
zialen Umfeld wohl, in <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>re Dinge als herausragen<strong>de</strong> Mathe-<br />
matikleistungen wichtig waren. Auch wenn S. also in <strong>de</strong>r Qualifika-<br />
tion für die Mathematikolympia<strong>de</strong> gescheitert war, impliziert dies<br />
nicht, dass er bei <strong>de</strong>r Entwicklung seines Aktiotops in irgen<strong>de</strong>iner<br />
Form gescheitert wäre. Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung sollte ein Entwick-<br />
lungsangebot sein, das von Respekt <strong>und</strong> Verantwortung für die ge-<br />
samte Persönlichkeit getragen wird, nicht nur von <strong>de</strong>r Hoffnung auf<br />
extreme Handlungsrepertoireerweiterungen.<br />
- 30 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
6 Resümee: Der Gegenstand ganzheitlicher För<strong>de</strong>rung<br />
Wenn im Rahmen <strong>de</strong>r Begabtenför<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Terminus „ganzheit-<br />
lich“ verwen<strong>de</strong>t wird, dann ist damit üblicherweise eine För<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r gesamten Person gemeint (vgl. Beiträge in HELLER, MOENKS,<br />
STERNBERG & SUBOTNIK 2000). Aus <strong>de</strong>r systemischen Perspektive<br />
<strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls ist dies sicherlich ein guter Ansatzpunkt, da<br />
die För<strong>de</strong>rung isolierter Persönlichkeitsausschnitte o<strong>de</strong>r singulärer<br />
Handlungskompetenzen kaum Aussicht auf Erfolg zukommt. Aller-<br />
dings muss kritisch nachgefragt wer<strong>de</strong>n, was die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r ge-<br />
samten Person beinhaltet.<br />
Erstens müssen Ko-Adaptationen berücksichtigt wer<strong>de</strong>n. So be-<br />
rechtigt nämlich einerseits die Kritik ist, dass die För<strong>de</strong>rung isolier-<br />
ter Persönlichkeitsfacetten unzureichend ist, so kurzschlüssig wäre<br />
es an<strong>de</strong>rerseits anzunehmen, dass ein bloßes Mehr an berücksich-<br />
tigten Persönlichkeitsfacetten schon zielführend wäre. Es müssen<br />
vielmehr Wechselwirkungen berücksichtigt <strong>und</strong> eine organische<br />
För<strong>de</strong>rung aller Komponenten angestrebt wer<strong>de</strong>n.<br />
Zweitens greift ganzheitliche För<strong>de</strong>rung zu kurz, wenn darunter nur<br />
die Person, jedoch nicht ihre Umwelt verstan<strong>de</strong>n wird. Extensive<br />
Forschungen haben gezeigt, dass Leistungsexzellenz nur in exzel-<br />
lenten Lernumgebungen entstehen kann (z.B. ERICSSON ET AL. im<br />
Druck; GRUBER, LEHTINEN, PALONEN & DEGNER 2008). Die zu<br />
för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> „Ganzheit“ umfasst <strong>de</strong>mnach mehr als nur das Individu-<br />
um mit seinen Zielen, Eigenschaften <strong>und</strong> Handlungen. Am Beispiel<br />
<strong>de</strong>r Soziotope wur<strong>de</strong> gezeigt, dass eine auf das Individuum zen-<br />
trierte, aber die Umwelt, in <strong>de</strong>r das Individuum han<strong>de</strong>lt, vergessen-<br />
<strong>de</strong> För<strong>de</strong>rung wahrscheinlich nicht ihre Ziele erreichen kann. För-<br />
<strong>de</strong>rbemühungen müssen daher <strong>de</strong>m gesamten Aktiotop einer Per-<br />
son gelten.<br />
- 31 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Literatur<br />
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
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BLOOM, B.S. (1985b). Generalizations about talent <strong>de</strong>velopment.<br />
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(Eds.), Handbook of gifted education (60-74). Boston: Allyn &<br />
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GRUBER, H., LEHTINEN, E., PALONEN, T., & DEGNER, S. (2008).<br />
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GRUBER, H., WEBER, A. & ZIEGLER, A. (1996).<br />
Einsatzmöglichkeiten retrospektiver Befragungen bei <strong>de</strong>r<br />
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ZIEGLER (Hrsg.), Expertiseforschung: Theoretische <strong>und</strong><br />
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Verlag.<br />
HELLER, K.A., MÖNKS, F.J., STERNBERG, R & SUBOTNIK, R.<br />
(Eds.), International handbook of research and <strong>de</strong>velopment of<br />
giftedness and talent. Oxford, UK: Pergamon.<br />
- 32 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
HELLER, K.A. & ZIEGLER, A. (2007). Begabt sein in Deutschland.<br />
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zwischen Wissen <strong>und</strong> Han<strong>de</strong>ln. Empirische <strong>und</strong> theoretische<br />
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RENKL, A. (1994). Träges Wissen: Die „unerklärliche“ Kluft<br />
zwischen Wissen <strong>und</strong> Han<strong>de</strong>ln (Forschungsbericht Nr. 41).<br />
München: Ludwig-Maximilians-Universität, Lehrstuhl für<br />
Empirische Pädagogik <strong>und</strong> Pädagogische Psychologie.<br />
ROST, D.H. & SCHILLING, S.R. (2006). <strong>Hochbegabung</strong>. In D.H.<br />
ROST (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie<br />
(233-245). Weinheim: Beltz, PVU.<br />
SCHOBER, B. (2002). Entwicklung <strong>und</strong> Evaluation <strong>de</strong>s Münchner<br />
Motivationstrainings. Regensburg, Germany: Ro<strong>de</strong>rer.<br />
STOEGER, H. & ZIEGLER, A. (2005). Praise in gifted education. –<br />
An analysis based on the Actiotope Mo<strong>de</strong>l of Giftedness. Gifted<br />
Education International, 20, 306-329.<br />
TERMAN, L. M. (1925). Genetic studies of genius: Vol. 1. Mental<br />
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ZIEGLER, A. (2007). För<strong>de</strong>rung von Leistungsexzellenz. In K.A.<br />
HELLER, & A. ZIEGLER (Hrsg.), Begabt sein in Deutschland<br />
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ZIEGLER, A. (2008). <strong>Hochbegabung</strong>. München: UTB.<br />
ZIEGLER, A., GRASSINGER, R. & STÖGER, H. (2007). Wie lobt<br />
man begabte Schüler richtig? Theoretische Hintergrün<strong>de</strong> auf<br />
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ZIEGLER, A. & HELLER, K.A. (2000). Conceptions of giftedness: A<br />
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STERNBERG & R. SUBOTNIK (Eds.), International handbook of<br />
research and <strong>de</strong>velopment of giftedness and talent (3-22).<br />
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MENDAGLIO & J. S. PETERSON (Eds.), Mo<strong>de</strong>ls of counseling<br />
- 33 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Aktiotop- <strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung<br />
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ZORMAN, R. & DAVID, H. (2000). Female achievement and<br />
challenges toward the third millennium. Jerusalem: Henrietta<br />
Szold Institute.<br />
Über <strong>de</strong>n Autor:<br />
Albert Ziegler<br />
Albert Ziegler ist Professor für Pädagogische Psychologie <strong>und</strong> Leiter<br />
<strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sweiten Forschungs- <strong>und</strong> Beratungsstelle für <strong>Hochbegabung</strong><br />
an <strong>de</strong>r Universität Ulm. Er ist Generalsekretär <strong>de</strong>r International<br />
Research Association for Talent Development and Excellence<br />
(IRATDE) <strong>und</strong> Mitglied <strong>de</strong>s World Council for Gifted and Talented<br />
Children sowie <strong>de</strong>s European Council for High Ability. Er ist Mitglied<br />
verschie<strong>de</strong>ner Kommissionen <strong>und</strong> Gremien, darunter die wissenschaftlichen<br />
Beiräte <strong>de</strong>r Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte<br />
Kind, <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Philologenverbands sowie <strong>de</strong>s Verbands<br />
Deutscher Realschullehrer. In seinen ca. 250 Büchern, Zeitschriftenartikeln<br />
<strong>und</strong> Buchkapiteln beschäftigt er sich bevorzugt mit <strong>de</strong>n<br />
Themen <strong>Hochbegabung</strong>, Motivations- <strong>und</strong> Lernför<strong>de</strong>rung. Er ist <strong>de</strong>rzeit<br />
Herausgeber <strong>de</strong>r Fachzeitschrift Talent Development and Excellence<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Buchreihe Talentför<strong>de</strong>rung-Expertiseentwicklung-<br />
Leistungsexzellenz.<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz:<br />
Prof. Dr. Dr. Albert Ziegler<br />
Institut für Pädagogik<br />
Pädagogische Psychologie<br />
Universität Ulm<br />
Albert-Einstein-Allee 47<br />
89081 Ulm<br />
Zu zitieren als:<br />
ZIEGLER, Albert: „Ganzheitliche För<strong>de</strong>rung“ umfasst mehr als nur die Person: Aktiotop-<br />
<strong>und</strong> Soziotopför<strong>de</strong>rung. In: Heilpädagogik online 02/09, 5-34<br />
http://www.heilpaedagogik-online.com/2009/heilpaedagogik_online_0209.pdf,<br />
Stand: Datum <strong>de</strong>s Abrufs<br />
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- 34 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
Heidrun Stöger<br />
Die I<strong>de</strong>ntifikation Hochbegabter basierend<br />
auf einem systemischen Begabungsansatz<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Relevanz für Begabte<br />
mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf<br />
Die I<strong>de</strong>ntifikation Hochbegabter ist ein für die Schul- <strong>und</strong><br />
Unterrichtspraxis wichtiges Thema. Je nach Begabungsmo<strong>de</strong>ll<br />
wer<strong>de</strong>n unterschiedliche Vorgehensweisen gewählt. In<br />
<strong>de</strong>r Praxis en<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikationsprozess jedoch häufig<br />
schon mit <strong>de</strong>r Feststellung einer <strong>Hochbegabung</strong>, eine mögliche<br />
För<strong>de</strong>rung wird jedoch weitgehend vernachlässigt. In<br />
diesem Beitrag wird das I<strong>de</strong>ntifikationsmo<strong>de</strong>ll ENTER <strong>und</strong><br />
seine Umsetzung basierend auf <strong>de</strong>m Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r<br />
<strong>Hochbegabung</strong> vorgestellt. Da es sich bei diesem Begabungsmo<strong>de</strong>ll<br />
um einen systemischen Ansatz han<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>ssen<br />
Anliegen nicht die I<strong>de</strong>ntifikation von Personen, son<strong>de</strong>rn die<br />
I<strong>de</strong>ntifikation eines Lernpfa<strong>de</strong>s ist, <strong>de</strong>r zu Leistungsexzellenz<br />
führt, en<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Prozess nicht mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation bestimmter<br />
Persönlichkeitseigenschaften, wie Intelligenz o<strong>de</strong>r<br />
Kreativität, son<strong>de</strong>rn umfasst auch die I<strong>de</strong>ntifikation optimaler<br />
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten. Nach einem kurzen Überblick über<br />
ENTER <strong>und</strong> relevante Aspekte <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls wer<strong>de</strong>n<br />
die auf je<strong>de</strong>r Stufe von ENTER interessieren<strong>de</strong>n Informationen<br />
dargestellt. Da die I<strong>de</strong>ntifikation begabter Schüler mit<br />
heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf bislang weitgehend vernachlässigt<br />
wur<strong>de</strong>, wer<strong>de</strong>n abschließend die praktischen<br />
Einsatzmöglichkeiten von ENTER für diese Personengruppe<br />
diskutiert.<br />
Schlüsselwörter: I<strong>de</strong>ntifikation, <strong>Hochbegabung</strong>, ENTER-Mo<strong>de</strong>ll, Aktiotop<br />
The i<strong>de</strong>ntification of gifted stu<strong>de</strong>nts is a topic significant in<br />
the field of scholastic education and instruction. In accordance<br />
with different theoretical mo<strong>de</strong>ls of giftedness, choices<br />
must be ma<strong>de</strong> among the various procedures used in i<strong>de</strong>ntification.<br />
In practice, the i<strong>de</strong>ntification process usually ends<br />
with the ascertainment of giftedness, whereby such assessments<br />
usually neglect to explore feasible methods of encouragement.<br />
This contribution introduces the ENTER mo<strong>de</strong>l<br />
of i<strong>de</strong>ntification, and its implementation, which find their<br />
- 35 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
basis in the Actiotope Mo<strong>de</strong>l of Giftedness. In that this talent<br />
mo<strong>de</strong>l is essentially a systemic approach, which aims<br />
not to i<strong>de</strong>ntify persons but rather a learning path which<br />
would lead a person to achievement excellence, the process<br />
does not conclu<strong>de</strong> with the i<strong>de</strong>ntification of specific personality<br />
traits such as intelligence or creativity, but rather also<br />
encompasses the i<strong>de</strong>ntification of optimal methods to further<br />
<strong>de</strong>velop the talents of the individual in question. Following<br />
a brief overview of ENTER and relevant aspects of<br />
the Actiotope Mo<strong>de</strong>l, pertinent information will be discussed<br />
for each of the steps comprising ENTER. Since the i<strong>de</strong>ntification<br />
of gifted pupils with a need for remedial support has<br />
been largely neglected in the past, a subsequent discussion<br />
will address the practical application of ENTER with regard<br />
to this group of persons.<br />
Keywords: I<strong>de</strong>ntification, Giftedness, ENTER Mo<strong>de</strong>l, Actiotope<br />
Die Hauptaufgabe <strong>de</strong>r Heilpädagogik besteht sicherlich nicht in <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>ntifikation Hochbegabter, son<strong>de</strong>rn darin, Menschen mit Verhal-<br />
tensauffälligkeiten, geistigen, körperlichen o<strong>de</strong>r sprachlichen Beein-<br />
trächtigungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Lebensumwelt mit pädagogisch-therapeu-<br />
tischen Maßnahmen zu unterstützen. Aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r ganzheitlichen<br />
Sichtweise <strong>de</strong>r Heilpädagogik, bei <strong>de</strong>r nicht nur vorliegen<strong>de</strong> Störun-<br />
gen <strong>und</strong> Probleme, son<strong>de</strong>rn auch vorhan<strong>de</strong>ne Fähigkeiten, Ressour-<br />
cen <strong>und</strong> Unterstützungsmöglichkeiten in <strong>de</strong>r Umwelt berücksichtigt<br />
wer<strong>de</strong>n, scheint die I<strong>de</strong>ntifikation Hochbegabter jedoch auch im<br />
Rahmen <strong>de</strong>r Heilpädagogik ein relevantes Thema darzustellen.<br />
Möglicherweise wer<strong>de</strong>n im Rahmen <strong>de</strong>s heilpädagogischen Diagno-<br />
seprozesses Fähigkeiten sichtbar, die auf eine <strong>Hochbegabung</strong><br />
schließen lassen <strong>und</strong> für die För<strong>de</strong>rung nutzbar gemacht wer<strong>de</strong>n<br />
können. Für hochbegabte Personen mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>r-<br />
bedarf gilt die For<strong>de</strong>rung nach einer individuellen För<strong>de</strong>rung <strong>und</strong> ei-<br />
nem Abholen beim jeweiligen Lern- <strong>und</strong> Leistungsstand somit min-<br />
<strong>de</strong>stens in zweifacher Hinsicht (vgl. HARDER in dieser Ausgabe).<br />
- 36 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
Gestaltet sich die <strong>Hochbegabung</strong>si<strong>de</strong>ntifikation bei Menschen ohne<br />
heilpädagogischen För<strong>de</strong>rbedarf bereits problematisch, so ist diese<br />
für Lernen<strong>de</strong> mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf sicherlich noch<br />
<strong>de</strong>utlich schwieriger. Das Hauptproblem besteht darin, dass die<br />
<strong>Hochbegabung</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r vorherrschen<strong>de</strong>n<br />
Probleme häufig ver<strong>de</strong>ckt ist (MAKER 1976). Während die I<strong>de</strong>ntifi-<br />
kation bei Personen mit einer offensichtlichen Behin<strong>de</strong>rung (z.B.<br />
Blindheit o<strong>de</strong>r Taubheit) o<strong>de</strong>r einer offensichtlichen <strong>Hochbegabung</strong><br />
noch leichter fällt, bil<strong>de</strong>t diese bei Kin<strong>de</strong>rn, die nicht sprechen kön-<br />
nen o<strong>de</strong>r nicht in <strong>de</strong>r Lage sind, einen Stift zu halten, eine beson-<br />
<strong>de</strong>re Herausfor<strong>de</strong>rung (vgl. LUPART & TOY 2009).<br />
Bevor jedoch auf die I<strong>de</strong>ntifikation Hochbegabter mit son<strong>de</strong>rpäd-<br />
agogischem För<strong>de</strong>rbedarf eingegangen wird, erfolgt zunächst eine<br />
Darstellung <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>ntifikationsmo<strong>de</strong>lls ENTER (ZIEGLER & STÖGER<br />
2003, 2004). Es zeichnet sich dadurch aus, dass es sowohl zur<br />
I<strong>de</strong>ntifikation von Leistungsexzellenz genutzt wer<strong>de</strong>n als auch die<br />
Basis <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation von Meilensteinen <strong>und</strong> För<strong>de</strong>rmöglichkeiten<br />
auf <strong>de</strong>m Weg zu Leistungsexzellenz bil<strong>de</strong>n kann (vgl. GRASSINGER<br />
in dieser Ausgabe; ZIEGLER & STÖGER 2004, 2007). Sein Name ist<br />
ein Akronym, das aus <strong>de</strong>n ersten Buchstaben <strong>de</strong>r Worte Explore,<br />
Narrow, Transform, Evaluate <strong>und</strong> Review besteht.<br />
Eine Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls liegt darin, dass es sich um ein theo-<br />
retisch unter<strong>de</strong>terminiertes I<strong>de</strong>ntifikationsmo<strong>de</strong>ll han<strong>de</strong>lt, das auf<br />
ein konkretes Begabungsmo<strong>de</strong>ll angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n muss. In die-<br />
sem Beitrag wird dargestellt, wie sich die I<strong>de</strong>ntifikation im Rahmen<br />
von ENTER auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong><br />
(ZIEGLER 2005 <strong>und</strong> in dieser Ausgabe) gestaltet. Ich habe mich für<br />
dieses Begabungsmo<strong>de</strong>ll entschie<strong>de</strong>n, weil sein systemischer Zu-<br />
gang sehr gut mit <strong>de</strong>m ganzheitlichen Zugang in <strong>de</strong>r Heilpädagogik<br />
zu vereinbaren ist. Im Folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong> ich zunächst einen Über-<br />
blick über ENTER geben <strong>und</strong> anschließend die wichtigsten Aspekte<br />
- 37 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
<strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls kurz darstellen, damit eine I<strong>de</strong>ntifikation ba-<br />
sierend auf diesem Mo<strong>de</strong>ll nachvollziehbar wird. Abschließend er-<br />
folgt eine kritische Diskussion <strong>de</strong>r praktischen Einsatzmöglichkeiten<br />
<strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls im Rahmen <strong>de</strong>r Heilpädagogik.<br />
Überblick über das ENTER-Mo<strong>de</strong>ll<br />
I<strong>de</strong>ntifikationsprozesse setzen drei Rahmenbedingungen voraus: Es<br />
muss (1) ein theoretisches Basismo<strong>de</strong>ll gewählt wer<strong>de</strong>n, das als<br />
Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>r Messung dient. In diesem Beitrag wird aus oben ge-<br />
nanntem Gr<strong>und</strong> das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> als theore-<br />
tisches Basismo<strong>de</strong>ll gewählt. Eine weitere Rahmenbedingung für die<br />
Planung <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>ntifikationsprozesses sind die (2) zur Verfügung<br />
stehen<strong>de</strong>n Ressourcen. In <strong>de</strong>r Praxis sind die konkreten diagnosti-<br />
schen Möglichkeiten zumeist durch die verfügbaren Ressourcen li-<br />
mitiert. Ein sinnvoller I<strong>de</strong>ntifikationsprozess kann jedoch nur dann<br />
stattfin<strong>de</strong>n, wenn ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen.<br />
Hierzu gehören beispielsweise I<strong>de</strong>ntifikations- <strong>und</strong> Beratungskom-<br />
petenzen sowie Fachkenntnisse <strong>de</strong>s Personals, ausreichend Zeit,<br />
Zugang zu Informationen (beispielsweise von Eltern, Lehrkräften<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>n Schülern selbst), materielle Ressourcen (beispielsweise<br />
geeignete Räumlichkeiten, diagnostische Tests) etc. Eine weitere<br />
Rahmenbedingung bil<strong>de</strong>t (3) das I<strong>de</strong>ntifikationsziel, von <strong>de</strong>m die<br />
konkrete I<strong>de</strong>ntifikation massiv abhängig ist. Das I<strong>de</strong>ntifikationsziel<br />
bestimmt, welche <strong>und</strong> wie viele Informationen zu sammeln sind.<br />
Geht es beispielsweise darum zu erfahren, ob ein Kind eine Klasse<br />
überspringen kann, wer<strong>de</strong>n vordringlich die aka<strong>de</strong>mischen Lernpo-<br />
tenzen eines Schülers abgeschätzt. Soll dagegen festgestellt wer-<br />
<strong>de</strong>n, ob ein Kind einmal Leistungsexzellenz in <strong>de</strong>r Musik erreichen<br />
kann, so wer<strong>de</strong>n seine Lernpotenzen im künstlerischen Bereich im<br />
Fokus stehen. Erst wenn die drei oben genannten Rahmenbedin-<br />
gungen abgeklärt <strong>und</strong> in ausreichen<strong>de</strong>m Maß vorhan<strong>de</strong>n sind, kann<br />
- 38 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
mit <strong>de</strong>m Durchlaufen <strong>de</strong>r fünf diagnostischen Schritte in ENTER be-<br />
gonnen wer<strong>de</strong>n.<br />
Die fünf diagnostischen Schritte von ENTER können im Verlauf <strong>de</strong>s<br />
I<strong>de</strong>ntifikationsprozesses überlappen. Die ersten drei Schritte befas-<br />
sen sich mit <strong>de</strong>r Sammlung unterschiedlicher Daten <strong>und</strong> Informa-<br />
tionen. Im Gegensatz zu alternativen I<strong>de</strong>ntifikationsmo<strong>de</strong>llen ist es<br />
dabei nicht das Anliegen, Individuen als begabt zu klassifizieren.<br />
Ziel ist es vielmehr, einen geeigneten Lernpfad für ein Individuum<br />
zu fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r möglicherweise sogar zu Leistungsexzellenz führt.<br />
Der vierte <strong>und</strong> <strong>de</strong>r fünfte Schritt sind <strong>de</strong>r Überprüfung <strong>de</strong>r Qualität<br />
<strong>und</strong> Validität <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation (Schritt 4) <strong>und</strong> <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>ntifikations-<br />
mo<strong>de</strong>lls (Schritt 5) gewidmet. Die Aufnahme dieser bei<strong>de</strong>n Schritte<br />
dient dazu, eine permanente Verbesserung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation zu ge-<br />
währleisten.<br />
Bei <strong>de</strong>r Vorstellung <strong>de</strong>r fünf Schritte <strong>de</strong>s ENTER-Mo<strong>de</strong>ls wird davon<br />
ausgegangen, dass das Ziel <strong>de</strong>r Diagnose darin besteht festzustel-<br />
len, ob ein Individuum einmal Leistungsexzellenz in einer Talentdo-<br />
mäne erreichen kann. Im ersten Schritt Explore wird hauptsächlich<br />
das Individuum <strong>und</strong> seine Einbettung in Umweltsysteme unter-<br />
sucht. Unter an<strong>de</strong>rem wer<strong>de</strong>n seine allgemeine Leistungsfähigkeit<br />
<strong>und</strong> sein Verhalten in Schule, Elternhaus <strong>und</strong> gegenüber Peers in-<br />
teressieren. Erst im zweiten Schritt Narrow wird versucht, eine Ta-<br />
lentdomäne für das Individuum einzugrenzen. Diese Eingrenzung<br />
wird normalerweise mit zunehmen<strong>de</strong>m Alter <strong>und</strong> zunehmen<strong>de</strong>r<br />
Leistungsfähigkeit immer enger erfolgen. Nach<strong>de</strong>m eine vielver-<br />
sprechen<strong>de</strong> Talentdomäne i<strong>de</strong>ntifiziert ist, muss im dritten Schritt<br />
Transform eine Anfor<strong>de</strong>rungsanalyse <strong>de</strong>r Handlungen erstellt wer-<br />
<strong>de</strong>n, zu <strong>de</strong>ren Durchführung das Individuum in <strong>de</strong>r Talentdomäne<br />
in <strong>de</strong>r Lage sein muss. Ziel dieses diagnostischen Schrittes ist es,<br />
einen Lernpfad für das Individuum zu i<strong>de</strong>ntifizieren, sodass es ihm<br />
- 39 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
einmal gelingen kann, die in <strong>de</strong>r Anfor<strong>de</strong>rungsanalyse spezifizierten<br />
Handlungen durchzuführen.<br />
Fasst man die Anliegen <strong>de</strong>r ersten drei Stufen zusammen, so wer-<br />
<strong>de</strong>n jeweils an<strong>de</strong>re Aspekte fokussiert: bei Explore das Individuum<br />
<strong>und</strong> seine systemische Einbettung, bei Narrow die I<strong>de</strong>ntifizierung<br />
einer geeigneten Talentdomäne <strong>und</strong> in Transform die I<strong>de</strong>ntifikation<br />
eines Lernpfa<strong>de</strong>s für das Individuum.<br />
Die bei<strong>de</strong>n letzten Stufen Evaluate <strong>und</strong> Review dienen <strong>de</strong>r Quali-<br />
tätssicherung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Weiterentwicklung unserer I<strong>de</strong>ntifikationszie-<br />
le <strong>und</strong> -metho<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r gewählten Erziehungsmaßnahmen <strong>und</strong> letzt-<br />
lich auch unserer Theorien <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong>. In Evaluate wird<br />
überprüft, ob das unmittelbare I<strong>de</strong>ntifikationsziel tatsächlich er-<br />
reicht wur<strong>de</strong>. Nehmen wir an, das unmittelbare I<strong>de</strong>ntifikationsziel<br />
bestand darin, diejenigen Bewerber auszusuchen, die am meisten<br />
von einem För<strong>de</strong>rprogramm profitieren. In Evaluate wird überprüft,<br />
ob es tatsächlich gelungen ist, die besten Bewerber für das Pro-<br />
gramm vorzuschlagen. Obwohl ein Diagnostiker auf <strong>de</strong>r Evaluate-<br />
Stufe möglicherweise zufrie<strong>de</strong>n ist, das unmittelbare Ziel erreicht<br />
zu haben, kann die erweiterte Perspektive <strong>de</strong>r Review-Stufe zu Un-<br />
zufrie<strong>de</strong>nheit führen. Es wäre ja möglich, dass zwar tatsächlich ge-<br />
nau diejenigen Bewerber ausgesucht wur<strong>de</strong>n, die am meisten von<br />
einem För<strong>de</strong>rprogramm profitieren, aber gleichzeitig könnte <strong>de</strong>r<br />
Diagnostiker zur Einsicht kommen, dass ein alternatives För<strong>de</strong>rpro-<br />
gramm für diese Personen besser gewesen wäre. Auf <strong>de</strong>r Review-<br />
Stufe geht es also unter an<strong>de</strong>rem darum, das unmittelbare Ziel<br />
post hoc im Kontext <strong>de</strong>s gesamten Prozesses <strong>de</strong>r Entwicklung von<br />
Leistungsexzellenz zu beleuchten. Auf <strong>de</strong>r letzten Stufe von ENTER<br />
stehen <strong>de</strong>shalb sowohl unsere eigenen theoretischen Überzeugun-<br />
gen <strong>und</strong> praktischen Erfahrungen auf <strong>de</strong>m Prüfstand, auf <strong>de</strong>ren Ba-<br />
sis wir <strong>de</strong>n Lernpfad zum I<strong>de</strong>ntifikationsziel spezifizierten, als auch<br />
die I<strong>de</strong>ntifikationsziele selbst.<br />
- 40 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
Zusammenfassend sind somit an die bei<strong>de</strong>n letzten Stufen von EN-<br />
TER Evaluate <strong>und</strong> Review folgen<strong>de</strong> Aufgabenstellungen geknüpft:<br />
Auf <strong>de</strong>r Evaluate-Stufe wird überprüft, ob das unmittelbare I<strong>de</strong>ntifi-<br />
kationsziel erreicht wur<strong>de</strong>. Auf <strong>de</strong>r Review-Stufe kommt es zu einer<br />
kritischen Überprüfung, ob das Ziel <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation tatsächlich für<br />
diese Person am geeignetsten war, um Leistungsexzellenz zu ent-<br />
wickeln.<br />
Das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> als theoretische<br />
Basis für <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ntifikationsprozess<br />
Da das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll (vgl. ZIEGLER 2005 sowie ZIEGLER in die-<br />
ser Ausgabe) <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> in dieser Ausgabe ausführlich dar-<br />
gestellt wird, erfolgt hier nur ein kursorischer Überblick über die<br />
wichtigsten Komponenten <strong>und</strong> Aspekte, die für <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ntifikations-<br />
prozess von Be<strong>de</strong>utung sind. Eines <strong>de</strong>r Hauptmerkmale <strong>de</strong>s Aktio-<br />
top-Mo<strong>de</strong>lls besteht darin, dass das Individuum <strong>und</strong> seine Handlun-<br />
gen im Mittelpunkt <strong>de</strong>r Analyse stehen. Begabung be<strong>de</strong>utet hier<br />
also nicht, wie in vielen an<strong>de</strong>ren Mo<strong>de</strong>llen, dass ein Individuum<br />
über bestimmte Persönlichkeitsattribute verfügt, wie möglichst<br />
hohe Intelligenz o<strong>de</strong>r herausragen<strong>de</strong> Kreativität. Statt<strong>de</strong>ssen wird<br />
im Rahmen <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> <strong>de</strong>r Frage<br />
nachgegangen, ob eine Person einmal in <strong>de</strong>r Lage sein wird, exzel-<br />
lente Handlungen in einer Talentdomäne durchzuführen, also Hand-<br />
lungen, zu <strong>de</strong>nen normalerweise Personen selbst nach intensiver<br />
Beschäftigung <strong>und</strong> selbst bei bester För<strong>de</strong>rung nicht in <strong>de</strong>r Lage<br />
wären. Zur Beantwortung dieser Frage müssen Betrachtungen auf<br />
drei Ebenen erfolgen. Zunächst wer<strong>de</strong>n die (1) vier Komponenten<br />
<strong>de</strong>s Aktiotops (das Handlungsrepertoire, <strong>de</strong>r Subjektive Handlungs-<br />
raum, die Ziele <strong>und</strong> die Umwelt) einer Person genau betrachtet. Als<br />
nächstes erfolgt eine Untersuchung <strong>de</strong>s (2) Aktiotops als System.<br />
Hier geht es darum herauszufin<strong>de</strong>n, ob das Aktiotop im Rahmen<br />
- 41 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
<strong>de</strong>r Umsetzung eines Lernpfa<strong>de</strong>s einerseits genügend Flexibilität für<br />
Verän<strong>de</strong>rungen aufweist, an<strong>de</strong>rerseits aber auch die nötige Stabili-<br />
tät hat, um diese Lernprozesse sinnvoll durchlaufen zu können. Auf<br />
<strong>de</strong>r dritten Ebene geht es um (3) progressive Anpassungen <strong>de</strong>s Ak-<br />
tiotops.<br />
1) Die vier Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops<br />
Wie oben bereits erwähnt, wer<strong>de</strong>n neben <strong>de</strong>n Handlungen selbst<br />
vier Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops unterschie<strong>de</strong>n <strong>und</strong> im Rahmen <strong>de</strong>s<br />
I<strong>de</strong>ntifikationsprozesses untersucht: das Handlungsrepertoire <strong>und</strong><br />
seine Determinanten, <strong>de</strong>r Subjektive Handlungsraum, Ziele <strong>und</strong> die<br />
Umwelt. Diese dürfen nicht als isoliert betrachtet wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />
als Teile eines komplexen interagieren<strong>de</strong>n Systems. Zusätzlich zum<br />
Aktiotop selbst weisen auch die vier Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops<br />
Systemcharakter auf, bestehen also aus Subsystemen, die sich<br />
wechselseitig beeinflussen.<br />
Das Handlungsrepertoire <strong>und</strong> seine Determinanten<br />
Der Systemcharakter eines Aktiotops wird bereits in <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n<br />
Definition sichtbar. Das Handlungsrepertoire eines Individuums ist<br />
<strong>de</strong>finiert als das Universum an Handlungsmöglichkeiten einer Per-<br />
son, also alle Handlungen, zu <strong>de</strong>ren Durchführung sie gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
fähig wäre, wenn sie a) diese Handlungsmöglichkeit für sich im<br />
Subjektiven Handlungsraum in Betracht ziehen wür<strong>de</strong>, b) ein ent-<br />
sprechen<strong>de</strong>s Ziel fasste <strong>und</strong> c) die Beschaffenheit <strong>de</strong>r Umwelt ihr<br />
die Handlungsausführung gestattete. Diese Handlungen müssen<br />
also nicht unbedingt gezeigt wer<strong>de</strong>n, so wie wir beispielsweise nicht<br />
alle Multiplikationsaufgaben durchführen müssen, zu <strong>de</strong>nen wir<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich in <strong>de</strong>r Lage wären.<br />
Von hoher Be<strong>de</strong>utung sind die intrapersonellen Determinanten <strong>de</strong>s<br />
Handlungsrepertoires, die in <strong>de</strong>n meisten Begabungsmo<strong>de</strong>llen im<br />
- 42 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
Mittelpunkt stehen. Manche Forscher vermuten, dass diese für<br />
sämtliche Handlungen in allen Talentdomänen die gleichen wären.<br />
Beispielsweise nimmt RENZULLI (1977, 1984) an, dass dies über-<br />
durchschnittliche Intelligenz, Kreativität <strong>und</strong> Aufgabenbindung sei-<br />
en. Im Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll wird jedoch nicht nur ein vorsichtigerer,<br />
son<strong>de</strong>rn auch ein differenzierterer <strong>und</strong> flexiblerer Standpunkt ver-<br />
treten. Eine Anfor<strong>de</strong>rungsanalyse <strong>de</strong>r Handlungen, die eine Person<br />
durchführen können sollte, nach<strong>de</strong>m sie Leistungsexzellenz in einer<br />
Talentdomäne erreicht hat, stellt stets die Basis für die Feststellung<br />
<strong>de</strong>r intrapersonellen Determinanten <strong>de</strong>s Handlungsraums dar. Es<br />
scheint sehr unwahrscheinlich, dass dies in je<strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r Ent-<br />
wicklung von Leistungsexzellenz <strong>und</strong> in je<strong>de</strong>r Talentdomäne die<br />
gleichen sind.<br />
Der Subjektive Handlungsraum<br />
In je<strong>de</strong>m Moment ihres Lebens steht eine Person vor einer unge-<br />
heuren Anzahl an Handlungsmöglichkeiten (HECKHAUSEN 1991).<br />
Das Konstrukt <strong>de</strong>s Subjektiven Handlungsraums charakterisiert da-<br />
bei die Leistung <strong>de</strong>s menschlichen psychischen Systems, diese<br />
Handlungsmöglichkeiten zu repräsentieren (wobei im Aktiotop-Mo-<br />
<strong>de</strong>ll keine Aussage gemacht wird, wie dies tatsächlich geschieht).<br />
Wichtig ist, dass im Subjektiven Handlungsraum erstens effektive<br />
Handlungen repräsentiert sind, die eine Realisierung individueller<br />
Ziele erlauben. Zweitens müssen diese Handlungen realistisch be-<br />
wertet wer<strong>de</strong>n, das heißt, ein Individuum muss abschätzen können,<br />
ob diese Handlungen zielführend sind <strong>und</strong> es zur Handlungsdurch-<br />
führung in <strong>de</strong>r Lage ist. Schließlich wer<strong>de</strong>n drittens im Subjektiven<br />
Handlungsraum Handlungen koordiniert <strong>und</strong> gesteuert.<br />
- 43 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Ziele<br />
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
Ziele erfüllen vier wichtige Funktionen. Sie bestimmen die Auswahl<br />
einer Handlungsalternative mit, sie haben eine energetisieren<strong>de</strong><br />
Funktion für Handlungen, sie geben die Richtung <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns vor<br />
<strong>und</strong> schließlich dienen sie auch während <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns als Orientie-<br />
rung für Regulationen.<br />
Umwelt<br />
Im Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll sind zwei Arten von Umwelten beson<strong>de</strong>rs be-<br />
<strong>de</strong>utsam. Erstens ist dies die Talentdomäne, also <strong>de</strong>rjenige Um-<br />
weltausschnitt, in <strong>de</strong>m eine Person möglicherweise einmal Leis-<br />
tungsexzellenz erreichen wird. Zweitens sind es Ausschnitte <strong>de</strong>r<br />
Umwelt, die Systemcharakter aufweisen <strong>und</strong> in <strong>de</strong>nen Handlungen<br />
von Personen sinnvoll aufeinan<strong>de</strong>r bezogen sind. Dies kann bei-<br />
spielsweise die Familie sein, aber auch Settings wie eine Sporthalle,<br />
die <strong>de</strong>m Handlungsziel <strong>de</strong>r Verbesserung eigener sportlicher Kom-<br />
petenzen dienen kann.<br />
2) Das Aktiotop als System<br />
Die Komponenten eines Aktiotops interagieren in vielfältiger Art<br />
<strong>und</strong> Weise miteinan<strong>de</strong>r. Tatsächlich wird im Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r<br />
<strong>Hochbegabung</strong> <strong>de</strong>r Prozess <strong>de</strong>r Entwicklung von Leistungsexzellenz<br />
nicht als die isolierte Entwicklung einer Kompetenz betrachtet, son-<br />
<strong>de</strong>rn vielmehr als eine Adaptation eines komplexen Systems, bei<br />
<strong>de</strong>m sich das Handlungsrepertoire <strong>und</strong> seine Determinanten, <strong>de</strong>r<br />
Subjektive Handlungsraum, die Ziele sowie auch die Umwelt glei-<br />
chermaßen verän<strong>de</strong>rn. Damit dies möglich ist, muss das Aktiotop<br />
erstens genug Flexibilität zur Verän<strong>de</strong>rung aufweisen. Zum Beispiel<br />
muss ein Schachspieler, <strong>de</strong>r einmal Leistungsexzellenz erreichen<br />
möchte, ständig sein Handlungsrepertoire weiter entwickeln. Seine<br />
Lernziele müssen daher permanent korrigiert wer<strong>de</strong>n, so dass sie<br />
- 44 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
stets etwas über seinem momentanen Leistungsniveau liegen. Die<br />
nächsten Lernhandlungen, die zu diesem Ziel führen, müssen in<br />
seinem Subjektiven Handlungsraum repräsentiert wer<strong>de</strong>n. Die Um-<br />
welt muss ebenfalls diesen Prozess unterstützen. Eltern nehmen<br />
sich beispielsweise viel Zeit, um ihr Kind zu Schachturnieren zu<br />
fahren, es muss möglicherweise ein niveauvollerer Schachverein<br />
am Ort aufgesucht wer<strong>de</strong>n, es wer<strong>de</strong>n immer anspruchsvollere<br />
Computerschachprogramme <strong>und</strong> Schachliteratur gekauft etc. Damit<br />
diese Modifikationen <strong>und</strong> Transformationen <strong>de</strong>s Aktiotops erfolg-<br />
reich sein können, muss das Aktiotop zweitens aber auch noch ge-<br />
nügend Stabilität behalten. Eltern, die sich beispielsweise überfor-<br />
<strong>de</strong>rt sehen, ihr Kind in seiner Leistungsentwicklung zu unterstüt-<br />
zen, sich in ihrem Selbstwert bedroht sehen<strong>de</strong> Lehrer o<strong>de</strong>r eifer-<br />
süchtige Gleichaltrige sind Beispiele dafür, wie die Stabilität eines<br />
Aktiotops bedroht wer<strong>de</strong>n kann <strong>und</strong> wie wichtige Co-Adaptationen<br />
von Systemen, mit <strong>de</strong>nen das Aktiotop interagiert, nicht erfolgen.<br />
3) Progressive Anpassungen <strong>de</strong>s Aktiotops<br />
Das Aktiotop eines Individuums muss über enorme Zeiträume wei-<br />
terentwickelt wer<strong>de</strong>n (ERICSSON, KRAMPE & TESCH-RÖMER 1993),<br />
soll einmal Leistungsexzellenz erreicht wer<strong>de</strong>n. Eine progressive<br />
Anpassung setzt die Erfüllung von fünf Punkten voraus (ZIEGLER<br />
2005). Erstens muss das Individuum erkennen, ob eine Handlung<br />
bei <strong>de</strong>r Erweiterung <strong>de</strong>s Aktiotops erfolgreich war. Dies ist keines-<br />
wegs eine triviale Aufgabe, wie das Beispiel eines jungen Geigers<br />
lehrt, <strong>de</strong>r nicht erkennt, wann er unsauber spielt. Zweitens müssen<br />
Situationen erkannt wer<strong>de</strong>n können, in <strong>de</strong>nen die Ausführung die-<br />
ser Handlung Erfolg verspricht. Hiermit ist das Problem <strong>de</strong>s trägen<br />
Wissens angesprochen, das heißt, einer Person muss es gelingen,<br />
neben <strong>de</strong>klarativem Wissen (Faktenwissen) <strong>und</strong> prozeduralem Wis-<br />
sen (Wissen, wie gehan<strong>de</strong>lt wird) auch konditionales Wissen aufzu-<br />
- 45 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
bauen (MANDL & GERSTENMAIER 2000). Beispielsweise muss sie<br />
nicht nur wissen, welche Lernstrategien es gibt <strong>und</strong> wie man diese<br />
anwen<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn auch in welchen Situationen es sinnvoll ist, eine<br />
bestimmte Lernstrategie anzuwen<strong>de</strong>n. Drittens müssen Individuen<br />
in ihrem Subjektiven Handlungsraum Handlungsvarianten generie-<br />
ren können <strong>und</strong> gezielt im Handlungsrepertoire auswählen. Diese<br />
Fähigkeit ist in verschie<strong>de</strong>ner Hinsicht notwendig, beispielsweise<br />
weil Handlungsvarianten gegeneinan<strong>de</strong>r konkurrieren können. Vier-<br />
tens muss das Aktiotop, um adaptiv zu bleiben, nicht nur reaktiv,<br />
son<strong>de</strong>rn auch antizipativ sein. Waren die Handlungen in bisherigen<br />
Umwelten erfolgreich, garantiert dies nicht, dass sie es auch in zu-<br />
künftigen Umwelten sind. Fünftens bedürfen Individuen in ihrer Ta-<br />
lentdomäne effektiven Feedbacks, so dass erfolgreiche Adaptionen<br />
möglich sind. Hier spielt beispielsweise ein adäquates Feedback von<br />
kompetenten Personen (Eltern, Lehrern, Trainern etc.) eine wichti-<br />
ge Rolle.<br />
ENTER auf Basis <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls <strong>de</strong>r Hochbega-<br />
bung<br />
Bevor ENTER <strong>und</strong> das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> aufeinan-<br />
<strong>de</strong>r bezogen wer<strong>de</strong>n, ist eine kurze Vorbemerkung notwendig.<br />
Oben wur<strong>de</strong>n drei Rahmenbedingungen von ENTER besprochen:<br />
das theoretische Mo<strong>de</strong>ll, die Ressourcen <strong>und</strong> das Ziel <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifika-<br />
tion. In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Ausführungen ist die Theorie mit <strong>de</strong>m Aktio-<br />
top-Mo<strong>de</strong>ll festgelegt, für die Ressourcen wollen wir <strong>de</strong>r Einfachheit<br />
annehmen, dass sie in ausreichen<strong>de</strong>m Maße zur Verfügung stehen.<br />
Das Ziel <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation wird im Folgen<strong>de</strong>n jedoch variabel belas-<br />
sen. Je nach seiner Konkretisierung wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation an-<br />
<strong>de</strong>re inhaltliche Schwerpunkte gesetzt wer<strong>de</strong>n. Vergleicht man bei-<br />
spielsweise die Ergebnisse einer Anfor<strong>de</strong>rungsanalyse von exzellen-<br />
ten Handlungen in <strong>de</strong>r Mathematik, im Sport o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Musik, erhält<br />
- 46 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
man sehr unterschiedliche Ergebnisse. Da dies am gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
vorgeschlagenen Vorgehen in ENTER jedoch nichts än<strong>de</strong>rt, wer<strong>de</strong>n<br />
diese Aspekte vernachlässigt. Zur Veranschaulichung <strong>de</strong>r Ausfüh-<br />
rungen erfolgt gelegentlich ein Bezug zum diagnostischen Vorgehen<br />
an <strong>de</strong>r LBFH (Lan<strong>de</strong>sweite Beratungs- <strong>und</strong> Forschungsstelle für<br />
Hochbegabte) an <strong>de</strong>r Universität Ulm (vgl. auch GRASSINGER in<br />
dieser Ausgabe).<br />
1) Explore<br />
Ziel von Explore ist es, Informationen über das Individuum <strong>und</strong> sei-<br />
ne systemische Einbettung zu erhalten. Im Aktiotop-Mo<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r<br />
<strong>Hochbegabung</strong> lässt sich dieses Anliegen dahingehend konkretisie-<br />
ren, dass ein Überblick über folgen<strong>de</strong> Bereiche erworben wer<strong>de</strong>n<br />
sollte:<br />
● die Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops (Handlungsrepertoire, Sub-<br />
jektiver Handlungsraum, Ziele <strong>und</strong> Umwelt),<br />
● die Systemeigenschaften <strong>de</strong>s Aktiotops, insbeson<strong>de</strong>re seine<br />
Flexibilität <strong>und</strong> Stabilität,<br />
● die bisherige Entwicklung <strong>de</strong>s Aktiotops <strong>und</strong> seine Fähigkeit<br />
zu weiteren Anpassungen.<br />
Zur Erfassung dieser Vielfalt an Information ist eine Kombination<br />
verschie<strong>de</strong>ner Quellen notwendig. Hierzu sind erstens Quellen in-<br />
teressant, die – in <strong>de</strong>r Terminologie von CATTELL (1973) – L-data<br />
liefern, d.h. Aufschluss über das Han<strong>de</strong>ln <strong>und</strong> die Handlungsmög-<br />
lichkeiten eines Individuums in seinem tatsächlichen Lebensumfeld<br />
<strong>und</strong> in realen Situationen geben. Da jedoch eine komplette Erfas-<br />
sung aller L-data nichts an<strong>de</strong>res als eine vollständige Biografie ei-<br />
nes Individuums samt seiner systemischen Bezüge zur Umwelt be-<br />
<strong>de</strong>utet, muss eine Auswahl getroffen wer<strong>de</strong>n.<br />
- 47 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
Von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ist es, einen Einblick in das Hand-<br />
lungsrepertoire <strong>de</strong>s Proban<strong>de</strong>n zu erhalten. Dazu wer<strong>de</strong>n im Be-<br />
reich aka<strong>de</strong>mischer Leistungsexzellenz an <strong>de</strong>r LBFH min<strong>de</strong>stens fol-<br />
gen<strong>de</strong> Quellen kombiniert: Die Eltern wer<strong>de</strong>n gebeten, einen typi-<br />
schen Wochenplan <strong>de</strong>s Proban<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>r Ferienzeit <strong>und</strong> wäh-<br />
rend <strong>de</strong>r Schulzeit auszufüllen. Ferner erhalten sie eine Ansprech-<br />
person im aka<strong>de</strong>mischen Bereich (zumeist <strong>de</strong>r Klassenlehrer) sowie<br />
einen speziell entwickelten Fragebogen mit <strong>de</strong>r Bitte zugesandt,<br />
diesen ausgefüllt vor <strong>de</strong>m ersten Gespräch an die Beratungsstelle<br />
zu schicken. Auf <strong>de</strong>r Basis dieser Informationen wird die Diagnostik<br />
geplant. Es folgen zumin<strong>de</strong>st semi-strukturierte Interviews mit ei-<br />
nem Elternteil <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Proban<strong>de</strong>n, wofür spezielle Check-Listen<br />
verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Diese wer<strong>de</strong>n genutzt, um die Komponenten<br />
<strong>de</strong>s Aktiotops, seine Systemeigenschaften <strong>und</strong> seine Adaptivität zu<br />
erfassen. Dabei wird ein zweistufiges Verfahren gewählt, wobei zu-<br />
erst allgemeine, das Aktiotop betreffen<strong>de</strong>, Informationen erfragt<br />
wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> anschließend die Diagnose auf <strong>de</strong>r Narrow-Stufe spezi-<br />
ell auf die Talentdomäne zugeschnitten wird.<br />
Neben L-Daten wer<strong>de</strong>n beim Kind auch sogenannte Q-Daten <strong>und</strong> T-<br />
Daten erfasst (CATELL 1973). Q-Daten basieren vor allem auf Ska-<br />
len sowie Fragebögen <strong>und</strong> erfassen das Handlungsrepertoire, <strong>de</strong>n<br />
Subjektiven Handlungsraum <strong>und</strong> die Ziele <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Bezüglich<br />
<strong>de</strong>r Ziele wer<strong>de</strong>n etwa das Aspirationsniveau o<strong>de</strong>r die motivationale<br />
Orientierung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s erfasst (ZIEGLER, DRESEL & STÖGER<br />
2008). Bezüglich <strong>de</strong>s Subjektiven Handlungsraumes sind beispiels-<br />
weise das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Hilflosigkeitserle-<br />
ben o<strong>de</strong>r Selbstregulationskompetenzen von Interesse.<br />
T-Daten sind Ergebnisse standardisierter Tests <strong>und</strong> richten sich<br />
hauptsächlich auf das Handlungsrepertoire <strong>und</strong> seine Determinan-<br />
ten. Zur Feststellung <strong>de</strong>r Güte <strong>de</strong>s momentanen Handlungsreper-<br />
toires im aka<strong>de</strong>mischen Bereich wer<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r LBFH beispielsweise<br />
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I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
ein nonverbaler Intelligenztest <strong>und</strong> ein differentieller kognitiver Fä-<br />
higkeitstest durchgeführt. Letzterer gibt auch Hinweise, in welchem<br />
Bereich auf <strong>de</strong>r Narrow-Stufe möglicherweise genauer nachgefasst<br />
wer<strong>de</strong>n muss. Beispielsweise könnte sich ein spezieller Test zu ma-<br />
thematischen Fähigkeiten anschließen. Ferner wer<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ne<br />
an<strong>de</strong>re Aspekte gestestet, unter an<strong>de</strong>rem die Häufigkeit <strong>und</strong> Güte<br />
<strong>de</strong>r Verwendung von Lernstrategien.<br />
2) Narrow<br />
Der Übergang zu Narrow kann stattfin<strong>de</strong>n, wenn genügend allge-<br />
meine Informationen vorliegen, um <strong>de</strong>n Zustand eines Aktiotops<br />
einschätzen zu können. Das weitere diagnostische Vorgehen ist<br />
dann abhängig von <strong>de</strong>r spezifischen Fragestellung <strong>de</strong>r Diagnose.<br />
Die erste Möglichkeit ist, dass ein konkretes I<strong>de</strong>ntifikationsziel vor-<br />
gegeben wur<strong>de</strong>, wie beispielsweise ob ein Kind geeignet ist, an ei-<br />
nem speziellen Talentför<strong>de</strong>rprogramm teilzunehmen o<strong>de</strong>r ob das<br />
Überspringen einer Klasse eine geeignete För<strong>de</strong>rung darstellt. Das<br />
I<strong>de</strong>ntifikationsziel kann allerdings auch recht unspezifisch <strong>und</strong> eher<br />
explorativer Natur sein, wie die Frage, ob ein Kind, das sich in <strong>de</strong>r<br />
Schule durch schnelle Lernfortschritte o<strong>de</strong>r außergewöhnliche Leis-<br />
tungen hervorgetan hat, in einem (o<strong>de</strong>r auch mehreren Gebieten)<br />
Leistungsexzellenz erreichen kann. Ziel von Narrow ist es dann,<br />
ganz gezielt – entwe<strong>de</strong>r im Hinblick auf das konkrete I<strong>de</strong>ntifikati-<br />
onsziel <strong>und</strong> / o<strong>de</strong>r die vermutete Talentdomäne – Informationen zu<br />
<strong>de</strong>n bereits oben genannten drei Bereichen zu sammeln, also zu<br />
<strong>de</strong>n Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops, zur Flexibilität <strong>und</strong> Stabilität <strong>de</strong>s<br />
Aktiotops sowie zu <strong>de</strong>n progressiven Adaptationsmöglichkeiten in<br />
dieser Talentdomäne.<br />
Die Vorstellung von ENTER als Sequenz von Schritten legt zwar ein<br />
hierarchisches Vorgehen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation nahe, bei <strong>de</strong>m von einer<br />
allgemeinen Betrachtung <strong>de</strong>s Aktiotops zu einer spezifischen Be-<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
trachtung übergegangen wird. Dies muss jedoch nicht notwendiger-<br />
weise <strong>de</strong>r Fall sein. Insbeson<strong>de</strong>re pragmatische Grün<strong>de</strong> sprechen<br />
auch für die Möglichkeit eines heterarchischen Vorgehens, das heißt<br />
<strong>de</strong>r Diagnostiker hat die Flexibilität, beispielsweise in einem Inter-<br />
view sofort ein Thema auszugrenzen <strong>und</strong> einzuengen, wenn ihm<br />
dies geboten erscheint. Dies ist sogar manchmal notwendig, wenn<br />
eine Person etwa nur ein einziges Mal interviewt wer<strong>de</strong>n kann <strong>und</strong><br />
ansonsten keine spezifischen Informationen mehr erhoben wer<strong>de</strong>n<br />
könnten. Ebenso wie in Explore wer<strong>de</strong>n auch in Narrow wie<strong>de</strong>r L-,<br />
Q-, <strong>und</strong> T-Daten erhoben (CATTELL 1973), <strong>de</strong>ren Spezifitätsgrad<br />
jedoch im Hinblick auf das I<strong>de</strong>ntifikationsziel beziehungsweise die<br />
Talentdomäne eingeengt wird. Allerdings liegen für viele Talentdo-<br />
mänen keine geeigneten Messinstrumente vor, insbeson<strong>de</strong>re keine<br />
standardisierten Tests. Hier wer<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r LBFH zur Abschätzung<br />
<strong>de</strong>r Lernpotenzen häufig Urteile von Experten <strong>de</strong>r Domäne einbezo-<br />
gen.<br />
3) Transform<br />
Der I<strong>de</strong>ntifikationsprozess ist in <strong>de</strong>r Praxis oft auf eine Selektion<br />
Begabter verkürzt. Die bei Explore <strong>und</strong> Narrow gesammelten Infor-<br />
mationen wer<strong>de</strong>n daher oftmals bereits als ausreichend angesehen,<br />
da sie für eine rein statusorientierte Diagnostik umfangreich genug<br />
sind. Tatsächlich rührt diese Auffassung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation haupt-<br />
sächlich von einer Orientierung an Persönlichkeitseigenschaften,<br />
d.h. Begabungen wer<strong>de</strong>n als Attribute einer Person angesehen, die<br />
man nur erkennen müsse, um das Individuum korrekt platzieren zu<br />
können, beispielsweise in ein Talentför<strong>de</strong>rprogramm. Dieser Ge-<br />
danke ist jedoch mit einer dynamischen Sichtweise, wie sie im Ak-<br />
tiotop-Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> vertreten wird, nicht vereinbar.<br />
Nach Abschluss von Narrow steht lediglich fest, dass das Ziel <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>ntifikation (beispielsweise das Überspringen einer Klasse o<strong>de</strong>r<br />
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I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
Leistungsexzellenz in einer Talentdomäne) durch das Individuum<br />
erreicht wer<strong>de</strong>n kann, jedoch keinesfalls erreicht wer<strong>de</strong>n muss. Das<br />
Wie ist an dieser Stelle noch völlig ungeklärt. Daher muss zusätz-<br />
lich ein Lernweg i<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r dazu beiträgt, das aktuell<br />
vorliegen<strong>de</strong> Aktiotop in ein leistungsexzellentes Aktiotop zu trans-<br />
formieren. Dies kann dazu führen, dass <strong>de</strong>r Diagnostiker gehalten<br />
ist, konstruktiv Vorschläge zu diesem Lernweg zu unterbreiten, weil<br />
das Kind o<strong>de</strong>r die für sein Lernen verantwortlichen Personen diesen<br />
Lernweg nicht erkennen.<br />
Der erste Schritt in Transform besteht in <strong>de</strong>r Erstellung einer Anfor-<br />
<strong>de</strong>rungsanalyse <strong>de</strong>r Handlungen, zu <strong>de</strong>ren Ausführung das Kind<br />
einmal in <strong>de</strong>r Lage sein soll. Bil<strong>de</strong>t beispielsweise das mögliche<br />
Überspringen einer Klasse die Fragestellung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation,<br />
dann sind in Transform die Handlungsanfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Klasse, in<br />
die gesprungen wird, herauszufin<strong>de</strong>n, konkret also etwa die kom-<br />
petente Durchführung bestimmter mathematischer Operationen.<br />
Bei <strong>de</strong>r Anfor<strong>de</strong>rungsanalyse <strong>und</strong> <strong>de</strong>r damit einhergehen<strong>de</strong>n Be-<br />
schreibung <strong>de</strong>r anvisierten Handlungen müssen drei Eigenschaften<br />
von Handlungen beachtet wer<strong>de</strong>n. Sie haben erstens eine Phasen-<br />
struktur, d.h. sie bestehen aus einer Sequenz von Teilhandlungen.<br />
Die gleiche Handlung kann also entwe<strong>de</strong>r weit o<strong>de</strong>r eng beschrie-<br />
ben wer<strong>de</strong>n. Dazu ein Beispiel: Möglicherweise mag man sich zu-<br />
frie<strong>de</strong>n geben mit <strong>de</strong>r Beschreibung „Muss zur Durchführung <strong>de</strong>r im<br />
Curriculum <strong>de</strong>r 8. Klasse beschriebenen mathematischen Operatio-<br />
nen in <strong>de</strong>r Lage sein“. Es kann sich jedoch auch eine schärfere Auf-<br />
lösung <strong>de</strong>r Phasenstruktur in <strong>de</strong>r Anfor<strong>de</strong>rungsanalyse als notwen-<br />
dig erweisen, wie „Muss zur Durchführung <strong>de</strong>r im Curriculum <strong>de</strong>r 8.<br />
Klasse beschriebenen algebraischen <strong>und</strong> geometrischen Operatio-<br />
nen in <strong>de</strong>r Lage sein“. Dies kann dann wichtig sein, wenn sich bei<br />
Narrow Hinweise fan<strong>de</strong>n auf eine weniger stark ausgeprägte Stärke<br />
- 51 -<br />
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I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
im räumlichen Denken <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Geometriestoff <strong>de</strong>r 8. Klasse eben<br />
räumliches Denken verlangt.<br />
Weiter ist zu be<strong>de</strong>nken, dass Handlungen eigentlich stets Parallel-<br />
bzw. Mehrfachhandlungen sind. Ein einfaches Beispiel ist die Tätig-<br />
keit „eine Mathematikaufgabe lösen“, was oft als eine einzige<br />
Handlung beschrieben wird. Tatsächlich wer<strong>de</strong>n beim Lösen von<br />
Mathematikaufgaben aber mehrere Handlungen parallel ausgeführt.<br />
So könnte ein prüfungsängstliches Kind während <strong>de</strong>r Bearbeitung<br />
<strong>de</strong>r Mathematikaufgabe gleichzeitig besorgt sein wegen möglicher<br />
negativer Konsequenzen, falls es versagt, <strong>und</strong> parallel sich Strate-<br />
gien aus<strong>de</strong>nken, wie es damit umgehen wird (STÖGER & ZIEGLER<br />
2005). Verlangt die Lösung <strong>de</strong>r Mathematikaufgaben, dass sie kor-<br />
rekt zu Papier gebracht wer<strong>de</strong>n, können eine Schreibschwäche<br />
(SOVIK 1993) o<strong>de</strong>r eine Schwäche in <strong>de</strong>r Motorik (STÖGER, ZIEG-<br />
LER & MARTZOG 2008; ZIEGLER, STÖGER & MARTZOG 2008) zu<br />
Leistungsbeeinträchtigungen führen. Dies leitet zum dritten Aspekt<br />
von Handlungen über: sie verlangen Regulationen auf verschie<strong>de</strong>-<br />
nen Ebenen. Es sollte daher auch überprüft wer<strong>de</strong>n, welche Regula-<br />
tionsleistungen notwendig sind <strong>und</strong> inwieweit diese vom Kind er-<br />
bracht wer<strong>de</strong>n können.<br />
Die Beantwortung <strong>de</strong>r Frage, ob es einen Lernpfad gibt, verlangt<br />
eine Abschätzung, ob das Aktiotop zu einer komplexen Adaptation<br />
in <strong>de</strong>r Lage ist, so dass die in <strong>de</strong>r Anfor<strong>de</strong>rungsanalyse spezifizier-<br />
ten Handlungen durchgeführt wer<strong>de</strong>n können. Dazu müssen vor<br />
<strong>de</strong>m Hintergr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> vor allem<br />
auch Informationen zu folgen<strong>de</strong>n fünf Bereichen gesammelt wer-<br />
<strong>de</strong>n, wobei stets auch eine Überprüfung notwendig ist, ob die ge-<br />
nannten Funktionen gegebenenfalls nach geeigneten Interventio-<br />
nen erfüllt wer<strong>de</strong>n können:<br />
(1) Verfügt das Kind über einen bzw. gegebenenfalls über<br />
mehrere Maßstäbe, um effiziente <strong>und</strong> ineffiziente Handlungen<br />
- 52 -<br />
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I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
i<strong>de</strong>ntifizieren zu können? Das Beispiel <strong>de</strong>s Geigers, <strong>de</strong>r ein<br />
Gehör dafür entwickeln muss, wann er unsauber spielt, wur-<br />
<strong>de</strong> in diesem Zusammenhang schon erwähnt. Verfügt das<br />
Kind nicht über einen solchen Maßstab, muss überprüft wer-<br />
<strong>de</strong>n, ob gegebenenfalls professionelles Feedback bereitge-<br />
stellt wer<strong>de</strong>n kann. Steht die Frage an, ob ein Kind eine Klas-<br />
se überspringen kann, muss also beispielsweise sichergestellt<br />
wer<strong>de</strong>n, dass es erkennt, wann es die einzelnen Stofflücken<br />
geschlossen hat o<strong>de</strong>r ob ein gründlicheres Lernen notwendig<br />
wäre.<br />
(2) Gelingt <strong>de</strong>m Kind die I<strong>de</strong>ntifikation von Situationen zur<br />
Durchführung effizienter (Lern)Handlungen? Falls dies nicht<br />
<strong>de</strong>r Fall sein sollte, muss die Gelegenheit bereitgestellt wer-<br />
<strong>de</strong>n, konditionales Wissen zu erwerben. Vorschläge hierzu<br />
wur<strong>de</strong>n im Rahmen <strong>de</strong>r Kognitiven Meisterlehre (GRUBER,<br />
LAW, MANDL & RENKL 1995) entwickelt.<br />
(3) Ist das Kind fähig zur Generierung von Handlungsvari-<br />
anten? Eine Abschätzung <strong>de</strong>s Lernweges setzt voraus, dass<br />
das Kind sein Wissen in möglichst diversen Situationen ein-<br />
setzen kann. Sollte dies fraglich sein, könnten Hilfestellungen<br />
angeboten wer<strong>de</strong>n, wie sie beispielsweise von Vertretern <strong>de</strong>r<br />
Kognitiven Meisterlehre (GRUBER ET AL. 1995) entwickelt<br />
wur<strong>de</strong>n.<br />
(4) Eine wichtige Frage bezieht sich auf <strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>s an-<br />
tizipativen Aktiotops, d.h. ob das Kind zu möglicherweise grö-<br />
ßeren Anpassungsleistungen seines Aktiotops genügend vor-<br />
bereitet ist. Diese können sehr vielfältig sein <strong>und</strong> erstrecken<br />
sich beispielsweise auf seine Fähigkeit, sich in eine neue<br />
Schulklasse nach <strong>de</strong>m Überspringen einzuglie<strong>de</strong>rn. Ein an<strong>de</strong>-<br />
res Problem kann beispielsweise sein, dass es nach <strong>de</strong>m<br />
Überspringen auf einem an<strong>de</strong>ren konzeptuellen Level <strong>de</strong>nken<br />
- 53 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
muss, wenn beispielsweise in <strong>de</strong>r Algebra nicht mehr wie in<br />
<strong>de</strong>r Arithmetik mit konkreten Zahlen, son<strong>de</strong>rn mit Unbekann-<br />
ten gerechnet wird. Der Diagnostiker hat also die auf <strong>de</strong>m<br />
Lernweg zu erbringen<strong>de</strong>n Anpassungsleistungen zu i<strong>de</strong>ntifi-<br />
zieren <strong>und</strong> muss abschätzen, ob sie bereits bewältigt wer<strong>de</strong>n<br />
können o<strong>de</strong>r zusätzliche Hilfestellungen notwendig sind. Auf<br />
das Beispiel <strong>de</strong>r Einglie<strong>de</strong>rung in die neue Schulklasse bezo-<br />
gen, könnte diese etwa in <strong>de</strong>r Vermittlung sozialer Kompe-<br />
tenzen bestehen.<br />
(5) Schließlich ist wichtig herauszufin<strong>de</strong>n, ob auf <strong>de</strong>m Lern-<br />
weg effektives Feedback zur Verfügung steht. Feedback kann<br />
dabei vielfältige Facetten umfassen. Neben fachlichem Feed-<br />
back, zyklischen Lernschleifen <strong>und</strong> Hilfestellungen bei <strong>de</strong>n<br />
nächsten Lernhandlungen, die durchzuführen sind <strong>und</strong> die ein<br />
Kind möglicherweise gar nicht kennt, kann das auch motiva-<br />
tionales Feedback sein, wenn beispielsweise ein hohes Maß<br />
an Motivation für das Durchhalten auf <strong>de</strong>m Lernweg erfor<strong>de</strong>r-<br />
lich ist <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Diagnostiker nicht sicher ist, ob das Kind die<br />
Motivation aufbringen kann. Gleichermaßen sind jedoch moti-<br />
vationale Feedbackschleifen auch zur Vermeidung dysfunktio-<br />
naler Übermotivation notwendig, da dies die Stabilität <strong>de</strong>s<br />
Aktiotops stark gefähr<strong>de</strong>n könnte. Diese Überlegung verweist<br />
bereits auch auf eine weitere Abschätzung, die auf Transform<br />
notwendig ist, nämlich ob das Aktiotop die notwendige Stabi-<br />
lität besitzt, um diese komplexen Modifikationen durchzuste-<br />
hen.<br />
Von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung bei <strong>de</strong>r Erarbeitung <strong>de</strong>s Lernpfa<strong>de</strong>s ist<br />
<strong>de</strong>r Aspekt <strong>de</strong>r Co-Adaptation <strong>de</strong>r Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops. Die-<br />
ser wird in mehreren Phasen mit <strong>de</strong>n Proban<strong>de</strong>n <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Eltern re-<br />
flektiert, wobei unser Vorgehen an Ansätzen systemischer Beratung<br />
angelehnt ist (vgl. GRASSINGER 2009; ZIEGLER & STÖGER 2007).<br />
- 54 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
Beispielsweise muss gesichert wer<strong>de</strong>n, dass ein sich entwickeln<strong>de</strong>s<br />
Handlungsrepertoire auch im Subjektiven Handlungsraum abgebil-<br />
<strong>de</strong>t wird <strong>und</strong> entsprechend anspruchsvollere Ziele ausgebil<strong>de</strong>t wer-<br />
<strong>de</strong>n. Ferner ist vorab zu planen, dass stets auch die Umwelt zuneh-<br />
mend anspruchsvollere Lerngelegenheiten bietet. Bei je<strong>de</strong>m weite-<br />
ren Lernschritt geht es also auch darum sicherzustellen, dass das<br />
Aktiotop je<strong>de</strong>rzeit genügend Stabilität behält; <strong>de</strong>nn je<strong>de</strong>r Lern-<br />
schritt be<strong>de</strong>utet erst einmal einen Schritt weg von einem Äquilibri-<br />
um. Gleichermaßen wird gemeinsam erarbeitet, wie die fünf adapti-<br />
ven Funktionen erfüllt wer<strong>de</strong>n können.<br />
Betrachtet man die ersten drei diagnostischen Schritte (Explore,<br />
Narrow <strong>und</strong> Transform) im Zusammenhang, so sind folgen<strong>de</strong> Spezi-<br />
fika bei <strong>de</strong>r Adaption von ENTER an das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Hoch-<br />
begabung herauszustreichen: Die Diagnostik gilt auf je<strong>de</strong>r Stufe<br />
von ENTER einer spezifischen Fragestellung, <strong>de</strong>m Aktiotop allge-<br />
mein bei Explore, <strong>de</strong>m Aktiotop in <strong>de</strong>r Talentdomäne bzw. <strong>de</strong>m ver-<br />
einbarten Ziel <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation bei Narrow <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Lernpfad bei<br />
Transform. Dabei müssen jeweils Betrachtungen auf drei Ebenen<br />
angestellt wer<strong>de</strong>n: <strong>de</strong>n Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops (Handlungsre-<br />
pertoire, Subjektiver Handlungsraum, Ziele <strong>und</strong> Umwelt), <strong>de</strong>r Sys-<br />
temebene (insbeson<strong>de</strong>re Flexibilität <strong>und</strong> Stabilität, d.h. sind Ko-Ad-<br />
aptationen möglich) <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Ebene einer möglichen effektiven Ad-<br />
aptation <strong>de</strong>s Aktiotops (I<strong>de</strong>ntifikation korrekter Handlungen <strong>und</strong> Si-<br />
tuationen, Handlungsvariationen, antizipatives Aktiotop, Feedback).<br />
4) Evaluate <strong>und</strong> Review<br />
In <strong>de</strong>r Praxis wird die I<strong>de</strong>ntifikation häufig bereits been<strong>de</strong>t, nach-<br />
<strong>de</strong>m eine Person als begabt o<strong>de</strong>r talentiert klassifiziert wur<strong>de</strong>, sel-<br />
tener, wenn auch ein Lernpfad i<strong>de</strong>ntifiziert wur<strong>de</strong>. ENTER zeichnet<br />
sich jedoch dadurch aus, dass in gewisser Weise auch <strong>de</strong>r Diagno-<br />
seprozess selbst mit in die I<strong>de</strong>ntifikation einbezogen wird. Zusätz-<br />
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I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
lich zu <strong>de</strong>n oben angegebenen Grün<strong>de</strong>n, lassen sich aus Sicht <strong>de</strong>s<br />
Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> zwei weitere Argumente hinzu-<br />
fügen, warum diese Ausweitung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation sinnvoll ist:<br />
Im Prozess <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation wer<strong>de</strong>n Diagnostiker selbst zu einem<br />
Teil <strong>de</strong>s Aktiotops <strong>de</strong>r Person, die sie diagnostizieren. Alleine die<br />
Weitergabe <strong>de</strong>s Ergebnisses <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation an <strong>de</strong>n Proban<strong>de</strong>n<br />
wird bereits <strong>de</strong>ssen Aktiotop verän<strong>de</strong>rn. Schlägt <strong>de</strong>r Diagnostiker<br />
einen Lernpfad vor, beeinflusst er die Entwicklung zu Leistungsex-<br />
zellenz massiv. Das heißt, ab <strong>de</strong>m Augenblick, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Diagnos-<br />
tiker die I<strong>de</strong>ntifikation beginnt, spielt er eine Rolle in <strong>de</strong>r Entwick-<br />
lung von Aktiotopen, weshalb er sich selbst nicht ausblen<strong>de</strong>n kann.<br />
Neben <strong>de</strong>r Einwirkung auf die Aktiotope <strong>de</strong>s Proban<strong>de</strong>n <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />
Personen in seinem Umfeld gibt es einen weiteren wichtigen Gr<strong>und</strong><br />
für die Aufnahme von Evaluate <strong>und</strong> Review in ENTER. Der Diagnos-<br />
tiker ist selbst ein Teil eines komplexen adaptiven Systems, das<br />
sich in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit seiner Umwelt weiter entwi-<br />
ckeln muss. Auch er lernt, seine Diagnosen zu verbessern, sei es<br />
aus <strong>de</strong>r Beobachtung <strong>de</strong>r Wirkungen seiner Diagnosen o<strong>de</strong>r durch<br />
eigene Überlegungen, sei es durch nützliche neue Informationen<br />
von Kollegen o<strong>de</strong>r neue Erkenntnisse, die ihm die Forschung bereit<br />
stellt. Die oben vorgestellten Kennzeichen <strong>de</strong>r Entwicklung sich er-<br />
folgreich adaptieren<strong>de</strong>r Systeme lassen sich daher auch auf <strong>de</strong>n<br />
Diagnostiker selbst anwen<strong>de</strong>n. Evaluate bietet ihm ein Feedback,<br />
ob <strong>de</strong>r von ihm i<strong>de</strong>ntifizierte Lernpfad erfolgreich war, Review gibt<br />
ihm eine Rückmeldung, ob seine Metho<strong>de</strong>n <strong>und</strong> theoretischen Mo-<br />
<strong>de</strong>lle korrekt sind. Diese Information hilft ihm, sein Aktiotop in<br />
Richtung diagnostischer Exzellenz weiter entwickeln zu können.<br />
Die Aufgabe <strong>de</strong>r Evaluate-Stufe besteht darin herauszufin<strong>de</strong>n, ob<br />
<strong>und</strong> wie gut die I<strong>de</strong>ntifikationsziele für einen Proban<strong>de</strong>n erfüllt wur-<br />
<strong>de</strong>n. Um dies zu gewährleisten, müssen geeignete Erfolgskriterien<br />
festgelegt wer<strong>de</strong>n. Diese Kriterien können vielfältiger Art sein, un-<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
ter an<strong>de</strong>rem zählen hierzu Schulnoten, aka<strong>de</strong>mische Titel, außerge-<br />
wöhnliche Leistungen o<strong>de</strong>r Werke, Publikationen o<strong>de</strong>r Preise. Im<br />
Fokus steht jedoch nicht nur das Erreichen salienter Etappenziele<br />
(beispielsweise ob die Zensuren in <strong>de</strong>r Klasse, in die das Kind auf-<br />
gr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Empfehlung gesprungen ist, <strong>de</strong>n Erwartungen entspre-<br />
chen / nicht entsprechen) o<strong>de</strong>r von Leistungsexzellenz, son<strong>de</strong>rn ge-<br />
mäß <strong>de</strong>s systemischen Ansatzes, ob eine Ko-Adaptation <strong>de</strong>s Aktio-<br />
tops stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />
Wird die Evaluate-Stufe <strong>de</strong>s ENTER-Mo<strong>de</strong>lls in praktischen I<strong>de</strong>ntifi-<br />
kationsprozessen nur selten umgesetzt (vgl. HOLLING & KANNING<br />
1999), so wird <strong>de</strong>r Review-Stufe lei<strong>de</strong>r meist noch geringere Be-<br />
<strong>de</strong>utung beigemessen. Dies liegt vor allem am hohen Aufwand <strong>und</strong><br />
fehlen<strong>de</strong>n Ressourcen. Auf <strong>de</strong>r Review-Stufe kommt es zu einer<br />
Bewertung <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>ntifikationsziels <strong>und</strong> <strong>de</strong>s zugr<strong>und</strong>e gelegten Be-<br />
gabungsmo<strong>de</strong>lls.<br />
Ein Beispiel, warum es nötig sein kann, das verwen<strong>de</strong>te Bega-<br />
bungsmo<strong>de</strong>ll zu überprüfen, liefert die berühmte Studie von TER-<br />
MAN (1925). Diese Studie basierte auf einem sehr simplen Bega-<br />
bungsmo<strong>de</strong>ll: <strong>Hochbegabung</strong> wur<strong>de</strong> mit hoher Intelligenz gleichge-<br />
setzt. TERMAN erwartete, dass hohe Intelligenz Leistungseminenz<br />
vorhersagen wür<strong>de</strong>, weshalb er nur Personen mit einem weit über-<br />
durchschnittlichen Intelligenzquotienten in seine Stichprobe auf-<br />
nahm <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Lern- <strong>und</strong> Leistungsentwicklung längsschnittlich<br />
verfolgte. Zwar konnte er Zusammenhänge zwischen Intelligenz<br />
<strong>und</strong> schulischem sowie beruflichem Erfolg nachweisen, lei<strong>de</strong>r<br />
schloss er jedoch zwei spätere Nobelpreisträger aus seiner Stich-<br />
probe aus, weil <strong>de</strong>ren Intelligenzquotient zu niedrig war. Offen-<br />
sichtlich hatte TERMAN ein unzureichen<strong>de</strong>s Begabungsmo<strong>de</strong>ll ge-<br />
wählt.<br />
Um die Geeignetheit <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>ntifikationsziels auf <strong>de</strong>r Review-Stufe<br />
zu überprüfen, ist ein Vergleich zwischen Proban<strong>de</strong>n nötig, die das<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
I<strong>de</strong>ntifikationsziel erreicht haben (z.B. eine Klasse erfolgreich über-<br />
sprungen haben) <strong>und</strong> Personen, die ebenfalls in <strong>de</strong>r Lage gewesen<br />
wären, dieses Ziel zu erreichen, jedoch einen an<strong>de</strong>ren Weg ein-<br />
schlugen (z.B. eine Hochbegabtenschule besuchten). Wenn bei-<br />
spielsweise später einmal festgestellt wer<strong>de</strong>n sollte, dass kein ein-<br />
ziger Schüler einer Hochbegabtenschule später Leistungsexzellenz<br />
erreicht hat, stellt dies <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rmaßnahme in Frage.<br />
Auf <strong>de</strong>r Review-Stufe entschei<strong>de</strong>t das Erreichen von Expertise <strong>und</strong><br />
Leistungsexzellenz über die Geeignetheit <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>ntifikationsziels<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>s zugr<strong>und</strong>e gelegten Begabungsmo<strong>de</strong>lls.<br />
Anwendbarkeit von ENTER für die I<strong>de</strong>ntifikation Begab-<br />
ter mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf<br />
Eine Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation Begabter mit Hilfe von ENTER<br />
auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>s Aktiotop-Ansatzes besteht darin, dass es keine<br />
Standardprozedur <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation geben kann (z.B. Kombination<br />
aus Intelligenz-, Motivations- <strong>und</strong> Kreativitätstests), da je<strong>de</strong> Person<br />
ein einzigartiges Aktiotop besitzt. So ist beispielsweise je<strong>de</strong>s Indivi-<br />
duum in an<strong>de</strong>re Systeme eingebettet, die einen großen Einfluss<br />
ausüben können. Vor allem dann, wenn ein individueller Lernpfad<br />
i<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n soll, wird das Ergebnis eine einzigartige Zu-<br />
schneidung auf <strong>de</strong>n Proban<strong>de</strong>n sein müssen. Biografien von Perso-<br />
nen, die in einer Domäne Leistungsexzellenz erreichten (FELDMAN<br />
1992; GARDNER 1997), belegen dies nachdrücklich.<br />
Während bei I<strong>de</strong>ntifikationen auf Basis an<strong>de</strong>rer Begabungsmo<strong>de</strong>lle<br />
(z.B. RENZULLI 1977, 1984) standardmäßig bestimmte Kombina-<br />
tionen von Tests (z.B. Intelligenztests, Motivations- <strong>und</strong> Kreativi-<br />
tätstests) sowie Fragebögen, Checklisten o<strong>de</strong>r Interviews zu fest<br />
vorgegebenen Themenbereichen eingesetzt wer<strong>de</strong>n, for<strong>de</strong>rt die<br />
I<strong>de</strong>ntifikation basierend auf <strong>de</strong>m Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll ein individuelles<br />
Vorgehen, das von I<strong>de</strong>ntifikationsziel zu I<strong>de</strong>ntifikationsziel <strong>und</strong> von<br />
- 58 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
Person zu Person sowie von Umwelt zu Umwelt sehr stark variieren<br />
kann. Stellt sich beispielsweise heraus, dass das Handlungsreper-<br />
toire einer Person zwar sehr positiv gestaltet ist, ein Schüler seine<br />
Lern- <strong>und</strong> Leistungsmöglichkeiten jedoch nicht ausschöpft, weil er<br />
einen falschen Attributionsstil aufweist, so wer<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re Checklis-<br />
ten verwen<strong>de</strong>t als bei Schülern, die sehr prüfungsängstlich sind.<br />
Zeigt die I<strong>de</strong>ntifikation auf <strong>de</strong>r Explore- <strong>und</strong> Narrow-Stufe eine po-<br />
sitive Ausprägung <strong>de</strong>r einzelnen Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops, je-<br />
doch eine ungenügen<strong>de</strong> progressive Anpassungsfähigkeit für zu-<br />
künftige Lernprozesse, so wird auf <strong>de</strong>r Transform-Stufe ein ent-<br />
sprechend an<strong>de</strong>rer Lernpfad erarbeitet.<br />
Dieses individuelle <strong>und</strong> ganzheitliche Vorgehen kann gera<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>ntifikation Begabter mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf von<br />
Vorteil sein. Diese Personengruppe bleibt bei I<strong>de</strong>ntifikationsprozes-<br />
sen, die vor allem auf Intelligenztests beruhen, häufig unerkannt.<br />
Verantwortlich hierfür ist einerseits, dass die kognitiven Fähigkeiten<br />
von Personen mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf in standardisier-<br />
ten Intelligenztests – aufgr<strong>und</strong> ihrer Behin<strong>de</strong>rung, einer Entwick-<br />
lungsstörung o<strong>de</strong>r einer Verhaltensauffälligkeit – häufig nicht in ge-<br />
eigneter Weise gemessen wer<strong>de</strong>n können bzw. unterschätzt wer-<br />
<strong>de</strong>n (NIELSEN & HIGGINS 2005). Auch gelingt es dieser Personen-<br />
gruppe aufgr<strong>und</strong> ihrer hohen kognitiven Fähigkeiten häufig, ihren<br />
heilpädagogischen För<strong>de</strong>rbedarf relativ lange zu kompensieren. Auf<br />
<strong>de</strong>n ersten Blick erscheint diese Fähigkeit positiv. Allerdings führt<br />
die intensive Kontrolle <strong>de</strong>r Auffälligkeiten (z.B. ADHS, Legasthenie)<br />
in vielen Fällen auch zu einer Reduktion kognitiver Kapazitäten <strong>und</strong><br />
somit zu einer Unterschätzung <strong>de</strong>r kognitiven Fähigkeiten in Intelli-<br />
genztests (REIS, MCGUIRE & NEU 2000).<br />
Die sehr umfangreiche Betrachtung <strong>de</strong>r Stärken <strong>und</strong> Schwächen<br />
<strong>de</strong>r Proban<strong>de</strong>n im Rahmen <strong>de</strong>r Untersuchung <strong>de</strong>r Komponenten <strong>de</strong>s<br />
Aktiotops <strong>und</strong> die Analyse <strong>de</strong>r progressiven Anpassungsfähigkeit<br />
- 59 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
<strong>de</strong>s Aktiotops auf <strong>de</strong>r Explore- <strong>und</strong> Narrow-Stufe machen es un-<br />
wahrscheinlicher, dass eine Begabung aufgr<strong>und</strong> eines heilpädagogi-<br />
schen För<strong>de</strong>rbedarfs unerkannt bleibt. Vor allem die intensive Er-<br />
fassung <strong>de</strong>s Subjektiven Handlungsraums ist hier von großer Be-<br />
<strong>de</strong>utung, da in diesem Zusammenhang ja auch lern- <strong>und</strong> leistungs-<br />
hemmen<strong>de</strong> Faktoren in spezieller Weise berücksichtigt wer<strong>de</strong>n, wie<br />
ein niedriges Selbstwertgefühl, Hilflosigkeitserleben, ungünstige<br />
Motivation o<strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong> Konzentrationsfähigkeit. Der Subjektive<br />
Handlungsraum kann gera<strong>de</strong> bei Personen mit heilpädagogischem<br />
För<strong>de</strong>rbedarf aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Behin<strong>de</strong>rung, Entwick-<br />
lungs- o<strong>de</strong>r Verhaltensauffälligkeit o<strong>de</strong>r wegen vorangehen<strong>de</strong>r ne-<br />
gativer Lern- <strong>und</strong> Leistungserfahrungen ungünstig gestaltet sein.<br />
Auch die I<strong>de</strong>ntifikation von Lernpfa<strong>de</strong>n <strong>und</strong> somit För<strong>de</strong>rmöglichkei-<br />
ten im Rahmen <strong>de</strong>r Transform-Stufe kommt Begabten mit heilpäd-<br />
agogischem För<strong>de</strong>rbedarf zu Gute. Während viele I<strong>de</strong>ntifikations-<br />
prozesse en<strong>de</strong>n, sobald feststeht, dass ein Kind hochbegabt ist,<br />
liegt <strong>de</strong>r Schwerpunkt von ENTER auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo-<br />
<strong>de</strong>lls gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation eines optimalen För<strong>de</strong>rkonzepts.<br />
Dies ist sicherlich für alle Hochbegabten von Vorteil; da Hochbe-<br />
gabte mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf jedoch gera<strong>de</strong> im Be-<br />
reich <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung (vgl. HARDER in dieser Ausgabe) auf größere<br />
Schwierigkeiten stoßen, profitieren diese beson<strong>de</strong>rs. Hier ist sicher-<br />
lich nicht zuletzt die ausführliche I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>r Lern- <strong>und</strong> Le-<br />
bensumwelt <strong>und</strong> möglicher stützen<strong>de</strong>r bzw. hemmen<strong>de</strong>r Faktoren<br />
von Be<strong>de</strong>utung, wie dies auch im Rahmen heilpädagogischer Thera-<br />
piemaßnahmen üblich ist.<br />
Zwar <strong>de</strong>uten diese Überlegungen an, dass sich ENTER auf <strong>de</strong>r Basis<br />
<strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls für eine I<strong>de</strong>ntifikation von <strong>Hochbegabung</strong> bei<br />
Lernen<strong>de</strong>n mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf beson<strong>de</strong>rs eignet,<br />
allerdings kann dies erst nach einer empirischen Überprüfung end-<br />
gültig entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Für die Zukunft sind <strong>de</strong>shalb systemati-<br />
- 60 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
sche Untersuchungen dieser Fragestellung ebenso wünschenswert<br />
wie eine stärkere Kooperation zwischen Forschern <strong>und</strong> Praktikern<br />
aus <strong>de</strong>m Begabungs- <strong>und</strong> Heilpädagogikbereich.<br />
Literatur<br />
CATTELL, R. B. (1973). Die wissenschaftliche Erforschung <strong>de</strong>r<br />
Persönlichkeit. Weinheim: Beltz.<br />
ERICSSON, K. A., KRAMPE, R. T. & TESCH-RÖMER, C. (1993).<br />
The role of <strong>de</strong>liberate practice in the acquisition of expert performance.<br />
Psychological Review, 100, 363-406.<br />
FELDMAN, D. H. (1992). The theory of co-inci<strong>de</strong>nce: How giftedness<br />
<strong>de</strong>velops in extreme and less extreme cases. In F. J.<br />
MÖNKS & W. A. PETERS (Eds.), Talent for the future: Social<br />
and personality <strong>de</strong>velopment of gifted children: Proceedings of<br />
the Ninth World Conference on Gifted and Talented Children<br />
(10-22). Assen, Netherlands: Van Gorcum.<br />
GARDNER, H. (1997). Extraordinary minds: Portraits of exceptional<br />
individuals and an examination of our extraordinariness.<br />
Cambridge, MA: Harvard Graduate School of Education.<br />
GRASSINGER, R. (2009). Beratung hochbegabter Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlicher.<br />
Münster: Lit.<br />
GRUBER, H., LAW, L.-C., MANDL, H. & RENKL, A. (1995). Situated<br />
learning and transfer. In P. REIMANN & H. SPADA (Eds.),<br />
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learning science (168-188). Oxford: Pergamon.<br />
HECKHAUSEN, H. (1991). Motivation and action. New York:<br />
Springer.<br />
HOLLING, H. & KANNING, U. P. (1999). <strong>Hochbegabung</strong>. Forschungsergebnisse<br />
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LUPART, J. & TOY, R. (2009). Twice-exceptional: Multiple pathways<br />
to success. In L. SHAVININA (Ed.), International Handbook<br />
on Giftedness (3rd ed.), in press. Hei<strong>de</strong>lberg: Springer.<br />
MAKER, C. J. (1976). Searching for giftedness and talent in children<br />
with handicaps. The School Psychology Digest, 5, 24-36.<br />
MANDL, H. & GERSTENMAIER, J. (Hrsg.) (2000). Die Kluft zwischen<br />
Wissen <strong>und</strong> Han<strong>de</strong>ln. Empirische <strong>und</strong> theoretische<br />
Lösungsansätze. Goettingen: Hogrefe.<br />
NIELSEN, M. E. & HIGGINS, L. D. (2005). The eye of the storm:<br />
Services and programs for the twice-exceptional learner.<br />
Teaching Exceptional Children, 38, 8-15.<br />
- 61 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
REIS, S. M., MCGUIRE, J. M. & NEU, T. W. (2000). Compensation<br />
strategies used by high-abilitiy stu<strong>de</strong>nts with learning disabilities<br />
who succeed in college. Gifted Child Quaterly, 44(2), 123-<br />
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Gifted Child Quarterly, 21, 227-233.<br />
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approach to i<strong>de</strong>ntification and programming for<br />
the gifted and talented. Gifted Child Quarterly, 28, 163-171.<br />
SOVIK, N. (1993). Development of children's writing performance:<br />
Some educational implications. In A. F. KALVERBOER &<br />
HOPKINS, B. (Eds.), Motor <strong>de</strong>velopment in early and later<br />
childhood: Longitudinal approaches (229-246). New York:<br />
Cambridge University Press.<br />
STÖGER, H. & ZIEGLER, A. (2005). Un<strong>de</strong>rachievement <strong>und</strong> Prüfungsangst:<br />
Forschungsbef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Interventionsmöglichkeiten<br />
bei hochbegabten Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern. Journal für<br />
Begabtenför<strong>de</strong>rung, 5, 7-19.<br />
STÖGER, H., ZIEGLER, A. & MARTZOG, P. (2008). Deficits in fine<br />
motor skill as an important factor in the i<strong>de</strong>ntification of gifted<br />
<strong>und</strong>erachievers in primary school. Psychology Science<br />
Quarterly, 50, 134-147.<br />
TERMAN, L. M. (1925). Genetic studies of genius: Vol. 1. Mental<br />
and physical traits of a thousand gifted children. Stanford, CA:<br />
Stanford University Press.<br />
ZIEGLER, A., (2005). The Actiotope Mo<strong>de</strong>l of Giftedness. In R.J.<br />
STERNBERG & J.E. DAVIDSON (Eds.), Conceptions of giftedness<br />
(411-436). New York: Cambridge University Press.<br />
ZIEGLER, A., DRESEL, M. & STÖGER, H. (2008). Addressees of<br />
performance goals. Journal of Educational Psychology, 100,<br />
643-654.<br />
ZIEGLER, A. & STÖGER, H. (2003). ENTER – Ein Mo<strong>de</strong>ll zur I<strong>de</strong>ntifikation<br />
von Hochbegabten. Journal für Begabtenför<strong>de</strong>rung, 4,<br />
8-21.<br />
ZIEGLER, A. & STÖGER, H. (2004). I<strong>de</strong>ntification based on ENTER<br />
within the conceptual frame of the Actiotope Mo<strong>de</strong>l of Giftedness.<br />
Psychology Science, 46, 324-342.<br />
ZIEGLER, A. & STÖGER, H. (2007). The Role of Counseling in the<br />
Development of Gifted Stu<strong>de</strong>nts’ Actiotopes: Theoretical backgro<strong>und</strong><br />
and exemplary application of the 11-SCC. In S.<br />
MENDAGLIO & J. S. PETERSON (Eds.), Mo<strong>de</strong>ls of Counseling<br />
Gifted Children, Adolescents, and Young Adults (253-283).<br />
Austin, TX: Prufrock.<br />
- 62 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
I<strong>de</strong>ntifikation von Hochbegabten<br />
ZIEGLER, A., STÖGER, H. & MARTZOG, P. (2008). Feinmotorische<br />
Defizite als Ursache <strong>de</strong>s Un<strong>de</strong>rachievements begabter Gr<strong>und</strong>schüler.<br />
Diskurs Kindheits- <strong>und</strong> Jugendforschung, 3, 53-66.<br />
Über die Autorin:<br />
Heidrun Stöger<br />
Heidrun Stöger leitet <strong>de</strong>n Lehrstuhl für Schulpädagogik (Schulforschung,<br />
Schulentwicklung <strong>und</strong> Evaluation) an <strong>de</strong>r Universität Regensburg.<br />
Vorher hat sie Mathematik <strong>und</strong> Psychologie an <strong>de</strong>r Universität<br />
München (LMU) studiert <strong>und</strong> dort auch promoviert <strong>und</strong> habilitiert.<br />
Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Lehr-Lernforschung,<br />
<strong>Hochbegabung</strong>, Gen<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Evaluation.<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz:<br />
Prof. Dr. Heidrun Stoeger<br />
Lehrstuhl für Schulpädagogik<br />
Schulforschung, Schulentwicklung <strong>und</strong> Evaluation<br />
Universitätsstr. 31<br />
93053 Regensburg<br />
Germany<br />
Tel.: 0049-941/943-1700<br />
Fax: 0049-941/943-1993<br />
E-Mail: heidrun.stoeger@paedagogik.uni-regensburg.<strong>de</strong><br />
Zu zitieren als:<br />
STÖGER, Heidrun: Die I<strong>de</strong>ntifikation Hochbegabter basierend auf einem systemischen<br />
Begabungsansatz <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Relevanz für Begabte mit heilpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf.<br />
In: Heilpädagogik online 02/09, 35-63<br />
http://www.heilpaedagogik-online.com/2009/heilpaedagogik_online_0209.pdf,<br />
Stand: Datum <strong>de</strong>s Abrufs<br />
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- 63 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
Bettina Har<strong>de</strong>r<br />
Twice exceptional – in zweifacher Hinsicht<br />
außergewöhnlich: Hochbegabte<br />
mit Lern-, Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungsstörungen<br />
o<strong>de</strong>r Autismus<br />
Hochbegabte Kin<strong>de</strong>r mit einer Begleitstörung bil<strong>de</strong>n bezüglich<br />
ihrer Symptome eine äußerst heterogene Personengruppe,<br />
wodurch sie schwer zu i<strong>de</strong>ntifizieren sind. Insbeson<strong>de</strong>re<br />
spezifische Begabungen wer<strong>de</strong>n leicht übersehen <strong>und</strong> eine<br />
adäquate För<strong>de</strong>rung bleibt aus. Dieser Artikel erläutert zunächst<br />
die Charakteristiken von Hochbegabten mit Lernschwächen,<br />
ADHS, Autismus <strong>und</strong> sensorischen Beeinträchtigungen<br />
<strong>und</strong> die damit einhergehen<strong>de</strong>n Probleme. Anschließend<br />
wer<strong>de</strong>n Hinweise zum diagnostischen Vorgehen <strong>und</strong><br />
zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r dargestellt, wobei individualisierter,<br />
inhaltlich <strong>und</strong> instruktionsmethodisch angepasster Unterricht<br />
sowie die Berücksichtigung nicht-kognitiver Bedürfnisse<br />
bei <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r Schulumgebung, spezielle För<strong>de</strong>rmaßnahmen<br />
<strong>und</strong> offene Kommunikation zwischen allen<br />
beteiligten Personen im Gesamtför<strong>de</strong>rrahmen maßgeblich<br />
sind.<br />
Schlüsselwörter: twice exceptional, <strong>Hochbegabung</strong>, Begabungsför<strong>de</strong>rung, son<strong>de</strong>rpädagogische<br />
För<strong>de</strong>rung, Lernschwäche, ADHS, Autismus, sensorische Beeinträchtigung<br />
Twice exceptional children (gifted and disabled) show very<br />
heterogenic symptoms and are therefore hard to i<strong>de</strong>ntify.<br />
Especially particular gifts often remain <strong>und</strong>etected and unsupported.<br />
This article first <strong>de</strong>scribes the characteristics of<br />
twice exceptional children with learning disabilities, ADHD,<br />
autism and sensory impairments and the accompanying<br />
problems. Then it treats particularities in i<strong>de</strong>ntification procedures<br />
and characteristics of appropriate educational programs<br />
which should inclu<strong>de</strong> individualized programming accommodated<br />
for contents and instructional methods, the<br />
creation of a school environment suiting the children’s noncognitive<br />
needs, special treatments and open communication<br />
between all persons concerned in the nurturing framework.<br />
Keywords: Twice Exceptional, Gifted Education, Special Education, Learning<br />
Disabilities, ADHD, Autism, Sensory Impairment<br />
- 64 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
„Twice exceptionals“ – das sind Kin<strong>de</strong>r, die an einer Störung o<strong>de</strong>r<br />
Behin<strong>de</strong>rung lei<strong>de</strong>n <strong>und</strong> gleichzeitig hochbegabt sind. Das be<strong>de</strong>utet,<br />
sie sind in ihrer kognitiven Entwicklung weiter als es ihrem Alter<br />
entspräche, während sie in einem an<strong>de</strong>ren Fähigkeitsbereich eine<br />
große Schwäche aufweisen. Die bei<strong>de</strong>n Außergewöhnlichkeiten tre-<br />
ten zumeist unabhängig voneinan<strong>de</strong>r auf, die <strong>Hochbegabung</strong> be-<br />
dingt also nicht das Auftreten einer Störung <strong>und</strong> vice versa, sie<br />
können allerdings zusammen auftreten.<br />
„Twice exeptionals“ fallen oft erst sehr spät mit schwer zuzuord-<br />
nen<strong>de</strong>n Symptomen auf. Der Gr<strong>und</strong> dafür ist ebenfalls zweifach: ei-<br />
nerseits maskieren die Symptome <strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rung das intellektuel-<br />
le Potential (NIELSEN & HIGGINS 2005) <strong>und</strong> an<strong>de</strong>rerseits ermög-<br />
licht es die Begabung diesen Kin<strong>de</strong>rn oft, die Störungssymptome zu<br />
kompensieren (REIS, MCGUIRE & NEU 2000). So durchlaufen sie<br />
manchmal als unauffällige Kin<strong>de</strong>r mit anscheinend durchschnittli-<br />
cher Begabung die Gr<strong>und</strong>schulzeit, bis irgendwann die steigen<strong>de</strong>n<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen eine weitere Kompensation <strong>de</strong>r Symptome nicht<br />
mehr zulassen (SILVERMAN 2003).<br />
Trotz eines wachsen<strong>de</strong>n För<strong>de</strong>rangebotes von privater <strong>und</strong> staatli-<br />
cher Seite für behin<strong>de</strong>rte Schüler sowie für beson<strong>de</strong>rs begabte Kin-<br />
<strong>de</strong>r, fällt die Gruppe <strong>de</strong>r zweifach außergewöhnlichen Kin<strong>de</strong>r leicht<br />
durch die Suchraster <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rer. Die Kin<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong>n von bei<strong>de</strong>n<br />
För<strong>de</strong>rrichtungen profitieren, doch sie können die Auswahlkriterien<br />
für die Aufnahme in spezielle För<strong>de</strong>rprogramme nur schwer erfül-<br />
len: aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Begleiterkrankung schnei<strong>de</strong>n sie in gängigen IQ-<br />
Tests o<strong>de</strong>r mit ihren Schulnoten durchschnittlich o<strong>de</strong>r unterdurch-<br />
schnittlich ab, sodass ihre Stärken nicht erkannt <strong>und</strong> geför<strong>de</strong>rt wer-<br />
<strong>de</strong>n (DAVIS & RIMM 2004). Sind ihre Schwächen kompensierbar,<br />
wer<strong>de</strong>n auch diese nicht geför<strong>de</strong>rt <strong>und</strong> die Kin<strong>de</strong>r sind sich mit ih-<br />
ren inneren Diskrepanzen selbst überlassen. Sind Schwächen be-<br />
- 65 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
merkbar, so wer<strong>de</strong>n zumin<strong>de</strong>st diese geför<strong>de</strong>rt, das Begabungspo-<br />
tential bleibt aber oft unent<strong>de</strong>ckt.<br />
Dabei ist aus <strong>de</strong>r Geschichte längst bekannt, dass eine Behin<strong>de</strong>rung<br />
o<strong>de</strong>r Lernstörung keineswegs be<strong>de</strong>utsame gesellschaftliche Beiträ-<br />
ge vereitelt. Man <strong>de</strong>nke nur an Franklin Roosevelt, <strong>de</strong>r im Rollstuhl<br />
saß, die taub-blind geborene Helen Keller (GOERTZEL & GOERTZEL<br />
1962) o<strong>de</strong>r Thomas Alva Edison, Albert Einstein, Woodrow Wilson<br />
<strong>und</strong> Auguste Rodin, die eine Leserechtschreibschwäche hatten<br />
(THOMPSON 1971).<br />
Die Schwierigkeit besteht darin, trotz <strong>de</strong>r oft leicht erkennbaren<br />
Einschränkungen die versteckten Begabungen dieser Kin<strong>de</strong>r zu<br />
i<strong>de</strong>ntifizieren. Die Tatsache, dass die zweifach außergewöhnlichen<br />
Kin<strong>de</strong>r eine extrem heterogene Personengruppe bil<strong>de</strong>n, erschwert<br />
die I<strong>de</strong>ntifikation zusätzlich: ihre Begabungen können in einer o<strong>de</strong>r<br />
mehreren spezifischen Domänen liegen <strong>und</strong> sie weisen gleichzeitig<br />
Defizite in einem o<strong>de</strong>r mehreren Bereichen auf – von körperlichen<br />
Beeinträchtigungen bis hin zu psychischen Störungen. Es gibt also<br />
eine Vielzahl möglicher Kombinationen von individuellen Stärken<br />
<strong>und</strong> Schwächen.<br />
Im Folgen<strong>de</strong>n wird zunächst ein Überblick über das Verständnis von<br />
<strong>Hochbegabung</strong> gegeben. Anschließend wer<strong>de</strong>n die Charakteristiken<br />
<strong>de</strong>r häufigsten Kombinationen einer Störung mit <strong>Hochbegabung</strong> er-<br />
läutert <strong>und</strong> auf die resultieren<strong>de</strong>n Probleme eingegangen. Daran<br />
anschließend wer<strong>de</strong>n Hinweise zur I<strong>de</strong>ntifikation solcher Kin<strong>de</strong>r ge-<br />
geben <strong>und</strong> die Implikationen für die individuelle För<strong>de</strong>rung in <strong>und</strong><br />
außerhalb <strong>de</strong>r Schule dargestellt.<br />
<strong>Hochbegabung</strong><br />
In Bezug auf <strong>Hochbegabung</strong> ist es wichtig, zwischen Potential <strong>und</strong><br />
Performanz zu unterschei<strong>de</strong>n: Das Potential sind die körperlichen<br />
<strong>und</strong> geistigen Voraussetzungen einer Person, ihre Personeneigen-<br />
- 66 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
schaften. Die Performanz bezeichnet die Güte <strong>de</strong>r Leistungen einer<br />
Person. Die Annahmen über <strong>de</strong>n Zusammenhang von Potential <strong>und</strong><br />
Performanz haben sich in <strong>de</strong>n letzten 100 Jahren stark verän<strong>de</strong>rt,<br />
was im Folgen<strong>de</strong>n kurz dargestellt wird.<br />
Frühe Begabungsmo<strong>de</strong>lle gingen davon aus, dass das intellektuelle<br />
Potential allein entschei<strong>de</strong>nd für <strong>de</strong>n Wer<strong>de</strong>gang einer Person ist<br />
<strong>und</strong> sich über die Zeit nicht verän<strong>de</strong>rt. Beispielsweise hat TERMAN<br />
(1925/1959) die Kin<strong>de</strong>r Süd-Californiens mit <strong>de</strong>m höchsten Intelli-<br />
genzquotienten (IQ-Wert über 140 im Binet-Intelligenztest) in eine<br />
Längsschnittstudie aufgenommen, in <strong>de</strong>r Hoffnung einige von ihnen<br />
wür<strong>de</strong>n später herausragen<strong>de</strong> Leistungen erbringen <strong>und</strong> entspre-<br />
chen<strong>de</strong> Auszeichnungen bekommen (Nobelpreis, Pulitzer Preis,<br />
etc.). Die „Termiten“, wie die Studienteilnehmer auch genannt wer-<br />
<strong>de</strong>n, waren in ihrem Leben tatsächlich erfolgreicher als die Durch-<br />
schnittsbevölkerung, was jedoch nicht ein<strong>de</strong>utig auf <strong>de</strong>n hohen IQ<br />
zurückzuführen war: verschie<strong>de</strong>ne Studien konnten zeigen, dass an<br />
Stelle <strong>de</strong>s IQs Faktoren wie sozioökonomischer Hintergr<strong>und</strong>, Bil-<br />
dungshintergr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Eltern, Motivation <strong>und</strong> Selbstwert sowie indi-<br />
viduelles Engagement für <strong>de</strong>n Erfolg verantwortlich sind (ZIEGLER<br />
2007). Aus <strong>de</strong>n „Termiten“ ging auch, entgegen <strong>de</strong>r Erwartungen,<br />
kein Nobelpreisträger hervor. Ironischerweise befan<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>r<br />
Ursprungsstichprobe die bei<strong>de</strong>n späteren Nobelpreisträger William<br />
B. Shockley <strong>und</strong> Luis W. S. Alvarez, die aber aufgr<strong>und</strong> eines zu<br />
niedrigen IQs nicht in die Studie aufgenommen wur<strong>de</strong>n.<br />
Der IQ ist folglich kein zuverlässiger Prädiktor für herausragen<strong>de</strong><br />
Leistungen, weshalb in spätere Mo<strong>de</strong>lle nicht-kognitive Personenei-<br />
genschaften wie Motivation <strong>und</strong> Kreativität sowie äußere Faktoren<br />
mit aufgenommen wur<strong>de</strong>n, wie beispielsweise die Umwelt als sozia-<br />
les Umfeld (MÖNKS & KATZKO 2005; RENZULLI 2005) <strong>und</strong> als<br />
Spen<strong>de</strong>r von Ressourcen (TANNENBAUM 1983). Diese Bedingungs-<br />
- 67 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
faktoren sind z. T. nicht mehr stabil, son<strong>de</strong>rn verän<strong>de</strong>rlich, wodurch<br />
sich eine Begabung ebenfalls verän<strong>de</strong>rn bzw. entwickeln kann.<br />
In <strong>de</strong>n letzten Jahren nimmt eine entwicklungsperspektivische<br />
Sichtweise mit Fokus auf die herausragen<strong>de</strong>n Leistungen zuneh-<br />
mend Einfluss auf das Verständnis von <strong>Hochbegabung</strong>. Dort wer<strong>de</strong>n<br />
nicht Personeneigenschaften als ursächlich für Höchstleistungen an-<br />
gesehen, son<strong>de</strong>rn effektive Lernprozesse, die über viele Jahre hin-<br />
weg <strong>und</strong> stets auf Verbesserung ausgerichtet stattfin<strong>de</strong>n müssen<br />
(sog. „<strong>de</strong>liberate practice“), wodurch domänenspezifisches Wissen<br />
aufgebaut wird <strong>und</strong> schließlich Expertise in <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Domä-<br />
ne erreicht wer<strong>de</strong>n kann (ERICSSON, RORING & NANDAGOPAL<br />
2007).<br />
Viele aktuelle Begabungsmo<strong>de</strong>lle vereinen bei<strong>de</strong> Sichtweisen in<br />
sich, in<strong>de</strong>m sie Spitzenleistungen als Ergebnis <strong>de</strong>r Interaktion von<br />
individuellen Potentialen <strong>und</strong> Personeneigenschaften mit Aspekten<br />
<strong>de</strong>r Lernumwelt betrachten (z. B. Münchner <strong>Hochbegabung</strong>smo<strong>de</strong>ll<br />
von HELLER, PERLETH & LIM 2005; Münchner dynamisches Bega-<br />
bungs-Leistungs Mo<strong>de</strong>ll von PERLETH 2001; DMGT-Mo<strong>de</strong>l von GA-<br />
GNÉ 2005).<br />
Das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll (ZIEGLER 2005) fasst diese neueren Entwick-<br />
lungen in einem systemischen Ansatz zusammen: Begabung wird<br />
nicht mehr als Personeneigenschaft <strong>de</strong>finiert, son<strong>de</strong>rn als eine Men-<br />
ge an domänenspezifischen Handlungen, die eine Person in einer<br />
bestimmten Umwelt ausführen kann. Die Ausführbarkeit <strong>de</strong>r Hand-<br />
lungen wird bestimmt von <strong>de</strong>n Determinanten <strong>de</strong>r Person (kogniti-<br />
ve Fähigkeiten, Wissen, Ehrgeiz, Motivation etc.), ihren Zielen, ih-<br />
rem Handlungsrepertoire, ihrem subjektiv wahrgenommenem<br />
Handlungsraum (subjektiv mögliche Handlungen, was traut die Per-<br />
son sich zu, was hält sie für angemessen, etc.) <strong>und</strong> ihrer Umwelt.<br />
Die Komponenten in diesem hochkomplexen System beeinflussen<br />
sich gegenseitig <strong>und</strong> können über diese Dynamik zu einer Weiter-<br />
- 68 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
entwicklung <strong>de</strong>s ganzen Systems führen. Eine ausführliche Darstel-<br />
lung <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls fin<strong>de</strong>t sich im Artikel von ZIEGLER in <strong>de</strong>r vorlie-<br />
gen<strong>de</strong>n Ausgabe, weswegen hier nur ein kurzes Beispiel skizziert<br />
sei: Ein sprachlich interessiertes Kind mit <strong>de</strong>m Ziel, seine Konver-<br />
sationsfertigkeiten zu verbessern, nimmt an einem zweiwöchigen<br />
Intensivkurs teil. Dort trainiert es seine Ausdrucksfertigkeiten <strong>und</strong><br />
lernt neue Re<strong>de</strong>wendungen <strong>und</strong> Worte, es erweitert sein Hand-<br />
lungsrepertoire. Da es diese neuen Formulierungen erfolgreich <strong>und</strong><br />
mit zunehmen<strong>de</strong>r Sicherheit in Gesprächen während <strong>de</strong>s Kurses<br />
eingesetzt hat, wer<strong>de</strong>n sie sehr wahrscheinlich auch in <strong>de</strong>n subjek-<br />
tiven Handlungsraum aufgenommen, sodass die neu gewonnene<br />
Wortgewandtheit auch im Schulunterricht o<strong>de</strong>r bei Auslandsbesu-<br />
chen präsentiert wird. Reagiert die Lernumwelt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s positiv<br />
auf <strong>de</strong>n Leistungsfortschritt, in<strong>de</strong>m z. B. Wertschätzung gezeigt<br />
<strong>und</strong> effektives Feedback gegeben wird, so wird sich das Kind wahr-<br />
scheinlich wie<strong>de</strong>r neue herausfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Ziele in dieser Domäne<br />
setzen. Auf diese Weise wird <strong>de</strong>r Entwicklungsprozess <strong>de</strong>s Aktiotops<br />
immer weiter vorangetrieben, das Kind geht auf seinem Lernweg<br />
weiter <strong>und</strong> kann in diesem Begabungsbereich immer bessere Leis-<br />
tungen erzielen.<br />
So ein differenziertes <strong>und</strong> auf Weiterentwicklung fokussiertes Bega-<br />
bungsverständnis schließt eine Behin<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r Störung nicht<br />
aus. Das Aktiotop ist domänenspezifisch, so kann das Aktiotop <strong>de</strong>s<br />
eingeschränkten Bereichs niedrig entwickelt sein, während das Sys-<br />
tem <strong>de</strong>r Begabungsdomäne hoch entwickelt ist bzw. mit <strong>de</strong>r Zeit<br />
<strong>und</strong> entsprechen<strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung zu einem hochentwickelten Aktiotop<br />
wird.<br />
Aus <strong>de</strong>r Tatsache, dass viele individuelle Voraussetzungen für her-<br />
ausragen<strong>de</strong> Leistungen verantwortlich sind, ergibt sich auch, dass<br />
es eigentlich keine verallgemeinerbaren Merkmale Hochbegabter<br />
gibt. Da Charakteristiken jedoch hilfreich sind, um sich ein Bild von<br />
- 69 -<br />
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Twice exceptional<br />
<strong>de</strong>n betreffen<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn zu generieren, sollen in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n<br />
Erläuterungen zu Begabung <strong>und</strong> Störungen einige oft beobachtete<br />
Merkmale genannt wer<strong>de</strong>n. Sie sind jedoch we<strong>de</strong>r als notwendig<br />
noch als hinreichend für eine hohe Begabung zu verstehen. Die Ty-<br />
pisierungen sollen helfen, auf eventuell versteckte Begabungen<br />
aufmerksam zu wer<strong>de</strong>n, die dann in einer differenzierten Diagnos-<br />
tik auf individueller Ebene untersucht wer<strong>de</strong>n müssen.<br />
LUPART <strong>und</strong> TOY (in Druck) fassen folgen<strong>de</strong> Merkmale hochbegab-<br />
ter Kin<strong>de</strong>r zusammen, die unabhängig vom Bestehen einer Begleit-<br />
störung häufig zu beobachten sind: die Kin<strong>de</strong>r verfügen über ein<br />
herausragen<strong>de</strong>s Gedächtnis <strong>und</strong> Allgemeinwissen, haben herausra-<br />
gen<strong>de</strong> analytische <strong>und</strong> kreative Problemlösefertigkeiten, verspüren<br />
Wissensdurst o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Drang, Herausfor<strong>de</strong>rungen zu meistern, ha-<br />
ben einen beson<strong>de</strong>ren Sprachgebrauch (mündlich o<strong>de</strong>r schriftlich),<br />
haben eine außergewöhnliche Verständnisgabe <strong>und</strong> einen feinen<br />
Sinn für Humor, verfügen über große Ausdauer beim Verfolgen<br />
aka<strong>de</strong>mischer o<strong>de</strong>r intellektueller Ziele/ Aufgaben, <strong>und</strong> sie sind sich<br />
ihrer persönlichen Stärken bewusst <strong>und</strong>/ o<strong>de</strong>r können daraus Kapi-<br />
tal schlagen.<br />
Häufig auftreten<strong>de</strong> Kombinationen von Störungen <strong>und</strong><br />
<strong>Hochbegabung</strong><br />
Es können verschie<strong>de</strong>ne Störungen mit hoher Begabung einherge-<br />
hen. Teils sind diese Störungen aufgr<strong>und</strong> ihrer Symptomvielfalt an<br />
sich schon schwer zu diagnostizieren, wie es bei Lernstörungen<br />
o<strong>de</strong>r ADHS <strong>de</strong>r Fall ist. Kombinationen von Störungen mit speziel-<br />
len Begabungen sind noch schwerer zu diagnostizieren, da es für<br />
diese Fälle keine DSM- o<strong>de</strong>r ICD-Diagnosekriterien als Richtlinie<br />
gibt (EISNER & SORNIK 2005): die Störungssymptome variieren<br />
stärker als im Regelfall <strong>und</strong> für die Begabung im Sinne eines hoch<br />
entwickelten Aktiotops gibt es keine diagnostischen Kriterien. Des-<br />
- 70 -<br />
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halb ist hier die Zusammenarbeit gut ausgebil<strong>de</strong>ten Fachpersonals<br />
aus Medizin, Heil- <strong>und</strong> <strong>Son<strong>de</strong>rpädagogik</strong> <strong>und</strong> Begabtenför<strong>de</strong>rung<br />
von Nöten.<br />
Lernstörungen<br />
Lernstörungen können alle Fähigkeiten betreffen, die für <strong>de</strong>n Um-<br />
gang mit Sprache <strong>und</strong> Mathematik notwendig sind. Dazu gehören<br />
sprachlicher Ausdruck (schriftlich, mündlich), Lesen, Sprachver-<br />
ständnis (Text- <strong>und</strong> Hörverständnis), Rechnen <strong>und</strong> mathematisches<br />
Schlussfolgern (DSM IV-R, SASS 2003). Nach REMSCHMIDT (2005)<br />
haben 4-7 % <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen eine Lese-Rechtschreib-<br />
Schwäche, wobei 60-80% <strong>de</strong>r Betroffenen männlich sind. Der An-<br />
teil an rechenschwachen Gr<strong>und</strong>schülern wird mit ca. 4-6 % ange-<br />
geben (REMSCHMIDT 2005).<br />
Kin<strong>de</strong>r mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten weisen oft Stärken<br />
im visuell-räumlichen Denken auf (DAVIS & MARSHALL 2000;<br />
WEST 1991). Sie <strong>de</strong>nken ganzheitlich <strong>und</strong> in lebhaften Bil<strong>de</strong>rn, kön-<br />
nen sich Objekte leicht dreidimensional vorstellen <strong>und</strong> mental rotie-<br />
ren. Genau das führt aber auch zu Problemen beim Schreiben <strong>und</strong><br />
Lesen: Kin<strong>de</strong>r berichten, dass sie auch Buchstaben dreidimensional<br />
sehen, sodass ein „o“ wie ein Doughnut aussieht <strong>und</strong> über das Blatt<br />
rollen kann (RINGLE, MILLER & ANDERSON 2000). Die Buchstaben<br />
b, d, p <strong>und</strong> q sind allesamt rotierte Spiegelbil<strong>de</strong>r voneinan<strong>de</strong>r, wes-<br />
wegen sie leicht verwechselt wer<strong>de</strong>n. Aufgr<strong>und</strong> ihres bildhaften<br />
ganzheitlichen Denkens sehen diese Kin<strong>de</strong>r Problemlösungen vor<br />
ihrem inneren Auge, schaffen es aber nicht, ihre Lösung in linearen<br />
Schritten für Außenstehen<strong>de</strong> darzustellen (DAVIS & MARSHALL<br />
2000; WEST 1991). Genau das ist beim Schreiben aber erfor<strong>de</strong>r-<br />
lich.<br />
Bei einer Rechenschwäche kann das Kind in je<strong>de</strong>r Domäne, die<br />
nicht stark von numerischen Fähigkeiten abhängt, beson<strong>de</strong>re Bega-<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
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bungen aufweisen (KADOSH & WALSH 2007), also beispielsweise<br />
im künstlerischen o<strong>de</strong>r sprachlichen Bereich. Welche beson<strong>de</strong>ren<br />
Stärken <strong>de</strong>r zweifach außergewöhnlichen Kin<strong>de</strong>r numerische Pro-<br />
bleme erklären könnten, scheint bisher aber nicht erforscht wor<strong>de</strong>n<br />
zu sein.<br />
Die Diskrepanzen von herausragen<strong>de</strong>n intellektuellen Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> mangeln<strong>de</strong>n Voraussetzungen zum Lesen, Schreiben o<strong>de</strong>r<br />
Rechnen ziehen innerpsychische Probleme nach sich. So entwickeln<br />
manche Kin<strong>de</strong>r ein negatives Selbstbild, sind frustriert, v. a. wenn<br />
sie sich im sozialen Vergleich zu ihren Klassenkamera<strong>de</strong>n betrach-<br />
ten, <strong>de</strong>nen die Kulturtechniken keine Probleme bereiten (SILVER-<br />
MAN 2003). Sie zweifeln häufig an sich selbst, entwickeln selbst-<br />
schädigen<strong>de</strong> Verhaltensweisen, einhergehend mit einem niedrigen<br />
Selbstwertgefühl, o<strong>de</strong>r haben mit Isolation zu kämpfen (KING<br />
2005).<br />
Da diese Kin<strong>de</strong>r oft die Jahrgangsstufenziele fast o<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> eben<br />
erfüllen, sind sich die Lehrer <strong>de</strong>r Begabungspotentiale eventuell gar<br />
nicht bewusst (DAVIS & RIMM 2004). Oft wird dann erst bei einer<br />
Untersuchung aufgr<strong>und</strong> von Lernproblemen o<strong>de</strong>r persönlichen o<strong>de</strong>r<br />
sozialen Problemen die Begabung diagnostiziert (SCHIFF, KAUFMAN<br />
& KAUFMAN 1981).<br />
Eine sinnvolle Diagnostik sollte das Intelligenzprofil, die Leistungen,<br />
die Kreativität, das Selbstkonzept, die Lehrerbeurteilungen <strong>und</strong> fa-<br />
miliäre Unterstützung einbeziehen, erhoben durch Interviews mit<br />
Lehrern, Eltern <strong>und</strong> Beratern sowie durch die Schülerakte <strong>und</strong> bei<br />
Bedarf anhand zusätzlicher Testungen. Außer<strong>de</strong>m raten LUPART<br />
<strong>und</strong> TOY (in Druck) noch zu einem strukturierten Interview, um die<br />
Selbstwahrnehmung <strong>de</strong>s Schülers als Lernen<strong>de</strong>/r sowie die Inan-<br />
griffnahme aka<strong>de</strong>mischer Aufgaben <strong>und</strong> die Arbeitsorganisation <strong>und</strong><br />
Arbeitsgewohnheiten zu erfassen.<br />
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Die daraus abgeleiteten För<strong>de</strong>rmaßnahmen sollten Enrichments zur<br />
För<strong>de</strong>rung von Begabungen, Kompensationsstrategien <strong>und</strong> Training<br />
in <strong>de</strong>n leistungsschwachen Bereichen sowie die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Per-<br />
sönlichkeitsentwicklung umfassen (NIELSEN 2002). Programme ab-<br />
geleitet von KAPLANs differenziertem Curriculum Mo<strong>de</strong>ll (1986) <strong>und</strong><br />
RENZULLIs Enrichment Tria<strong>de</strong> Mo<strong>de</strong>ll (1977) för<strong>de</strong>rn Kreativität,<br />
kritisches Denken <strong>und</strong> Recherchefertigkeiten (für eine Auflistung<br />
<strong>de</strong>r Programme s. LUPART & TOY, in Druck). Die Einbindung <strong>de</strong>r El-<br />
tern in die Kontrolle <strong>und</strong> Verstärkung <strong>de</strong>s Hausaufgabenverhaltens<br />
kann zu besseren Schulleistungen <strong>und</strong> Verhaltensweisen in <strong>de</strong>r<br />
Klasse führen (SAH & BORLAND 1989) <strong>und</strong> es empfiehlt sich, Gele-<br />
genheiten für Einzel- o<strong>de</strong>r Gruppenberatungen bezüglich sozialer<br />
<strong>und</strong> emotionaler Bedürfnisse zu schaffen (OLENCHAK 1994; VESPI<br />
& YEWCHUCK 1992).<br />
Asperger Autismus<br />
Für <strong>de</strong>n Asperger Autismus wer<strong>de</strong>n Prävalenzen zwischen 0,025<br />
<strong>und</strong> 0,48 % berichtet, mit einer <strong>de</strong>utlichen Überrepräsentation<br />
männlicher Patienten im Verhältnis 8:1 (REMSCHMIDT 2005). Die<br />
Defizite von Asperger Autisten liegen in drei Bereichen (HENDER-<br />
SON 2001): in <strong>de</strong>r Verarbeitung von Umweltinformationen, in <strong>de</strong>r<br />
kognitiven Verarbeitung <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Kommunikation. Bezüglich <strong>de</strong>r<br />
Verarbeitung von Umweltinformationen haben sie ein ineffektives<br />
sensorisches System sowie ein schlechtes Zeitgefühl <strong>und</strong> Probleme<br />
mit sozialen <strong>und</strong> emotionalen Hinweisreizen. Unter die kognitiven<br />
Defizite fallen unflexibles Denken, Aufmerksamkeitsprobleme <strong>und</strong><br />
Schwierigkeiten, an<strong>de</strong>re Perspektiven einzunehmen. Im Kommuni-<br />
kationsbereich fällt auf, dass Asperger Autisten sehr pragmatisch<br />
kommunizieren, sich schwer tun, über die reine Wortbe<strong>de</strong>utung<br />
Hinausgehen<strong>de</strong>s (Metaphern, An<strong>de</strong>utungen „zwischen <strong>de</strong>n Zeilen“,<br />
etc.) zu verstehen <strong>und</strong> <strong>de</strong>m gesellschaftlich erwarteten Kommuni-<br />
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kationsverhalten gerecht zu wer<strong>de</strong>n. Diese Aspekte müssen auch<br />
beim Umgang mit hochbegabten Asperger Autisten beachtet wer-<br />
<strong>de</strong>n.<br />
Diese unterschei<strong>de</strong>n sich von einfachen Asperger Autisten meist<br />
darin, dass sie genau bemerken, wie ihr Verhalten an<strong>de</strong>re beein-<br />
flusst (LITTLE 2002). Wie viele hochbegabte Kin<strong>de</strong>r auch, haben<br />
begabte Asperger Autisten einen großen Wortschatz <strong>und</strong> ein riesi-<br />
ges Wissen, das aber nicht auf persönlichen Ent<strong>de</strong>ckungen <strong>und</strong> Er-<br />
fahrungen zu beruhen scheint, son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>r Memorierung aller<br />
Fakten zu ihrem Interessensgebiet (LITTLE 2002). Sie tendieren<br />
auch dazu, sehr lange <strong>und</strong>/ o<strong>de</strong>r elaborierte Vorträge zu ihrem be-<br />
vorzugten Thema zu geben, ohne zu bemerken, dass ihr Gegen-<br />
über etwas sagen möchte, gehen muss o<strong>de</strong>r gar nicht interessiert<br />
ist (NEIHART 2000). Die Unfähigkeit, die Sichtweise ihres Gegen-<br />
übers zu verstehen, führt oft zu einem Scheitern <strong>de</strong>r Kommunikati-<br />
on. Wie auch viele hochbegabte Kin<strong>de</strong>r sind begabte Asperger Au-<br />
tisten anfällig für Ablenkungen, wobei die autistischen Kin<strong>de</strong>r inner-<br />
halb ihrer selbst abgelenkt wer<strong>de</strong>n, die Hochbegabten dagegen<br />
eher durch externe Quellen (NEIHART 2000).<br />
Hochbegabte Asperger Autisten wer<strong>de</strong>n oft falsch diagnostiziert,<br />
weil ihr Verhalten laut NEIHART (2000) mit Lernstörungen o<strong>de</strong>r<br />
<strong>Hochbegabung</strong> in Verbindung gebracht wird. Sie können aber auch<br />
ges<strong>und</strong>en durchschnittlichen Kin<strong>de</strong>rn sehr ähnlich sein, sodass sie<br />
keine speziellen För<strong>de</strong>rangebote erhalten (LITTLE 2002). Bei <strong>de</strong>r<br />
Diagnostik ist daher beson<strong>de</strong>rs auf die kindliche Entwicklungsge-<br />
schichte <strong>und</strong> auf einige differenzieren<strong>de</strong> Charakteristiken (z. B.<br />
Sprachmuster, Reaktion auf die Verän<strong>de</strong>rung von Routinen, die Be-<br />
wusstheit <strong>de</strong>r eigenen An<strong>de</strong>rsartigkeit, reziproker sozialer Humor,<br />
unangemessener Affekt) zu achten (NEIHART 2000). Neben <strong>de</strong>n<br />
therapeutischen Interventionen können zur För<strong>de</strong>rung beispielswei-<br />
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se Lernstrategien auf visualisieren<strong>de</strong> Art <strong>und</strong> Weise vermittelt <strong>und</strong><br />
verbessert wer<strong>de</strong>n (NEIHART 2000).<br />
Aufmerksamkeits<strong>de</strong>fizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)<br />
Es gibt drei verschie<strong>de</strong>ne Typen von ADHS. Der hyperaktiv-impulsi-<br />
ve Typ ist charakterisiert durch Ruhelosigkeit, Redseligkeit, Zappe-<br />
ligkeit, Rebellieren <strong>und</strong> Impulsivität. Der unaufmerksame Typ hin-<br />
gegen ist tagträumerisch, ablenkbar, vergesslich, apathisch, sozial<br />
zurückgezogen, hat Probleme, in <strong>de</strong>r Schule aufzupassen, <strong>und</strong> er-<br />
bringt Leistungen, die unter seinen intellektuellen Möglichkeiten lie-<br />
gen. Der dritte Typ, <strong>de</strong>r Mischtyp, vereint Merkmale <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n an-<br />
<strong>de</strong>ren Typen in sich (DSM IV-R, SASS 2003). REMSCHMIDT (2005)<br />
gibt die Auftretenshäufigkeit bei 6-14-Jährigen mit 4-8 % an, wobei<br />
Jungen 2- bis 4-mal häufiger betroffen sind.<br />
Hochbegabte Kin<strong>de</strong>r mit ADHS lernen, wie Hochbegabte ohne ADHS<br />
auch, normalerweise schneller als gleichaltrige Kin<strong>de</strong>r. Die Asyn-<br />
chronie in ihrer emotionalen, sozialen <strong>und</strong> kognitiven Entwicklung<br />
ist jedoch oft noch stärker ausgeprägt, als bei Hochbegabten o<strong>de</strong>r<br />
bei Kin<strong>de</strong>rn, die nur ADHS haben, „twice exceptionals“ sind zu<strong>de</strong>m<br />
meist unreifer als die einfach außergewöhnlichen Kin<strong>de</strong>r (LOVECKY<br />
1994). Kin<strong>de</strong>r mit ADHS haben in <strong>de</strong>r Regel Schwierigkeiten, sich<br />
für längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren. Bei hochbegabten<br />
ADHS-Kin<strong>de</strong>rn ist eine längere Konzentrationsphase möglich, wenn<br />
sie sich für das Thema lei<strong>de</strong>nschaftlich interessieren (LUPART &<br />
TOY in Druck). Oft ist für sie jedoch <strong>de</strong>r intrinsische Wert, eine Auf-<br />
gabe erfüllt zu haben, nicht ausreichend verstärkend, um ihre Moti-<br />
vation aufrecht zu erhalten (LOVECKY 1994).<br />
Die I<strong>de</strong>ntifikation dieser Kin<strong>de</strong>r gestaltet sich schwierig. Bei vielen<br />
Hochbegabten wird fälschlicherweise ADHS diagnostiziert, weil<br />
energiegela<strong>de</strong>ne Hochbegabte o<strong>de</strong>r hoch kreative Kin<strong>de</strong>r oft die<br />
gleichen Verhaltensweisen an <strong>de</strong>n Tag legen wie ADHS-Kin<strong>de</strong>r. Es<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
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wird aber auch ADHS bei Hochbegabten übersehen, beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r<br />
unaufmerksame Typ bei Mädchen. Dieser Typ entfaltet sich erst<br />
später (mit ca. 13 statt mit 7 Jahren) <strong>und</strong> die Mädchen wirken ab-<br />
wesend, haben Probleme sich zu konzentrieren, ihren Alltag zu or-<br />
ganisieren <strong>und</strong> manche können sich nicht an Inhalte erinnern, die<br />
sie gera<strong>de</strong> gelesen haben (SILVERMAN 2003). Deshalb müssen im-<br />
mer auch Umwelt, Kontext <strong>und</strong> die curricularen Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />
beachtet wer<strong>de</strong>n, wenn die problematischen Verhaltensweisen be-<br />
urteilt wer<strong>de</strong>n (DELISLE 1995; LIND & SILVERMAN 1994).<br />
Erfolgreiche Interventionen beinhalten Techniken <strong>de</strong>s Verhaltens-<br />
managements, <strong>de</strong>r Selbstüberwachung sowie das Einsetzen sozialer<br />
Mo<strong>de</strong>lle <strong>und</strong> das Herstellen einer strukturierten Umwelt (LIND &<br />
SILVERMAN 1994; RAMIREZ-SMITH 1997; REID & MCGUIRE<br />
1995). Außer<strong>de</strong>m muss die Instruktion individuell herausfor<strong>de</strong>rnd<br />
<strong>und</strong> stimulierend sein. Auf Medikation mit Methylphenidat (z. B.<br />
Ritalin, Medikinet) sollte aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Nebeneffekte soweit möglich<br />
verzichtet wer<strong>de</strong>n (HOWELL, EVANS & GARDINER 1997).<br />
Sensorische Störungen (Hören, Sehen)<br />
Seh- <strong>und</strong> hörbeeinträchtigte Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n traditionell in extra Ein-<br />
richtungen unterrichtet, die ihren Fokus auf die Einschränkungen<br />
<strong>de</strong>r Schüler richten, nicht auf ihre beson<strong>de</strong>ren Begabungen, sodass<br />
z. B. taube Kin<strong>de</strong>r viel unwahrscheinlicher als hochbegabt i<strong>de</strong>ntifi-<br />
ziert wer<strong>de</strong>n als hörfähige Kin<strong>de</strong>r (YEWCHUCK & BIBBY 1989). Hör-<br />
beeinträchtigte Kin<strong>de</strong>r (0,07-0,9 % <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen;<br />
REMSCHMIDT 2005) verfügen über die gleichen intellektuellen Po-<br />
tentiale wie ges<strong>und</strong>e Kin<strong>de</strong>r, bezüglich ihrer aka<strong>de</strong>mischen Leistun-<br />
gen liegen sie jedoch bis zu vier o<strong>de</strong>r fünf Jahre zurück (REIS &<br />
MCCOACH 2002).<br />
Die Begabungsdiagnostik bei hörbeeinträchtigten Kin<strong>de</strong>rn bedarf<br />
nur einiger Anpassungen, wie beispielsweise <strong>de</strong>r geringeren Ge-<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
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wichtung verbaler Testleistungen (RIMLAND 1978; RITTENHOUSE<br />
& BLOUGH 1995). SATTLER (1992) empfiehlt die individuelle Tes-<br />
tung mit nonverbalen Tests. Zusätzlich sollten Eltern <strong>und</strong> Lehrer<br />
befragt wer<strong>de</strong>n (YEWCHUCK, BIBBY & FRASER 1989). Detaillierte<br />
För<strong>de</strong>rprogramme fin<strong>de</strong>n sich z. B. bei MACDONALD <strong>und</strong> YEW-<br />
CHUCK (1994), MAKER (1977), POLLARD <strong>und</strong> HOWZE (1981) o<strong>de</strong>r<br />
RITTENHOUSE <strong>und</strong> BLOUGH (1995).<br />
Bei sehbeeinträchtigten Kin<strong>de</strong>rn (0,03-0,1 % <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Ju-<br />
gendlichen; REMSCHMIDT 2005) ist das wahre intellektuelle Poten-<br />
tial wesentlich schwerer zu erfassen (CORN 1986; HACKNEY 1986),<br />
weil Testmaterialien rar sind. Es gibt einen aktuellen IQ-Test für<br />
blin<strong>de</strong> <strong>und</strong> hochgradig sehbehin<strong>de</strong>rte Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n ITVIC (Intelli-<br />
gence Test for Visually Impaired Children, BARTIMAEUS CENTRE<br />
1990; <strong>de</strong>utsche Version von NATER 1996), <strong>de</strong>r neben <strong>de</strong>r verbalen<br />
Intelligenz auch einen Handlungs-IQ diagnostiziert. Ansonsten<br />
muss man sich mit <strong>de</strong>n verbalen Skalen <strong>de</strong>r gängigen IQ-Tests be-<br />
gnügen, wobei mit signifikanten Unterschie<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Testergeb-<br />
nissen von blin<strong>de</strong>n <strong>und</strong> sehen<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn gerechnet wer<strong>de</strong>n muss<br />
(TILLMAN 1967). Bei sehbehin<strong>de</strong>rten Kin<strong>de</strong>rn ist eine umfassen<strong>de</strong><br />
Diagnostik mit Eltern- <strong>und</strong> Lehrerinterviews daher unabdinglich.<br />
Bei <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung sehbehin<strong>de</strong>rter Kin<strong>de</strong>r muss <strong>de</strong>r Umgang mit<br />
Blin<strong>de</strong>nschrift, die Orientierung <strong>und</strong> Mobilität im Alltag, soziale Fer-<br />
tigkeiten zur Verschaffung von Hilfestellungen <strong>und</strong> unabhängige Le-<br />
bensführung kontinuierlich trainiert wer<strong>de</strong>n (CORN 1986; HACKNEY<br />
1986). Für eine gezielte För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Talente <strong>und</strong> Begabungsbe-<br />
reiche sehbehin<strong>de</strong>rter Kin<strong>de</strong>r stellt sich das Problem, angemessene<br />
Materialien in Blin<strong>de</strong>nschrift bereitzustellen, die eine gewisse Flexi-<br />
bilität <strong>und</strong> ent<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>s Lernen ermöglichen. Beispielsweise um-<br />
fasst die gesamte Materialdatenbank <strong>de</strong>s ISaR-Projektes (Integrati-<br />
on von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern mit einer Sehschädigung an Re-<br />
gelschulen) <strong>de</strong>r Technischen Universität Dortm<strong>und</strong> für alle Fachbe-<br />
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reiche <strong>und</strong> Altersstufen momentan ca. 2500 Einträge (ISaR Projekt<br />
<strong>de</strong>r Technischen Universität Dortm<strong>und</strong> 2009). Während Sachk<strong>und</strong>e<br />
<strong>und</strong> Geographie noch mit über 250 verfügbaren Materialien aufwar-<br />
ten können, sind es für die Naturwissenschaften zwischen etwa 30<br />
<strong>und</strong> 150 (Mathematik), <strong>und</strong> bei <strong>de</strong>n Sprachen nur noch ca. 10 bis<br />
40 Materialien.<br />
Allgemeine Probleme <strong>de</strong>r zweifach außergewöhnlichen Schüler<br />
Aufgr<strong>und</strong> ihrer doppelten Außergewöhnlichkeit vereinen alle <strong>de</strong>r<br />
oben beschriebenen Schüler für unser Alltagsverständnis gegen-<br />
sätzliche Eigenschaften in sich (SEELY 1998). Das kann dazu füh-<br />
ren, dass Lehrer zunächst begeistert die positiven Charakteristiken<br />
dieser Kin<strong>de</strong>r wahrnehmen, wie die kreative Problemlösefertigkeit,<br />
ihr kritisches Denken, ihre Neugier. Bald wird aber diese positive<br />
Wahrnehmung von Frustration überschattet, weil die Schüler unfä-<br />
hig sind, aka<strong>de</strong>mische Fähigkeiten zu zeigen, <strong>und</strong> oft massive Ver-<br />
haltensauffälligkeiten aufweisen. Diese steigen<strong>de</strong> Herausfor<strong>de</strong>rung<br />
kann dann zu negativen Interaktionen führen (NIELSEN & HIGGINS<br />
2005).<br />
Außer<strong>de</strong>m stellen gera<strong>de</strong> die außergewöhnlichen Fähigkeiten <strong>de</strong>r<br />
Kin<strong>de</strong>r emotionale Risikofaktoren dar (STORMONT, STEBBINS &<br />
HOLLIDAY 2001), die zu einer negativen Entwicklung beitragen<br />
können. Einige dieser Risikoeigenschaften von zweifach außerge-<br />
wöhnlichen Kin<strong>de</strong>rn sind ein fragiles Selbstkonzept, Probleme <strong>de</strong>r<br />
Selbstakzeptanz, Unwohlsein in sozialen Situationen (Gefühle von<br />
Scham, Verlegenheit), starke Frustration <strong>und</strong> Wut, das Bedürfnis,<br />
aufgestaute Energie abzulassen, interpersonale Probleme mit<br />
Gleichaltrigen, Lehrern <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Familie o<strong>de</strong>r Schwierigkeiten in be-<br />
stimmten aka<strong>de</strong>mischen Bereichen (LUPART & TOY, in Druck).<br />
Beson<strong>de</strong>rs problematisch für diese Schüler ist ein perfektionisti-<br />
scher Anspruch an sich selbst. Perfektionisten arbeiten oft sehr<br />
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hart, um ihre Einschränkungen zu verstecken, o<strong>de</strong>r bearbeiten Auf-<br />
gaben, die ihre Fähigkeiten übersteigen, erst gar nicht, um so ihre<br />
Unfähigkeit zu verbergen. Langfristig sind sie dadurch gefähr<strong>de</strong>ter,<br />
eine Depression o<strong>de</strong>r Angststörung zu entwickeln (LUPART & TOY,<br />
in Druck).<br />
I<strong>de</strong>ntifikation <strong>und</strong> För<strong>de</strong>rung<br />
I<strong>de</strong>ntifikation zweifach außergewöhnlicher Kin<strong>de</strong>r<br />
Um ein realistisches Gesamtbild von <strong>de</strong>n Stärken <strong>und</strong> Schwächen<br />
eines Kin<strong>de</strong>s zu erhalten, müssen die Fähigkeitsbereiche differen-<br />
ziert betrachtet wer<strong>de</strong>n, damit sich die positiven <strong>und</strong> negativen Ei-<br />
genschaften nicht gegenseitig aufheben <strong>und</strong> das Kind als durch-<br />
schnittlich o<strong>de</strong>r unterdurchschnittlich eingestuft wird (SILVERMAN<br />
2003). Das gilt selbstverständlich auch für die Interpretation von<br />
(IQ-)Testergebnissen, wo immer die Leistungsprofile berücksichtigt<br />
wer<strong>de</strong>n sollten.<br />
Die einzelnen Probleme bei <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation von „twice exceptio-<br />
nals“ wer<strong>de</strong>n beispielsweise bei LUPART <strong>und</strong> TOY (in Druck) <strong>de</strong>ut-<br />
lich: Zunächst bereitet die eingangs erläuterte Heterogenität <strong>de</strong>r<br />
Personengruppe Schwierigkeiten, da ohne die Hilfe diagnostischer<br />
Kriterien, Kin<strong>de</strong>r in verschie<strong>de</strong>nsten Einrichtungen richtig einge-<br />
schätzt wer<strong>de</strong>n müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass Eltern,<br />
Lehrer <strong>und</strong> Erzieher von einem Defizit-Mo<strong>de</strong>ll geleitet wer<strong>de</strong>n: es<br />
kommt primär darauf an, behin<strong>de</strong>rten/ erkrankten Kin<strong>de</strong>rn eine<br />
passen<strong>de</strong> Schulumwelt zu bieten (oft separate Einrichtungen), was<br />
<strong>de</strong>n Fokus auf die Schwäche <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s lenkt.<br />
Ein weiterer Gr<strong>und</strong>, warum die Begabung <strong>de</strong>r „twice exceptionals“<br />
oft unerkannt bleibt, liegt in mangeln<strong>de</strong>r Vorbereitung bzw. Ausbil-<br />
dung <strong>de</strong>r Lehrkräfte <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren stereotype Annahmen bezüglich<br />
<strong>Hochbegabung</strong>. Sie sehen außergewöhnliche Begabungen oft als<br />
unvereinbar mit einer Behin<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r psychischen Erkrankung<br />
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<strong>und</strong> tragen dadurch niedrige Erwartungen an die eingeschränkten<br />
Schüler heran. Dieses stereotype Verhalten scheint bei offensichtli-<br />
chen körperlichen Behin<strong>de</strong>rungen beson<strong>de</strong>rs stark aufzutreten<br />
(LITTLE 2001). Beispielsweise berichten auf einen Rollstuhl ange-<br />
wiesene Menschen, dass mit ihnen lauter <strong>und</strong> langsamer gespro-<br />
chen wird, als ob sie geistig behin<strong>de</strong>rt wären (SILVERMAN 2003).<br />
Ein weiteres großes Problem bei <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation zweifach außer-<br />
gewöhnlicher Kin<strong>de</strong>r sind die von Leistungs- <strong>und</strong> IQ-Tests vorgege-<br />
benen Bearbeitungszeiten (LUPART & TOY, in Druck; SILVERMAN<br />
2003). Bei vielen Aufgaben kommt es drauf an, in einer vorgegebe-<br />
nen Zeit möglichst viele Items zu beantworten. Die „twice exceptio-<br />
nals“ sind bei <strong>de</strong>r Testbearbeitung aber langsamer, u. a. wegen<br />
schlechteren motorischen Fähigkeiten, höherem Energieaufwand<br />
für die sensorische Verarbeitung, schlechtem Zeitmanagement bei<br />
ADHS o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Neuartigkeit <strong>de</strong>r Aufgaben. Sie erzielen <strong>de</strong>swegen<br />
schlechtere Testergebnisse.<br />
Für das Erkennen einer Begabung hinter <strong>de</strong>r Erkrankung sind nach<br />
LUPART <strong>und</strong> TOY (in Druck) folgen<strong>de</strong> Punkte hilfreich: Lehrer soll-<br />
ten die Charakteristiken von Hochbegabten mit verschie<strong>de</strong>nen Be-<br />
gleitstörungen kennen <strong>und</strong> Situationen schaffen, in <strong>de</strong>nen Bega-<br />
bungen zum Vorschein kommen können, wie z. B. das Anbieten<br />
mehrerer Lernwege o<strong>de</strong>r individuelle Differenzierungsmaßnahmen.<br />
Da momentan nur wenige professionelle Kräfte über prof<strong>und</strong>es<br />
Wissen im heil-/ son<strong>de</strong>rpädagogischen Bereich <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Begabten-<br />
för<strong>de</strong>rung verfügen (SILVERMAN 2003), ist es nötig, dass in Zu-<br />
kunft Lehrer, För<strong>de</strong>rer <strong>und</strong> Berater im heilpädagogischen, son<strong>de</strong>r-<br />
pädagogischen <strong>und</strong> regulären pädagogischen Bereich in ihrer Aus-<br />
bildung auch Wissen zur Begabungsför<strong>de</strong>rung vermittelt bekommen<br />
<strong>und</strong> effektiv zusammenarbeiten (LUPART & TOY, in Druck).<br />
Des Weiteren sollten IQ-Tests verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, die auf die spezi-<br />
ellen Einschränkungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zugeschnitten sind <strong>und</strong> die Er-<br />
- 80 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
gebnisse vor <strong>de</strong>m Hintergr<strong>und</strong> einer Normstichprobe mit vergleich-<br />
barer Behin<strong>de</strong>rung interpretiert wer<strong>de</strong>n. Bei genauen Kenntnissen<br />
über die Einschränkungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s können Tests auch selbst mo-<br />
difiziert wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m die passen<strong>de</strong>n Testteile verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n<br />
(LUPART & TOY, in Druck).<br />
Es ist generell eine multidimensionale Diagnostik indiziert, die ne-<br />
ben IQ-Test-Profilen weitere Testverfahren <strong>und</strong> Gespräche beinhal-<br />
tet. Der Diagnostikprozess kann auch über mehrere Zeitpunkte hin-<br />
weg stattfin<strong>de</strong>n, um ein ganzheitlicheres Bild <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> seiner<br />
Fähigkeiten zu erhalten. Dabei spielen insbeson<strong>de</strong>re die Eltern <strong>und</strong><br />
Lehrkräfte eine wichtige Rolle, die das Kind in einer Vielfalt an Si-<br />
tuationen erleben.<br />
För<strong>de</strong>rung zweifach außergewöhnlicher Kin<strong>de</strong>r<br />
Ein aus einem umfangreichen Diagnostikprozess abgeleitetes För-<br />
<strong>de</strong>rprogramm sollte individuell zusammengestellt wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> fol-<br />
gen<strong>de</strong> vier Kernelemente haben (NIELSEN & HIGGINS 2005):<br />
●Einbettung in ein übergreifen<strong>de</strong>s För<strong>de</strong>rmo<strong>de</strong>ll<br />
●Komplexe interdisziplinäre Curricula<br />
●Eingehen auf nicht-kognitive Bedürfnisse<br />
●Spezielle För<strong>de</strong>rmaßnahmen<br />
Das För<strong>de</strong>rprogramm sollte in ein <strong>de</strong>n Schulkontext übergreifen<strong>de</strong>s<br />
För<strong>de</strong>rmo<strong>de</strong>ll eingebettet sein, damit eine über Jahre hinweg konti-<br />
nuierliche För<strong>de</strong>rung unter Integration heilpädagogischer, son<strong>de</strong>r-<br />
pädagogischer <strong>und</strong> begabungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Elemente sicherstellt wer-<br />
<strong>de</strong>n kann.<br />
Die komplexen, interdisziplinären Curricula dienen dazu, <strong>de</strong>m ver-<br />
netzen Denken <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Interesse am Gesamtbild <strong>de</strong>r Begabten<br />
entgegen zu kommen, sodass sie ihre Problemlösefähigkeiten <strong>und</strong><br />
Kreativität einsetzen <strong>und</strong> weiterentwickeln können. Es ist wichtig,<br />
<strong>de</strong>n Schülern in je<strong>de</strong>m Fach die passen<strong>de</strong> Herausfor<strong>de</strong>rung zu bie-<br />
- 81 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
ten, um bei Stärken <strong>und</strong> Schwächen <strong>de</strong>n nächsten Entwicklungs-<br />
schritt anzugehen. Keinesfalls sollte die Instruktionszeit bei <strong>de</strong>n<br />
Stärken verringert wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n Fokus auf die Schwächen zu<br />
richten, <strong>de</strong>nn sobald die Kin<strong>de</strong>r ihre Einschränkungen kompensie-<br />
ren können, sind sie zu herausragen<strong>de</strong>n Leistungen fähig (BAUM &<br />
OWEN 2004; MCCOACH, KEHLE, BRAY & SIEGLE 2001). Die damit<br />
verb<strong>und</strong>enen Erfolgserlebnisse <strong>und</strong> zusätzliche Selbstwirksamkeits-<br />
erfahrungen durch Erweiterungen <strong>de</strong>s herkömmlichen Lehrplans,<br />
Interaktionen in Teamarbeit, kooperative <strong>und</strong> kollaborative Lernfor-<br />
men <strong>und</strong> eine flexible Lernumwelt ermutigen die Kin<strong>de</strong>r, neue Her-<br />
ausfor<strong>de</strong>rungen anzunehmen, wie sie u. a. in Akzelerations- o<strong>de</strong>r<br />
Enrichmentprogrammen geboten wer<strong>de</strong>n (LUPART & TOY, in<br />
Druck).<br />
Das motivieren<strong>de</strong> Selbstwirksamkeitserleben verb<strong>und</strong>en mit Erfolg<br />
ist eines <strong>de</strong>r emotionalen Bedürfnisse, <strong>de</strong>m das För<strong>de</strong>rprogramm<br />
gerecht wer<strong>de</strong>n sollte. Alternativ eingerichtete Klassenräume mit<br />
stressfreier aber intellektuell stimulieren<strong>de</strong>r Atmosphäre <strong>und</strong> Frei-<br />
raum für Selbstreflexion bieten sich sowohl für die emotionalen wie<br />
auch für das teils erhöhte Bewegungsbedürfnis <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r an. Sie<br />
benötigen auch Unterrichtung in sozialen Interaktionstechniken, um<br />
sich notwendige Unterstützung zu verschaffen. Das kann be<strong>de</strong>uten,<br />
ein Entgegenkommen <strong>de</strong>r schulischen Umwelt zu veranlassen (An-<br />
passung von Aufgaben <strong>und</strong> Lernprodukten, gezielte Hilfestellung<br />
o<strong>de</strong>r direkte Instruktionen) o<strong>de</strong>r das Vertreten <strong>de</strong>r eigenen Interes-<br />
sen <strong>und</strong> das angemessene Fragen nach Hilfsdiensten (COLEMAN<br />
2005). REIS, MCGUIRE <strong>und</strong> NEU (2000) stellten fest, dass gera<strong>de</strong><br />
die Fähigkeit, die eigenen Interessen zu vertreten, neben <strong>de</strong>r Ver-<br />
wendung von Kompensationsstrategien, erfolgreiche „twice excep-<br />
tionals“ auszeichnet.<br />
Mit spezifischen För<strong>de</strong>rmaßnahmen sind spezielle heil- <strong>und</strong> son<strong>de</strong>r-<br />
pädagogische <strong>und</strong> begabungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Interventionen gemeint,<br />
- 82 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
wie beispielsweise <strong>de</strong>r Einsatz technischer Hilfsmittel zur Kompen-<br />
sation sensorischer Defizite, <strong>de</strong>r Besuch von Enrichmentkursen<br />
o<strong>de</strong>r ein fachspezifisches Mentoring. Ein Mentoring könnte z. B. als<br />
Pull-out Maßnahme in Form einer individuellen heilpädagogischen<br />
Begleitung stattfin<strong>de</strong>n, sodass das Kind anstelle von regulären Un-<br />
terrichtsst<strong>und</strong>en beispielsweise vier St<strong>und</strong>en pro Woche eine indivi-<br />
duelle För<strong>de</strong>rung in seinem Begabungsbereich erhält – zusätzlich<br />
zum Training in <strong>de</strong>n schwachen Bereichen (genauere Ausführungen<br />
zur Begabungsför<strong>de</strong>rung fin<strong>de</strong>n sich im Artikel von GRASSINGER in<br />
dieser Ausgabe).<br />
Es wird <strong>de</strong>utlich, dass ein Standardprogramm diesen För<strong>de</strong>ransprü-<br />
chen nicht gerecht wer<strong>de</strong>n kann. Eine sinnvolle differenzierte <strong>und</strong><br />
effektive För<strong>de</strong>rung ist nur innerhalb eines guten Netwerkes mög-<br />
lich, in <strong>de</strong>m Eltern, die verschie<strong>de</strong>nen Lehrer (Begabungsför<strong>de</strong>rung,<br />
son<strong>de</strong>rpädagogische För<strong>de</strong>rung, Klassenlehrer), Schulleiter, Thera-<br />
peuten (Arzt, Heilpädagoge, Psychotherapeut) <strong>und</strong> Kind in regem<br />
Austausch über spezifische Interventionen <strong>und</strong> bisherige Erfolge<br />
stehen.<br />
Fazit<br />
Trotz <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n letzten Jahren steigen<strong>de</strong>n Aufmerksamkeit für<br />
hochbegabte Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> ihre För<strong>de</strong>rung, fällt die Gruppe <strong>de</strong>r in<br />
zweifacher Hinsicht außergewöhnlichen Kin<strong>de</strong>r oft durch die Scree-<br />
ning-Prozeduren für spezielle För<strong>de</strong>rmaßnahmen. Ihre vielfältigen<br />
Symptomkombinationen von spezifischen Begabungen <strong>und</strong> spezifi-<br />
schen Defiziten machen es für Lehrer, Berater, Therapeuten <strong>und</strong> El-<br />
tern zu einer echten Herausfor<strong>de</strong>rung, ihre beson<strong>de</strong>ren Potentiale<br />
zu ent<strong>de</strong>cken <strong>und</strong> ihre Entfaltung zu unterstützen. Daher ist es<br />
wichtig, die Charakteristiken dieser Kin<strong>de</strong>r zu kennen, sie zu i<strong>de</strong>nti-<br />
fizieren <strong>und</strong> ihnen dann eine individuell abgestimmte Lernumwelt<br />
zu bieten. Für die Ausbildung <strong>de</strong>r zuständigen Berufsgruppen be-<br />
- 83 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Twice exceptional<br />
<strong>de</strong>utet das eine Erweiterung ihres Wissenshorizonts: Heil- <strong>und</strong> Son-<br />
<strong>de</strong>rpädagogen müssen über <strong>Hochbegabung</strong>, begabungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />
Institutionen über Störungsbil<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Behin<strong>de</strong>rungen informiert<br />
sein <strong>und</strong> Lehrer brauchen Einblicke in bei<strong>de</strong> Bereiche, um die Be-<br />
dürfnisse dieser Schüler zu erkennen. Mit diesem Wissen ausge-<br />
stattet kann eine viel versprechen<strong>de</strong> Zusammenarbeit beginnen,<br />
mit <strong>de</strong>m Ziel, dass auch „twice exceptionals“ ihr Potential voll aus-<br />
schöpfen <strong>und</strong> be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Beiträge in unserer Gesellschaft leisten<br />
können.<br />
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- 88 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Über die Autorin:<br />
Twice exceptional<br />
Bettina Har<strong>de</strong>r<br />
Bettina Har<strong>de</strong>r beschäftigt sich mit <strong>de</strong>r Evaluation <strong>de</strong>r Begabtenzüge<br />
an bayerischen <strong>und</strong> ba<strong>de</strong>n-württembergischen Gymnasien. Sie<br />
forscht <strong>de</strong>mentsprechend zu Bedingungen für Begabungsentwicklung<br />
<strong>und</strong> Begabungsför<strong>de</strong>rung.<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz:<br />
Dipl. Psych. Bettina Har<strong>de</strong>r<br />
Universität Ulm<br />
Institut für Pädagogik<br />
Albert-Einstein-Allee 47<br />
D-89081 Ulm<br />
Tel: (0731) 50-23073<br />
Fax: (0731) 50-31137<br />
Zu zitieren als:<br />
HARDER, Bettina: Twice exceptional – in zweifacher Hinsicht außergewöhnlich: Hochbegabte<br />
mit Lern-, Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungsstörungen o<strong>de</strong>r Autismus. In:<br />
Heilpädagogik online 02/09, 64-89<br />
http://www.heilpaedagogik-online.com/2009/heilpaedagogik_online_0209.pdf,<br />
Stand: Datum <strong>de</strong>s Abrufs<br />
Kommentieren Sie diesen Artikel!<br />
- 89 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
Philipp Martzog, Heidrun Stöger & Albert Ziegler<br />
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement<br />
Hochbegabter<br />
Kognitive <strong>Hochbegabung</strong> wird teilweise zu unrecht mit hervorragen<strong>de</strong>n<br />
(Schul-) Leistungen gleichgesetzt. Dieser Artikel<br />
befasst sich mit Gruppen hochbegabter SchülerInnen,<br />
die weit hinter ihrem Leistungspotential zurück bleiben. Zunächst<br />
wird eine Klärung <strong>de</strong>s Begriffs Un<strong>de</strong>rachievement<br />
vorgenommen. Anschließend wer<strong>de</strong>n Erklärungsmo<strong>de</strong>lle <strong>und</strong><br />
auslösen<strong>de</strong> sowie aufrechterhalten<strong>de</strong> Bedingungen <strong>de</strong>s Phänomens<br />
Un<strong>de</strong>rachievement diskutiert. Einen Schwerpunkt<br />
bil<strong>de</strong>n hierbei neuere Bef<strong>und</strong>e zu Defiziten in motorischen<br />
Fertigkeiten, die bislang weitgehend vernachlässigt wur<strong>de</strong>n.<br />
Der Artikel schließt mit Empfehlungen zu einer systematischen<br />
Vorgehensweise bei <strong>de</strong>r Diagnostik von Un<strong>de</strong>rachievement<br />
sowie mit Überlegungen <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>en zu Interventionsmöglichkeiten.<br />
Schlüsselwörter: Motorische Fertigkeiten, Erwartungswidrig niedrige Schulleistungen,<br />
Diagnostik, Intervention<br />
Cognitive giftedness is partly incorrectly equated with excellent<br />
achievement. This article focuses on groups of gifted<br />
stu<strong>de</strong>nts who fall far behind their actual potential for<br />
achievement. Starting with a <strong>de</strong>finition of the concept of<br />
aca<strong>de</strong>mic <strong>und</strong>erachievement, we proceed with a discussion<br />
of conditions that cause and influence the <strong>de</strong>velopment of<br />
<strong>und</strong>erachievement. In this line special emphasise is put on<br />
empirical results that refer to <strong>de</strong>ficits in motoric skills as<br />
one condition for <strong>und</strong>erachievement, which heretofore has<br />
been neglected. The article closes with recommendations<br />
about a systematic i<strong>de</strong>ntification approach of <strong>und</strong>erachievement,<br />
as well as with results and consi<strong>de</strong>rations concerning<br />
methods of interventions.<br />
Keywords: Motor Skills, Aca<strong>de</strong>mic Un<strong>de</strong>rachievement, Diagnosis, Intervention<br />
SchülerInnen darin zu unterstützen, ihre individuellen Möglichkei-<br />
ten zu nutzen <strong>und</strong> ihr persönliches Lern- <strong>und</strong> Entwicklungspotential<br />
zu verwirklichen, galt schon immer als erklärtes Ziel pädagogischer<br />
- 90 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
Bemühungen. Auf <strong>de</strong>r Unterrichtsebene besteht sogar Einigkeit<br />
über (angeblich) richtige Wege zur Erreichung dieses Ziels. So wer-<br />
<strong>de</strong>n Prinzipien wie Binnendifferenzierung <strong>und</strong> Individualisierung so-<br />
wohl von Unterrichtstheoretikern (z.B. WIATER 2008) als auch von<br />
empirischen Unterrichtsforschern (z.B. MEYER 2008; HELMKE<br />
2007) als Schlüsselmerkmale guten Unterrichts hervorgehoben. Es<br />
könnte argumentiert wer<strong>de</strong>n, dass solche Unterrichtsprinzipien nur<br />
konsequent genug berücksichtigt <strong>und</strong> Lehrkräfte ausreichend dazu<br />
befähigt wer<strong>de</strong>n müssten diese effektiv umzusetzen, damit i<strong>de</strong>ale<br />
Lernprozesse entstehen <strong>und</strong> starke wie schwache SchülerInnen ihr<br />
individuelles Lernpotential verwirklichen können. Tatsächlich sind<br />
solche i<strong>de</strong>alen Lernprozesse aber lei<strong>de</strong>r häufig eine Utopie, da sie<br />
nicht nur von Kompetenzen <strong>de</strong>r Lehrkräfte, son<strong>de</strong>rn auch von<br />
Merkmalen <strong>de</strong>r SchülerInnen <strong>und</strong> Bedingungen außerhalb <strong>de</strong>s Un-<br />
terrichts abhängen. So gelingt es bestimmten Schülergruppen rela-<br />
tiv unabhängig von <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>s Unterrichts nicht, ihr Lern- <strong>und</strong><br />
Leistungspotential auszuschöpfen <strong>und</strong> optimal vom Unterrichtsan-<br />
gebot zu profitieren. Überraschend mag in diesem Zusammenhang<br />
erscheinen, dass es sich bei diesen Schülergruppen teilweise auch<br />
um intellektuell hochbegabte SchülerInnen han<strong>de</strong>lt, von <strong>de</strong>nen im<br />
Allgemeinen erwartet wird, dass es ihnen beson<strong>de</strong>rs gut gelingt,<br />
Lerngelegenheiten für sich zu nutzen. In <strong>de</strong>r Literatur wer<strong>de</strong>n sol-<br />
che SchülerInnen als hochbegabte Un<strong>de</strong>rachiever bezeichnet. Un-<br />
tersuchungen zeigen, dass in unseren Schulen bis zu 25% <strong>de</strong>r be-<br />
gabten SchülerInnen Un<strong>de</strong>rachiever sind (ZIEGLER, ZIEGLER &<br />
STÖGER in Druck). Natürlich können auch durchschnittlich begabte<br />
SchülerInnen hinter ihren Leistungsmöglichkeiten zurückbleiben<br />
<strong>und</strong> somit Un<strong>de</strong>rachiever sein. Für hochbegabte SchülerInnen ist<br />
Un<strong>de</strong>rachievement allerdings insofern beson<strong>de</strong>rs problematisch als<br />
sie von <strong>de</strong>n Lehrkräften seltener ent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n. Ein Gr<strong>und</strong> hier-<br />
für ist, dass sie aufgr<strong>und</strong> ihrer Begabung oft zumin<strong>de</strong>st durch-<br />
- 91 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
schnittliche Schulleistungen erbringen <strong>und</strong> Lehrkräfte <strong>de</strong>shalb weni-<br />
ger Handlungsbedarf sehen. Be<strong>de</strong>nklich erscheint dies vor allem<br />
mit Blick auf Ergebnisse aus Längsschnittstudien, die zeigen, dass<br />
es sich bei Un<strong>de</strong>rachievement nicht um eine vorübergehen<strong>de</strong> Er-<br />
scheinung han<strong>de</strong>lt (MACCALL, EVAHN & KRATZER 1992). Vor die-<br />
sem Hintergr<strong>und</strong> ist die Kenntnis von Ursachen <strong>und</strong> För<strong>de</strong>rmöglich-<br />
keiten sowie von Möglichkeiten <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation von Un<strong>de</strong>rachie-<br />
vement für praktizieren<strong>de</strong> Pädagogen beson<strong>de</strong>rs wichtig.<br />
Welche SchülerInnen gelten als Un<strong>de</strong>rachiever?<br />
Der folgen<strong>de</strong> Abschnitt befasst sich ausführlicher mit <strong>de</strong>m Begriff<br />
<strong>de</strong>s Un<strong>de</strong>rachievement, wobei erst allgemeine <strong>de</strong>finitorische Merk-<br />
male beschrieben wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> dann eine Unterscheidung verschie-<br />
<strong>de</strong>ner Gruppen von Un<strong>de</strong>rachievern vorgenommen wird. Von schu-<br />
lischem Un<strong>de</strong>rachievement spricht man wenn SchülerInnen in <strong>de</strong>r<br />
Schule nicht die Leistungen erbringen, welche von ihnen aufgr<strong>und</strong><br />
ihres Leistungspotentials erwartet wer<strong>de</strong>n 6 . In <strong>de</strong>r Regel gelten<br />
hierbei die intellektuellen Gr<strong>und</strong>fähigkeiten eines Schülers (gemes-<br />
sen mit Hilfe von IQ-Tests) als Leistungspotential <strong>und</strong> die Ergebnis-<br />
se in standardisierten Schulleistungstests, also die Schulleistungen,<br />
als die Leistungen in mehreren Unterrichtsfächern (REIS & MC-<br />
COACH 2000). Den meisten in <strong>de</strong>r Literatur gebräuchlichen Defini-<br />
tionen von Un<strong>de</strong>rachievement ist gemeinsam, dass die Diskrepanz<br />
zwischen Leistungspotential <strong>und</strong> beobachtbarer Leistung bereits<br />
seit einiger Zeit vorliegen muss. Es bestehen jedoch auch Unter-<br />
schie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Definitionen (vgl. REIS & MCCOACH 2000).<br />
Die Größe <strong>de</strong>r Diskrepanz ist hierbei nur eine <strong>de</strong>r Fragen, die sehr<br />
kontrovers diskutiert wird. DURR (1964) schlug beispielsweise vor<br />
dann von Un<strong>de</strong>rachievement zu sprechen, wenn die Diskrepanz als<br />
6 Im Deutschen kann Un<strong>de</strong>rachievement durch Erwartungswidrig niedrige Schul-<br />
leistungen umschrieben wer<strong>de</strong>n.<br />
- 92 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
lernpsychologisch relevant gälte. Häufig wird auch diskutiert, ob<br />
hochbegabte o<strong>de</strong>r auch durchschnittlich begabte SchülerInnen Un-<br />
<strong>de</strong>rachievement aufweisen können. Tatsächlich beziehen sich die<br />
meisten Forschungsarbeiten auf die Gruppe <strong>de</strong>r hochbegabten Un-<br />
<strong>de</strong>rachiever. Wird im Folgen<strong>de</strong>n nicht speziell auf eine an<strong>de</strong>re<br />
Gruppe verwiesen, so beziehen wir uns auf hochbegabte Un<strong>de</strong>ra-<br />
chiever. Im vorliegen<strong>de</strong>n Beitrag bezeichnen wir teilweise auch<br />
SchülerInnen mit umschriebenen Entwicklungsstörungen schuli-<br />
scher Fertigkeiten (ICD-10, DILLING 2008) 7 als Un<strong>de</strong>rachiever, da<br />
auch für sie gilt, dass sie bei min<strong>de</strong>stens normaler Intelligenz,<br />
Schulleistungen zeigen, die weit unter ihrer kognitiven Leistungsfä-<br />
higkeit liegen. An<strong>de</strong>rs als die zuvor genannte Un<strong>de</strong>rachievergruppe,<br />
die in <strong>de</strong>r Regel in mehreren schulischen Fächern gleichzeitig<br />
schlechte Schulleistungen zeigt als aufgr<strong>und</strong> ihrer Begabung zu er-<br />
warten, fällt diese dritte Gruppe durch schwache Leistungen in spe-<br />
ziellen Teilbereichen (z.B. Lesen, Schreiben o<strong>de</strong>r Rechnen) auf.<br />
Eine beson<strong>de</strong>re Gruppe von Un<strong>de</strong>rachievern stellen schließlich<br />
SchülerInnen mit einer umschrieben Entwicklungsstörung motori-<br />
scher Funktionen (ICD-10, DILLING 2008) dar. Diese Personen-<br />
gruppe spielt im Bereich <strong>de</strong>r Heilpädagogik aufgr<strong>und</strong> ihrer Beein-<br />
trächtigungen schulischer <strong>und</strong> alltäglicher Leistungen bereits eine<br />
Rolle. Aufgr<strong>und</strong> neuerer Forschungsbef<strong>und</strong>e zu feinmotorischen De-<br />
fiziten als Ursache von Un<strong>de</strong>rachievement bei hochbegabten Schü-<br />
lerInnen ist sie mitlerweile ins Interesse <strong>de</strong>r Begabungsforschung<br />
gerückt. In unserem Beitrag wer<strong>de</strong>n sowohl klassische Bef<strong>und</strong>e zu<br />
<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Un<strong>de</strong>rachievementgruppen dargestellt als auch<br />
neuere Bef<strong>und</strong>e zum Einfluss motorischer Defizite auf schulisches<br />
Un<strong>de</strong>rachievement bei Hochbegabten diskutiert.<br />
7 ICD-10: In <strong>de</strong>m internationalen Klassifikationssystem Psychischer Störungen<br />
wer<strong>de</strong>n genaue Diagnosekriterien <strong>de</strong>finiert.<br />
- 93 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
Erklärungsansätze <strong>und</strong> Erscheinungsformen schuli-<br />
schen Un<strong>de</strong>rachievements<br />
In <strong>de</strong>n nächsten Abschnitten wird <strong>de</strong>r Frage nachgegangen, warum<br />
diese verschie<strong>de</strong>nen SchülerInnengruppen offensichtlich nicht in<br />
<strong>de</strong>r Lage sind, ihr Potential voll auszuschöpfen. Nach <strong>de</strong>r Darstel-<br />
lung gängiger Erklärungsansätze hierzu, wer<strong>de</strong>n im Anschluss spe-<br />
zielle Bef<strong>und</strong>e zu motorischen <strong>und</strong> feinmotorischen Defiziten bei<br />
hochbegabten Schülern berichtet.<br />
Im Folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n wir drei Gruppen möglicher Ursachen für<br />
schulisches Un<strong>de</strong>rachievement unterschei<strong>de</strong>n:<br />
1. Physiologische Funktions<strong>de</strong>fizite (z. B. Sinnesstörungen).<br />
2. Defizite aus <strong>de</strong>n Bereichen umschriebener Entwicklungsstö-<br />
rungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Hyperaktivitäts<strong>de</strong>fizit–Aufmerksamkeitsstö-<br />
rung.<br />
3. Defizite bezüglich verschie<strong>de</strong>ner Variablen, die <strong>de</strong>n Lernpro-<br />
zess initiieren, begleiten <strong>und</strong> aufrechterhalten.<br />
Defizite <strong>de</strong>r ersten Kategorie beziehen sich auf <strong>de</strong>n Bereich ange-<br />
borener o<strong>de</strong>r erworbener Sinnesstörungen, die zum Beispiel Beein-<br />
trächtigungen <strong>de</strong>r visuellen o<strong>de</strong>r auditiven Wahrnehmung beinhal-<br />
ten (REIS & MCCOACH 2002). Je nach Ausprägungsgrad <strong>de</strong>s Defi-<br />
zits können große o<strong>de</strong>r kleinere Diskrepanzen zwischen <strong>de</strong>m Poten-<br />
tial <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Leistung <strong>de</strong>s Schülers bestehen. Gera<strong>de</strong> bei weniger<br />
offensichtlichen Defiziten besteht die größte Gefahr für Un<strong>de</strong>rachie-<br />
ver, unent<strong>de</strong>ckt zu bleiben.<br />
Neben Ursachen für umschriebene Entwicklungsstörungen (z. B.<br />
Lese-Rechtsschreib-Schwäche, Rechenschwäche) können weitere<br />
Defizite <strong>de</strong>r zweiten Kategorie Un<strong>de</strong>rachievement bedingen. Im Fall<br />
einer Lese-Rechtsschreibschwäche han<strong>de</strong>lt es sich beispielsweise<br />
um phonologische Defizite (SCARBOROUGH 1990). Im Fall einer<br />
Rechenschwäche können Defizite im Mengenbegriff o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Stra-<br />
tegieanwendung ursächlich für Un<strong>de</strong>rachievement sein (z.B. KRA-<br />
- 94 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
JEWSKI 2003). Bei Aufmerksamkeits<strong>de</strong>fizit-Hyperaktivitätsstörun-<br />
gen (ADHS) wird hingegen von einem Zusammenwirken neurobio-<br />
logischer <strong>und</strong> psychosozialer Ursachen ausgegangen (BARKLEY<br />
1998).<br />
Zu <strong>de</strong>n Defiziten, die <strong>de</strong>m dritten Ursachenbereich zugeordnet wer-<br />
<strong>de</strong>n können, zählen verschie<strong>de</strong>ne Variablen, die <strong>de</strong>n Lernprozess<br />
initiieren, begleiten <strong>und</strong> aufrechterhalten. Obwohl diese Ursachen<br />
ursprünglich auf Bef<strong>und</strong>e aus Studien mit hochbegabten SchülerIn-<br />
nen zurückgehen (vgl. ZIEGLER 2008), eignen sie sich auch Un<strong>de</strong>r-<br />
achievement bei durchschnittlich begabten SchülerInnen zu erklä-<br />
ren. Hierzu zählen:<br />
1. Ungenügen<strong>de</strong> Motivation<br />
2. Unzureichen<strong>de</strong>s Lern- <strong>und</strong> Arbeitsverhalten<br />
3. Persönlichkeitspsychologische Parameter (Erfolgserwartungen<br />
<strong>und</strong> Werthaltungen)<br />
4. Milieufaktoren (Geschlechtsrollenüberzeugungen, Berufsste-<br />
reotypen)<br />
5. Mangeln<strong>de</strong> För<strong>de</strong>rung <strong>und</strong> ungenügen<strong>de</strong> Lernressourcen<br />
6. Motorische Defizite<br />
Wer<strong>de</strong>n nur hochbegabte Un<strong>de</strong>rachiever betrachtet, dienen häufig<br />
Begabungstheorien als Erklärungsgr<strong>und</strong>lage. Zwei aktuellere Bega-<br />
bungstheorien, welche die genannten Bedingungen <strong>de</strong>s Un<strong>de</strong>ra-<br />
chievements im Gesamtzusammenhang darstellen, sind das Münch-<br />
ner <strong>Hochbegabung</strong>smo<strong>de</strong>ll (HELLER, PERLETH & LIM 2005) <strong>und</strong> das<br />
Aktiotopemo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> (ZIEGLER 2005, 2008). Ursa-<br />
chen <strong>und</strong> Bedingungen <strong>de</strong>s Un<strong>de</strong>rachievments hochbegabter Schü-<br />
lerInnen, die aus <strong>de</strong>m Münchner <strong>Hochbegabung</strong>smo<strong>de</strong>ll abgeleitet<br />
wer<strong>de</strong>n können, basieren dabei auf <strong>de</strong>r gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong>n Annahme,<br />
dass <strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>m Begabungspotential auf<br />
<strong>de</strong>r einen Seite <strong>und</strong> <strong>de</strong>n tatsächlich erbrachten Leistungen auf <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren Seite indirekter Natur ist. Nach diesem Mo<strong>de</strong>ll müssen ver-<br />
- 95 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
schie<strong>de</strong>ne Rahmenbedingungen gegeben sein, damit sich das Po-<br />
tential einer Person in die entsprechen<strong>de</strong> Leistung übersetzen kann.<br />
Zu diesen Rahmenbedingungen zählen einerseits verschie<strong>de</strong>ne<br />
nicht kognitive Persönlichkeitseigenschaften wie zum Beispiel <strong>de</strong>r<br />
Umgang mit Stress, Prüfungsangst, Lern- <strong>und</strong> Arbeitsstrategien so-<br />
wie Aspekte <strong>de</strong>r Lern- <strong>und</strong> Leistungsmotivation. An<strong>de</strong>rerseits wer-<br />
<strong>de</strong>n soziale Umgebungsbedingungen, wie familiäre Lernumwelt, Fa-<br />
milienklima, Instruktionsqualität, Klassenklima o<strong>de</strong>r kritische Le-<br />
bensereignisse betrachtet. SchülerInnen wür<strong>de</strong>n somit dann ein<br />
Un<strong>de</strong>rachievementsyndrom entwickeln, wenn wichtige dieser Rah-<br />
menbedingungen fehlen o<strong>de</strong>r nicht optimal auf die Lern- <strong>und</strong> Ent-<br />
wicklungsbedürfnisse <strong>de</strong>s Schülers abgestimmt sind. So ist es bei-<br />
spielsweise eher unwahrscheinlich, dass ein Kind in Mathematik<br />
gute Leistungen entwickeln wird, wenn we<strong>de</strong>r seine Eltern noch sei-<br />
ne besten Fre<strong>und</strong>e etwas für gute Schulleistungen in Mathematik<br />
übrig haben, selbst wenn das Kind ansonsten über alle notwendi-<br />
gen Lernvoraussetzungen verfügt.<br />
Aus Sicht <strong>de</strong>s Aktiotopemo<strong>de</strong>lls <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong> (ZIEGLER 2005,<br />
2008) wäre ein Un<strong>de</strong>rachiever ein Schüler, <strong>de</strong>ssen Handlungsreper-<br />
toire zwar die notwendigen Lernvoraussetzungen aufweist (also<br />
beispielsweise ausreichen<strong>de</strong>s Vorwissen, kognitive Fähigkeiten,<br />
Verarbeitungskapazität <strong>und</strong> Konzentrationsfähigkeit), um vom <strong>de</strong>r-<br />
zeitigen Unterrichtsangebot maximal profitieren zu können, diese<br />
jedoch nicht in tatsächliche Leistungen umsetzen kann. Ein Gr<strong>und</strong><br />
hierfür wäre, dass das Handlungsrepertoire <strong>und</strong> die an<strong>de</strong>ren drei<br />
Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotops (subjektiver Handlungsraum, Ziele <strong>und</strong><br />
Umwelt) nicht aufeinan<strong>de</strong>r „abgestimmt“ sind. So wäre es möglich,<br />
dass die genannten Lernvoraussetzungen zwar im Handlungsreper-<br />
toire vorliegen, sich jedoch aufgr<strong>und</strong> eines niedrigen Selbstwirk-<br />
- 96 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
samkeitserlebens 8 nicht im subjektiven Handlungsraum spiegeln.<br />
Da <strong>de</strong>r Schüler subjektiv erlebt, dass ihm die Kompetenzen für das<br />
Verständnis <strong>de</strong>s Unterrichtsstoffes fehlen, wird er beispielsweise bei<br />
Schwierigkeiten früher aufgeben, was langfristig zu Un<strong>de</strong>rachieve-<br />
ment führen kann. Schulisches Un<strong>de</strong>rachievement könnte aber<br />
auch durch eine fehlen<strong>de</strong> Passung <strong>de</strong>r Umwelt <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Ziele eines<br />
Lernen<strong>de</strong>n erklärt wer<strong>de</strong>n. Studien zeigen beispielsweise, dass<br />
SchülerInnen das Unterrichtsangebot, welches ihnen Lehrkräfte<br />
machen, auch aktiv nutzen müssen, um es in Schulleistungen über-<br />
setzen zu können (HELMKE & WEINERT 1997). So wird ein hochbe-<br />
gabter Schüler sein Handlungsrepertoire sehr wahrscheinlich nicht<br />
um weitere Handlungsmöglichkeiten erweitern können, wenn seine<br />
Lernziele nicht darauf gerichtet sind, das Unterrichtsangebot o<strong>de</strong>r<br />
bestimmte Inhalte daraus zu nutzen; <strong>und</strong> zwar unabhängig davon<br />
wie gut das Angebot ist, das die Lehrkraft macht. An<strong>de</strong>rerseits brin-<br />
gen einen Schüler auch ambitionierte Ziele nicht weiter, wenn die<br />
Umwelt kein angemessenes Entwicklungs- <strong>und</strong> Unterrichtsangebot<br />
bereit stellt. In bei<strong>de</strong>n Fällen besteht für die betroffenen SchülerIn-<br />
nen die Gefahr für Un<strong>de</strong>rachievement.<br />
Ein neuerer Erklärungsansatz für Un<strong>de</strong>rachievement, <strong>de</strong>r im Rah-<br />
men <strong>de</strong>s Aktiotopemo<strong>de</strong>lls betrachtet wird, bezieht sich auf<br />
(fein)motorische Defizite. Effektive Handlungen nehmen bei <strong>de</strong>r Er-<br />
klärung von Höchstleistungen in diesem Mo<strong>de</strong>ll einen zentralen<br />
Stellenwert ein (ZIEGLER 2005, 2008). Da komplexe Handlungen<br />
u.a. eine Komposition mehrerer paralleler Teilhandlungen darstel-<br />
len, ist es erfor<strong>de</strong>rlich, dass basale Handlungen weitgehend auto-<br />
matisiert sind, bevor übergeordnete Handlungen effektiv ausge-<br />
führt wer<strong>de</strong>n können. Ein Beispiel hierfür ist das Verfassen von<br />
Texten <strong>und</strong> Aufsätzen. Während <strong>de</strong>s Prozesses <strong>de</strong>r Verschriftli-<br />
8 Selbstwirksamkeit wur<strong>de</strong> von BANDURA als persönliche Überzeugung <strong>de</strong>finiert,<br />
in einem bestimmten Bereich erfolgreich zu han<strong>de</strong>ln (BANDURA 1997).<br />
- 97 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
chung von I<strong>de</strong>en <strong>und</strong> Gedanken in Textform müssen verschie<strong>de</strong>ne<br />
Alternativen gegeneinan<strong>de</strong>r abgewogen wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> noch beim Auf-<br />
schreiben müssen gleichzeitig weitere Überlegungen darüber statt<br />
fin<strong>de</strong>n, wie <strong>de</strong>r Satz vollen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n soll (FLOWER & HAYES<br />
1980). Eine durchaus komplexe Handlung also, die zuletzt auch<br />
entschei<strong>de</strong>nd davon abhängt in wie weit die beteiligte Schreibmoto-<br />
rik automatisiert ist. Bei Defiziten im Bereich feinmotorischer Kom-<br />
petenzen, die eine schnelle <strong>und</strong> weitgehend automatisierte Hand-<br />
schrift eher behin<strong>de</strong>rn, besteht die Gefahr, dass zusätzliche Auf-<br />
merksamkeitskapazitäten für die Bewältigung <strong>de</strong>r schreibmotori-<br />
schen Anfor<strong>de</strong>rungen beansprucht wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> für fachliche Überle-<br />
gungen weniger Kapazität bleibt. Die Folge können schließlich in-<br />
haltliche Schwächen <strong>de</strong>s Aufsatzes sein.<br />
Mit <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r Motorik wird hier gleichzeitig an Erkenntnissen<br />
eines För<strong>de</strong>rbereiches angeknüpft, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Heilpädagogik bereits<br />
einen höheren Bekanntheitsgrad genießt als in <strong>de</strong>r Begabungsfor-<br />
schung. Im ICD-10 (DILLING 2008) existiert für Defizite in <strong>de</strong>r Ge-<br />
samtmotorik die Diagnose einer umschriebenen Entwicklungsstö-<br />
rung motorischer Funktionen. Betroffene Kin<strong>de</strong>r liegen bei min<strong>de</strong>s-<br />
tens durchschnittlicher Intelligenz <strong>de</strong>utlich hinter <strong>de</strong>m motorischen<br />
Leistungsniveau ihrer Altersgruppe zurück <strong>und</strong> sind im schulischen<br />
Bereich o<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten beeinträch-<br />
tigt. Mittlerweile fin<strong>de</strong>n sich diese theoretischen Überlegungen <strong>und</strong><br />
diagnostischen Festlegungen auch in Bef<strong>und</strong>en aus verschie<strong>de</strong>nen<br />
Studien wie<strong>de</strong>r, die im Folgen<strong>de</strong>n berichtet wer<strong>de</strong>n. Beginnend mit<br />
Bef<strong>und</strong>en zur Be<strong>de</strong>utung gesamtmotorischer Defizite für schuli-<br />
sches Lernen <strong>und</strong> damit für die Entwicklung von Un<strong>de</strong>rachievement<br />
bei durchschnittlich begabten SchülerInnen, wer<strong>de</strong>n in einem zwei-<br />
ten Teil Forschungsergebnisse zur Be<strong>de</strong>utung speziell feinmotori-<br />
scher Defizite bei hochbegabten SchülerInnen berichtet.<br />
- 98 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
Wie weitreichend die Folgen unbehan<strong>de</strong>lter Entwicklungsstörungen<br />
<strong>de</strong>r Gesamtmotorik sein können, zeigen Längsschnittuntersuchun-<br />
gen, die Kin<strong>de</strong>r mit <strong>und</strong> ohne motorische Auffälligkeiten 9 vom Vor-<br />
schulalter bis ins Jugendalter wie<strong>de</strong>rholt untersuchen <strong>und</strong> bei<strong>de</strong><br />
Gruppen im schulischen, sozialen <strong>und</strong> emotionalen Bereich mitein-<br />
an<strong>de</strong>r vergleichen. Zwei Längsschnittstudien, in <strong>de</strong>nen ein solches<br />
Vorgehen gewählt wur<strong>de</strong>, zeigen <strong>de</strong>utlich, dass die Gruppe <strong>de</strong>r mo-<br />
torisch beeinträchtigten Kin<strong>de</strong>r auch nach 10 Jahren in <strong>de</strong>n Berei-<br />
chen motorischer <strong>und</strong> schulischer Fähigkeiten <strong>de</strong>n normal entwi-<br />
ckelten Kin<strong>de</strong>rn unterlegen waren (LOSSE ET AL. 1991; CANTELL,<br />
SMYTH & AHONEN 1994). Die Ergebnisse <strong>de</strong>r ersten Studie zeigen<br />
zu<strong>de</strong>m, dass die beeinträchtigten Kin<strong>de</strong>r ein negativeres soziales<br />
<strong>und</strong> körperliches Selbstbild besaßen, weniger Freu<strong>de</strong> bei sportli-<br />
chen, schulischen <strong>und</strong> Freizeitaktivitäten empfan<strong>de</strong>n <strong>und</strong> vergleich-<br />
bar häufiger Verhaltens- <strong>und</strong> emotionale Probleme hatten. Beunru-<br />
higen<strong>de</strong>r war, dass sich die Schwierigkeiten in <strong>de</strong>n genannten Be-<br />
reichen nach zehn Jahren sogar noch verschlimmert hatten (LOSSE<br />
ET AL. 1991). Die Autoren <strong>de</strong>r zweiten, sehr ähnlichen Studie<br />
(CANTELL, SMYTH & AHONEN 1994) berichten ergänzend, dass<br />
Kin<strong>de</strong>r, bei <strong>de</strong>nen im Alter von fünf Jahren eine Entwicklungsstö-<br />
rung <strong>de</strong>r motorischen Funktionen diagnostiziert wur<strong>de</strong>, zehn Jahre<br />
später seltener sozialen Hobbies <strong>und</strong> Freizeitbeschäftigungen nach-<br />
gingen sowie ein geringeres schulisches Fähigkeitsselbstkonzept<br />
aufwiesen. Auch waren sie weniger ehrgeizig in Bezug auf gute<br />
schulische Leistungen als die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r motorisch normal entwi-<br />
ckelten Kontrollgruppe.<br />
An<strong>de</strong>re Studien zeigen, dass <strong>de</strong>r im Aktiotopemo<strong>de</strong>ll postulierte<br />
Mangel an effektiven Handlungen bei Kin<strong>de</strong>rn mit motorischen Defi-<br />
ziten auch soziale <strong>und</strong> emotionale Auswirkungen haben kann.<br />
9 Bei Kin<strong>de</strong>rn dieser Gruppe lag die Diagnose einer umschriebenen Entwicklungsstörung<br />
<strong>de</strong>r motorischen Funktionen vor (ICD-10, DILLING 2008).<br />
- 99 -<br />
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Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
SMYTH <strong>und</strong> ANDERSON (2000) fan<strong>de</strong>n in ihrer Studie, dass betrof-<br />
fene Kin<strong>de</strong>r beispielsweise häufiger von Spielsituationen ausge-<br />
schlossen wer<strong>de</strong>n. SKINNER <strong>und</strong> PIEK (2001) wiesen in einer Stu-<br />
die mit 8- bis 14-jährigen SchülerInnen nach, dass Kin<strong>de</strong>r mit einer<br />
motorischen Entwicklungsstörung einen geringeren Selbstwert hat-<br />
ten <strong>und</strong> insgesamt ängstlicher waren als die normal entwickelten<br />
Kin<strong>de</strong>r einer Kontrollgruppe. Auch PIEK, BAYNAM <strong>und</strong> BARRET<br />
(2006) konnten zeigen, dass sich Kin<strong>de</strong>r mit einer diagnostizierten<br />
motorischen Entwicklungsstörung <strong>und</strong> normal entwickelte Kin<strong>de</strong>r<br />
auf verschie<strong>de</strong>nen Dimensionen <strong>de</strong>r Selbstwahrnehmung voneinan-<br />
<strong>de</strong>r unterschie<strong>de</strong>n. Die Ergebnisse <strong>de</strong>uteten darauf hin, dass vor al-<br />
lem jüngere Kin<strong>de</strong>r (7-9 Jahre) mit motorischen Defiziten ein gerin-<br />
geres Fähigkeitsselbstkonzept sowohl in Bezug auf ihre schulischen<br />
als auch in Bezug auf ihre sportlichen Fähigkeiten hatten. In einer<br />
Studie mit hochbegabten Gr<strong>und</strong>schülerInnen wiesen Kin<strong>de</strong>r mit<br />
feinmotorischen Defiziten ein niedrigeres Vertrauen in ihre schuli-<br />
schen Fähigkeiten auf (ZIEGLER, STÖGER & MARTZOG 2008).<br />
Feinmotorische Defizite tragen aber, wie theoretisch bereits ausge-<br />
führt wur<strong>de</strong>, nicht nur über <strong>de</strong>n Mechanismus reduzierter Fähig-<br />
keitsselbstwahrnehmungen zu Un<strong>de</strong>rachievement bei. Die Bef<strong>und</strong>e<br />
neuerer Studien <strong>de</strong>uten darauf hin, dass sich Feinmotorik<strong>de</strong>fizite<br />
bei hochbegabten Schülern auch über die Beeinträchtigung <strong>de</strong>r<br />
Konzentrationsfähigkeit negativ auf <strong>de</strong>n Lernerfolg auswirken. Dies<br />
lässt sich vermutlich beson<strong>de</strong>rs auf die hohen feinmotorischen An-<br />
for<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>schule zurückführen, mit <strong>de</strong>nen diese Kin-<br />
<strong>de</strong>r zum Teil überfor<strong>de</strong>rt scheinen. Wenn eine kompetente <strong>und</strong><br />
schnelle Handschrift für die meisten Kin<strong>de</strong>r längst selbstverständ-<br />
lich gewor<strong>de</strong>n ist, kämpfen Kin<strong>de</strong>r mit feinmotorischen Defiziten<br />
noch mit <strong>de</strong>m Erwerb dieser Voraussetzung <strong>und</strong> können sich so nur<br />
bedingt auf die wesentlichen Unterrichtsinhalte konzentrieren. Be-<br />
f<strong>und</strong>e, die diese Hypothese stützen, fan<strong>de</strong>n sich in zwei Studien mit<br />
- 100 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
Gruppen hochbegabter Gr<strong>und</strong>schüler (STÖGER, ZIEGLER & MART-<br />
ZOG 2008; ZIEGLER ET AL. 2008). An <strong>de</strong>r Studie nahmen nur<br />
SchülerInnen teil, die in einem standardisierten Intelligenztest<br />
einen Wert von min<strong>de</strong>stens 130 IQ-Punkten erzielt hatten. Die<br />
SchülerInnen bearbeiteten eine Feinmotorikaufgabe, bei welcher<br />
sie so schnell wie möglich mit einem spitzen Bleistift zwischen zwei<br />
engen parallelen Linien eine dritte Linie zeichnen sollten, ohne da-<br />
bei eine <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Begrenzungslinien links <strong>und</strong> rechts zu berühren.<br />
Eine hohe feinmotorische Kompetenz äußerte sich in einem weitge-<br />
hend fehlerfreien Durchgang, häufigeres Kreuzen o<strong>de</strong>r Berühren<br />
<strong>de</strong>r Begrenzungslinien <strong>de</strong>utete hingegen auf eine geringere Fein-<br />
motorikkompetenz hin. Zusätzlich wur<strong>de</strong> die Konzentrationsfähig-<br />
keit 10 <strong>de</strong>r SchülerInnen <strong>und</strong> ihre Schulleistungen über die Noten in<br />
<strong>de</strong>n drei Hauptfächern (Deutsch, Mathematik sowie Heimat- <strong>und</strong><br />
Sachk<strong>und</strong>e) erfasst. In bei<strong>de</strong>n Studien zeigte sich wie erwartet,<br />
dass sich hochbegabte Un<strong>de</strong>rachiever 11 von hochbegabten Achie-<br />
vern in ihrer feinmotorischen Kompetenz unterschie<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r ers-<br />
ten Studie machten Un<strong>de</strong>rachiever sogar fast doppelt so viele Feh-<br />
ler wie Achiever. Die Vermutung eines beeinträchtigen<strong>de</strong>n Einflus-<br />
ses <strong>de</strong>r Feinmotorik<strong>de</strong>fizite auf die Konzentrationsfähigkeit konnte<br />
durch das Ergebnis gestützt wer<strong>de</strong>n, dass sich in bei<strong>de</strong>n Studien<br />
nachweisbare Wechselwirkungen zwischen feinmotorischen Fertig-<br />
keiten <strong>und</strong> Konzentrationsleistung zeigten.<br />
Auch über die Qualität <strong>de</strong>r Handschrift können Feinmotorik<strong>de</strong>fizite<br />
potentiell zu erwartungswidrig geringen Schulleistungen beitragen.<br />
So zeigen Studien, dass inhaltlich gleichwertige Aufsätze von Lehr-<br />
kräften unterschiedlich beurteilt wur<strong>de</strong>n, wenn sich die Qualität <strong>de</strong>r<br />
10 Zur Absicherung <strong>de</strong>s Bef<strong>und</strong>es aus <strong>de</strong>r ersten Studie, in welcher die Konzentrationsfähigkeit<br />
<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r durch die Lehrkräfte eingeschätzt wur<strong>de</strong>, wur<strong>de</strong> in<br />
<strong>de</strong>r zweiten Studie ein standardisiertes Konzentrationstestverfahren eingesetzt<br />
(d2- Konzentrationsbelastungstest, BRICKENKAMP 2002).<br />
11 Ein Schüler galt in unseren Studien dann als Un<strong>de</strong>rachiever, wenn sein IQ bei<br />
min<strong>de</strong>stens 130 Punkten lag <strong>und</strong> seine, über die drei Hauptfächer gemittelte<br />
Schulleistung (Schulnoten) um eine Standardabweichung unter seinem IQ lag.<br />
- 101 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
Handschrift unterschied. Die Bewertung von Aufsätzen mit einer<br />
unsaubereren Handschrift fiel schlechter aus (HUGHES, KEELING &<br />
TUCK 1983; SWEEDLER-BROWN 1992).<br />
Diese Bef<strong>und</strong>e legen nahe, dass Feinmotorik<strong>de</strong>fizite die Entwicklung<br />
von Un<strong>de</strong>rachievement über verschie<strong>de</strong>ne Mechanismen beeinflus-<br />
sen können. Neben Schülern mit sehr großen Feinmotorik<strong>de</strong>fiziten<br />
sind vermutlich vor allem hochbegabte SchülerInnen mit leichteren<br />
bis mittelschweren Defiziten gefähr<strong>de</strong>t, Un<strong>de</strong>rachievement zu ent-<br />
wickeln. Da sie ihr motorisches Defizit durch ihre Begabung eher<br />
kompensieren können <strong>und</strong> wenigstens durchschnittliche Schulleis-<br />
tungen erreichen, wird ihr zugr<strong>und</strong>eliegen<strong>de</strong>s kognitives Potential<br />
häufig nicht in Schulleistungen umgesetzt. Eine beson<strong>de</strong>re Aufgabe<br />
besteht <strong>de</strong>shalb in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation dieser bei<strong>de</strong>n Zielgruppen.<br />
Erkennen von Un<strong>de</strong>rachievern<br />
Im Anschluss an Überlegungen zu einem allgemeinen diagnosti-<br />
schen Vorgehen wer<strong>de</strong>n im Weiteren Vorgehensweisen <strong>und</strong> Verfah-<br />
ren sowie Beson<strong>de</strong>rheiten bei <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation von Un<strong>de</strong>rachievern<br />
mit motorischen Defiziten beschrieben. Einen Vorschlag zur syste-<br />
matischen I<strong>de</strong>ntifikation von hochbegabten Un<strong>de</strong>rachievern haben<br />
ZIEGLER, DRESEL <strong>und</strong> SCHOBER (2000) vorgelegt. In ihrem Pha-<br />
senmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Un<strong>de</strong>rachievementdiagnostik beschreiben die Auto-<br />
ren vier Phasen, welche sich von <strong>de</strong>r Erfassung <strong>de</strong>r Diskrepanz zwi-<br />
schen Potential <strong>und</strong> Leistung über die Ursachenanalyse bis hin zur<br />
evaluativen Prüfung <strong>de</strong>r Diagnoseergebnisse erstrecken. Der Dia-<br />
gnoseprozess beginnt mit einer genauen Erfassung <strong>de</strong>s Potentials<br />
mit Hilfe min<strong>de</strong>stens eines standardisierten kognitiven Leistungs-<br />
tests. Es folgt eine Ermittlung <strong>de</strong>r Schulleistungen über einen No-<br />
tenschnitt, Lehrereinschätzungen o<strong>de</strong>r formelle Schulleistungstests.<br />
Auf Basis dieser Informationen wird die Diskrepanz zwischen kogni-<br />
tivem Potential <strong>und</strong> Leistung beurteilt. In <strong>de</strong>r zweiten Phase <strong>de</strong>s<br />
- 102 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
Mo<strong>de</strong>lls schließt sich eine explorative Ursachenanalyse an. Hier<br />
wer<strong>de</strong>n Bedingungen fokussiert, die in Begabungsmo<strong>de</strong>llen als ur-<br />
sächlich für die Begabungsaktualisierung <strong>und</strong> somit für ein mögli-<br />
ches Un<strong>de</strong>rachievement postuliert wer<strong>de</strong>n. Die Autoren empfehlen<br />
drei Personengruppen in die Ursachenanalyse mit einzubeziehen,<br />
um ein umfassen<strong>de</strong>s Bild zu gewinnen. So sollten neben <strong>de</strong>n be-<br />
troffenen SchülerInnen sowohl Personen befragt wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n<br />
jeweiligen Schüler gut kennen (Eltern, Geschwister) als auch Perso-<br />
nen, die die SchülerInnen bereits in Leistungssituationen beobach-<br />
ten konnten (z.B. Lehrkräfte). Bei <strong>de</strong>r Befragung wer<strong>de</strong>n alle Infor-<br />
mationen über begünstigen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r beeinträchtigen<strong>de</strong> Bedingungen<br />
von Schulleistungen gesammelt. In <strong>de</strong>r dritten Diagnosephase (Ve-<br />
rifikationsphase) wer<strong>de</strong>n die zuvor i<strong>de</strong>ntifizierten Ursachenbereiche<br />
nochmals differenzierter betrachtet, um die nachfolgen<strong>de</strong>n Inter-<br />
ventionsmaßnahmen noch gezielter auf die Behebung <strong>de</strong>r jeweili-<br />
gen Ursachen ausrichten zu können. Beispielsweise wird durch wei-<br />
tere Beobachtungen erschlossen, ob Schwierigkeiten im Textver-<br />
ständnis eher auf wenig entwickelte Lesefertigkeiten zurück zu füh-<br />
ren sind o<strong>de</strong>r auf fehlen<strong>de</strong> bzw. ungeeignete Textbearbeitungsstra-<br />
tegien (z.B. Unterstreichen, Zusammenfassen). In <strong>de</strong>r letzten Pha-<br />
se fin<strong>de</strong>t eine evaluative Kontrolle <strong>de</strong>r diagnostischen Bemühungen<br />
statt, in<strong>de</strong>m die angewen<strong>de</strong>ten Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit<br />
hin überprüft <strong>und</strong> gegebenenfalls neu angepasst wer<strong>de</strong>n.<br />
Die beson<strong>de</strong>re Herausfor<strong>de</strong>rung stellt sich dabei noch bevor in <strong>de</strong>r<br />
ersten Phase eine mögliche Diskrepanz zwischen Potential <strong>und</strong><br />
Schulleistungen überprüft wer<strong>de</strong>n kann. Sie besteht darin, dass nur<br />
die SchülerInnen für eine Diagnostik angemel<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, für die<br />
erwartungswidrige Min<strong>de</strong>rleistungen vermutet wer<strong>de</strong>n. Häufig wer-<br />
<strong>de</strong>n solche Schüler bei Beobachtungen im unterrichtlichen Alltag<br />
o<strong>de</strong>r zu Hause jedoch von Lehrkräften beziehungsweise Eltern nicht<br />
- 103 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
erkannt. In diesem Fall, wenn einfache Beobachtungen also nicht<br />
zu ein<strong>de</strong>utigen Ergebnissen führen, kann ein systematischeres<br />
Screening zielführend sein. Ein solches Screening besteht in <strong>de</strong>r<br />
Regel in Beobachtungen <strong>de</strong>r SchülerInnen anhand einer Checkliste,<br />
welche verschie<strong>de</strong>ne Kategorien von Verhaltensweisen beinhaltet,<br />
die für hochbegabte SchülerInnen typisch sind (SOMMER, FINK &<br />
NEUBAUER 2008). Wird auf <strong>de</strong>r Basis dieser Beobachtungen eine<br />
<strong>Hochbegabung</strong> vermutet, führt dies zur Einleitung gezielter Unter-<br />
suchungen <strong>de</strong>s kognitiven Potentials, <strong>de</strong>r Schulleistungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />
Diskrepanz zwischen bei<strong>de</strong>n Bereichen, wie oben bereits ausge-<br />
führt.<br />
Für die Diagnostik von Un<strong>de</strong>rachievement bei SchülerInnen mit<br />
Feinmotorik<strong>de</strong>fiziten gelten dabei zusätzliche Überlegungen. Zum<br />
Beispiel ist bereits in <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r Diskrepanzbestimmung ent-<br />
schei<strong>de</strong>nd, dass zur Feststellung <strong>de</strong>s kognitiven Potentials eine faire<br />
Intelligenztestung nur dann erfolgen kann, wenn Verfahren einge-<br />
setzt wer<strong>de</strong>n, die zu ihrer erfolgreichen Bearbeitung keine feinmo-<br />
torischen Anfor<strong>de</strong>rungen stellen 12 , da das Potential <strong>de</strong>s Schülers<br />
sonst unterschätzt wür<strong>de</strong>. Nach <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>r Schulleistung<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Bestimmung <strong>de</strong>r Diskrepanz dieser Leistung zur Intelligenz<br />
<strong>de</strong>s Schülers wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r sich anschließen<strong>de</strong>n explorativen Ursa-<br />
chenanalyse nun die in Frage kommen<strong>de</strong>n Bedingungen einge-<br />
grenzt. Liegt tatsächlich eine motorische Entwicklungsstörung vor,<br />
die alle notwendigen Kriterien <strong>de</strong>s ICD-10 erfüllt, wer<strong>de</strong>n die<br />
Schwierigkeiten vermutlich offensichtlicher sein, so dass sich eine<br />
diesbezügliche Hypothese schnell aufstellen lässt. Wenn statt<strong>de</strong>s-<br />
sen subtile fein- <strong>und</strong> schreibmotorische Beeinträchtigungen vorlie-<br />
gen, die jenseits schulischer Anfor<strong>de</strong>rungen weniger ins Gewicht<br />
12 Ein Negativbeispiel für ein Verfahren, das im schulischen Kontext häufig zum<br />
Einsatz kommt <strong>und</strong> in einigen Subtests potentiell feinmotorische Kompetenzen<br />
verlangt, ist das Prüfsystem für Schul- <strong>und</strong> Bildungsberatung (PSB) von HORN,<br />
LUKESCH, MAYRHOFER <strong>und</strong> KORMANN (2004).<br />
- 104 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
fallen, wer<strong>de</strong>n diese im diagnostischen Gespräch von Eltern voraus-<br />
sichtlich seltener berichtet. Statt<strong>de</strong>ssen fallen eventuell Hinweise<br />
auf an<strong>de</strong>re potentielle Ursachen <strong>de</strong>s Un<strong>de</strong>rachievements auf, die<br />
tatsächlich aber Folgewirkungen zugr<strong>und</strong>eliegen<strong>de</strong>r motorischer<br />
Probleme sein können. So konnten bei SchülerInnen mit Feinmoto-<br />
rik<strong>de</strong>fiziten geringe Fähigkeitsselbstwahrnehmungen festgestellt<br />
wer<strong>de</strong>n. Denkbar sind jedoch auch Folgewirkungen, die sich als De-<br />
fizite im Bereich wichtiger Arbeitstechniken (z.B. Textbearbeitungs-<br />
strategien) bemerkbar machen <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Beherrschung feinmoto-<br />
rische Fertigkeiten erfor<strong>de</strong>rn (präzises Unterstreichen zentraler<br />
Textstellen, Schreiben von Zusammenfassungen).<br />
Wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r explorativen Ursachenanalyse schließlich<br />
erste Hypothesen über <strong>de</strong>n groben Bereich vermutlicher Ursachen<br />
gewonnen, müssen diese in <strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n Verifikationsphase<br />
noch genauer bestimmt wer<strong>de</strong>n. Hierzu können zur Bestimmung<br />
grobmotorischer Defizite standardisierte Testverfahren eingesetzt<br />
wer<strong>de</strong>n, die durch einen Vergleich mit <strong>de</strong>r Altersnorm Aufschluss<br />
über <strong>de</strong>n Schweregrad <strong>de</strong>r motorischen Beeinträchtigung geben.<br />
Ein Beispiel für ein etabliertes Verfahren zur Beurteilung <strong>de</strong>r Ge-<br />
samtkörperbeherrschung stellt hier <strong>de</strong>r Körper-Koordinationstest<br />
für Kin<strong>de</strong>r (KIPHARD & SCHILLING 2000) dar, <strong>de</strong>r in Deutschland<br />
u.a. auch im Rahmen <strong>de</strong>r Einschulungsdiagnostik eingesetzt wird.<br />
Zur umfassen<strong>de</strong>n Beurteilung feinmotorischer Fertigkeiten bei jün-<br />
geren Kin<strong>de</strong>rn existiert im <strong>de</strong>utschsprachigen Raum bislang hinge-<br />
gen noch kein normiertes Testverfahren 13 . Nützlich kann aber <strong>de</strong>r<br />
Einsatz einzelner Feinmotorikaufgaben sein, die bereits mehrfach<br />
verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n <strong>und</strong> einen ein<strong>de</strong>utigen Bezug zur Schreibmotorik<br />
aufweisen. Neben <strong>de</strong>r Zeichenaufgabe, die oben beschrieben wur<strong>de</strong><br />
(schnelles <strong>und</strong> präzises Zeichnen zwischen zwei Linien), bietet sich<br />
13 Für ältere Kin<strong>de</strong>r ab sieben Jahren existiert mit <strong>de</strong>r motorischen Leistungsserie<br />
ein normiertes Verfahren mit guten Messeigenschaften (NEUWIRTH & BENESCH<br />
2004).<br />
- 105 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
hier auch das schnelle Abschreiben <strong>de</strong>s ABC an, wofür die Kin<strong>de</strong>r<br />
drei Minuten Zeit bekommen (BERNINGER ET AL. 1992). Bei bei<strong>de</strong>n<br />
Verfahren han<strong>de</strong>lt es sich um bereits mehrfach eingesetzte Aufga-<br />
ben zur Einschätzung <strong>de</strong>r fein- <strong>und</strong> schreibmotorischen Leistungsfä-<br />
higkeit (z.B. HENDERSON & SUGDEN 1992; STÖGER ET AL. 2008;<br />
ZIEGLER ET AL. 2008). Dennoch muss beim <strong>de</strong>rzeitigen Stand <strong>de</strong>r<br />
Testentwicklung ein interner Vergleich <strong>de</strong>r Aufgabenleistung <strong>de</strong>s<br />
einzelnen Kin<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>m Gruppenmittelwert <strong>de</strong>r Vorschulklasse<br />
ausreichen, da es sich nicht um normierte Verfahren han<strong>de</strong>lt. Einen<br />
ausführlicheren Überblick über Testverfahren zur Ermittlung <strong>de</strong>s<br />
motorischen Entwicklungsstan<strong>de</strong>s fin<strong>de</strong>t sich bei KROMBHOLZ<br />
(2005), Hinweise auf speziell feinmotorische Verfahren geben zum<br />
Beispiel STRAUSS, SHERMAN <strong>und</strong> SPREEN (2006).<br />
För<strong>de</strong>rung von Un<strong>de</strong>rachievern<br />
Allgemeine Empfehlungen zur För<strong>de</strong>rung von Un<strong>de</strong>rachievern las-<br />
sen sich nur eingeschränkt formulieren, da, wie oben schon ausge-<br />
führt wur<strong>de</strong>, unterschiedliche Gruppen von Un<strong>de</strong>rachievern existie-<br />
ren, die sich in <strong>de</strong>n zugr<strong>und</strong>e liegen<strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>s Un<strong>de</strong>rachie-<br />
vements zum Teil sehr stark unterschei<strong>de</strong>n. Interventionen sollten<br />
<strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>m Korrespon<strong>de</strong>nzprinzip folgen, nach welchem die jewei-<br />
lige Maßnahme immer auf die zuvor i<strong>de</strong>ntifizierte (Haupt)Ursache<br />
ausgerichtet wird (ZIEGLER ET AL. 2000). Während dies bei einer<br />
Sehschwäche, als Beispiel einer Sinnesstörung, durch <strong>de</strong>n Einsatz<br />
einer geeigneten Sehhilfe nachvollziehbar <strong>und</strong> fast banal erscheint,<br />
sind auch kompliziertere Fälle <strong>de</strong>nkbar, bei <strong>de</strong>nen die Hauptursache<br />
nicht ein<strong>de</strong>utig auszumachen ist <strong>und</strong> ein gleichzeitiges Vorgehen<br />
auf mehreren Ebenen angemessener erscheint. Ein typisches Bei-<br />
spiel hierfür wäre eine Interventionsmaßnahme für einen hochbe-<br />
gabten Un<strong>de</strong>rachiever mit einer Aufmerksamkeits<strong>de</strong>fizit-Hyperakti-<br />
vitätsstörung <strong>und</strong> verschie<strong>de</strong>nen Sek<strong>und</strong>ärstörungen (z.B. Depres-<br />
- 106 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
sion, Ticstörung, Störung <strong>de</strong>s Sozialverhaltens). Hier müsste sich<br />
die Maßnahme an Überlegungen orientieren, die ein multimodales<br />
Programm vorsehen <strong>und</strong> von Forschern zur Behandlung von Kin-<br />
<strong>de</strong>rn mit einer ADH-Symptomatik <strong>und</strong> entsprechen<strong>de</strong>n Sek<strong>und</strong>är-<br />
störungen entwickelt wur<strong>de</strong>n (z.B. DÖPFNER 2005). Von <strong>de</strong>r Auf-<br />
klärung <strong>und</strong> Beratung <strong>de</strong>r Eltern <strong>und</strong> Erzieher über Trainings für<br />
Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Interventionen in <strong>de</strong>r Schule bis zur medikamentösen<br />
Therapie wirken diese Programme über mehrere Mechanismen.<br />
Wer<strong>de</strong>n Feinmotorik<strong>de</strong>fizite als Ursache <strong>de</strong>s Un<strong>de</strong>rachievements<br />
i<strong>de</strong>ntifiziert, ist ein Vorgehen entsprechend <strong>de</strong>m beschriebenen<br />
Korrespon<strong>de</strong>nzprinzip sinnvoll, bei <strong>de</strong>m direkt auf die Behebung<br />
von Feinmotorik<strong>de</strong>fiziten abgezielt wird. Eine erste Orientierung<br />
über Möglichkeiten <strong>de</strong>r Behandlung solcher Defizite bieten in die-<br />
sem Zusammenhang Programme zur Behandlung motorischer Ent-<br />
wicklungsstörungen. In <strong>de</strong>r Literatur hierzu wer<strong>de</strong>n prozessorien-<br />
tierte Ansätze <strong>und</strong> aufgabenorientierte Ansätze unterschie<strong>de</strong>n<br />
(SUDGEN & CHAMBERS 1998). Prozessorientierte Ansätze basieren<br />
auf <strong>de</strong>r Annahme, dass durch gezielte <strong>und</strong> differenzierte senso-<br />
o<strong>de</strong>r psychomotorische För<strong>de</strong>rprogramme zugr<strong>und</strong>e liegen<strong>de</strong> Defi-<br />
zite (z.B. kinästhetische Probleme) abgebaut wer<strong>de</strong>n können. Auf-<br />
gabenorientierte Ansätze zielen auf die direkte Aneignung von Fer-<br />
tigkeiten ab, die für die Bewältigung konkreter Aufgaben (Anklei-<br />
<strong>de</strong>n, Essen, Malen <strong>und</strong> Zeichnen) wichtig sind. Zu Maßnahmen, die<br />
<strong>de</strong>n prozessorientierten Ansätzen zuzuordnen sind existiert bereits<br />
eine größere Anzahl an Evaluationsstudien. In einem systemati-<br />
schen Überblick über solche Studien wird hierbei vor allem von po-<br />
sitiven Effekten perzeptiv-motorischer Trainings (KEPHARD 1960)<br />
sowie von Programmen zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r sensorischen Integration<br />
berichtet (HILLIER 2007). In bei<strong>de</strong>n Programme wer<strong>de</strong>n gezielte<br />
Übungen (Auge-Hand-Koordination, Formen erkennen, Balancieren)<br />
- 107 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
eingesetzt, um eine Verbesserung <strong>de</strong>r Körperbeherrschung <strong>und</strong><br />
Feinkoordination zu erreichen.<br />
An<strong>de</strong>rs sieht hingegen <strong>de</strong>r Forschungsstand zur Wirksamkeit von<br />
Interventionsprogrammen speziell im Bereich feinmotorischer Defi-<br />
zite aus. Trotz ihrer offensichtlichen Relevanz fin<strong>de</strong>n sich bislang<br />
zur Vorbeugung o<strong>de</strong>r zur Behebung solcher Defizite lei<strong>de</strong>r kaum<br />
systematisch evaluierte Interventionsprogramme. Allerdings konnte<br />
die gr<strong>und</strong>sätzliche Trainierbarkeit <strong>de</strong>r Feinmotorik bereits nachge-<br />
wiesen wer<strong>de</strong>n. Beispielsweise zeigte sich in einer amerikanischen<br />
Trainingsstudie mit 186 Kin<strong>de</strong>rgartenkin<strong>de</strong>rn eine starke För<strong>de</strong>rwir-<br />
kung eines sechsmonatigen Feinmotoriktrainings mit Montessori-<br />
material (RULE & STEWART 2002). In <strong>de</strong>r Studie beschäftigten sich<br />
die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Trainingsgruppe regelmäßig mit Übungen zur präzi-<br />
sen Manipulation kleiner Objekte. In einem feinmotorischen Ab-<br />
schlusstest nach sechs Monaten, bei welchem die Kin<strong>de</strong>r eine be-<br />
stimmte Menge kleiner Geldstücke (unter Zeitvorgabe) in einen<br />
schmalen Schlitz stecken mussten, schnitten die trainierten Kin<strong>de</strong>r<br />
besser ab. Die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kontrollgruppe, welche sich mit <strong>de</strong>m übli-<br />
chen Spielmaterial beschäftigt hatten, waren bei dieser Aufgabe<br />
<strong>de</strong>utlich langsamer.<br />
Erweitert wer<strong>de</strong>n müssen die Überlegungen zu För<strong>de</strong>rmaßnahmen<br />
für Un<strong>de</strong>rachiever, wenn die zugr<strong>und</strong>e liegen<strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>s Un-<br />
<strong>de</strong>rachievement physiologischer Natur sind (Blindheit o<strong>de</strong>r Taub-<br />
heit, starker handmotorischer Tremor) o<strong>de</strong>r nur schwer Verän<strong>de</strong>-<br />
rungen zulassen (z.B. Lernbehin<strong>de</strong>rung). In diesem Fall müssen<br />
u.a. heilpädagogische Maßnahmen zum Einsatz kommen <strong>und</strong> eine<br />
Zusammenarbeit von Experten aus mehreren Bereichen erscheint<br />
unverzichtbar.<br />
- 108 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
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- 111 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Über die Autoren:<br />
Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter<br />
Philipp Martzog<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz:<br />
Philipp Martzog (Dipl. Psychologe)<br />
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Schulpädagogik<br />
Schulforschung, Schulentwicklung <strong>und</strong> Evaluation<br />
Universitätsstr. 31<br />
93053 Regensburg<br />
Germany<br />
Tel.: 0941/943-3652<br />
E-Mail: philipp.martzog@paedagogik.uni-regensburg.<strong>de</strong><br />
Heidrun Stöger<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz:<br />
Prof. Dr. Heidrun Stoeger<br />
Lehrstuhl für Schulpädagogik<br />
Schulforschung, Schulentwicklung <strong>und</strong> Evaluation<br />
Universitätsstr. 31<br />
93053 Regensburg<br />
Germany<br />
Tel.: 0049-941/943-1700<br />
Fax: 0049-941/943-1993<br />
E-Mail: heidrun.stoeger@paedagogik.uni-regensburg.<strong>de</strong><br />
Albert Ziegler<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz:<br />
Prof. Dr. Dr. Albert Ziegler<br />
Institut für Pädagogik<br />
Pädagogische Psychologie<br />
Universität Ulm<br />
Albert-Einstein-Allee 47<br />
89081 Ulm<br />
Zu zitieren als:<br />
MARTZOG, Philipp; STÖGER, Heidrun; ZIEGLER, Albert: Neue empirische Bef<strong>und</strong>e zum<br />
Un<strong>de</strong>rachievement Hochbegabter. In: Heilpädagogik online 02/09, 90-112<br />
http://www.heilpaedagogik-online.com/2009/heilpaedagogik_online_0209.pdf,<br />
Stand: Datum <strong>de</strong>s Abrufs<br />
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- 112 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Christine Sontag & Julia Schäfer<br />
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Im Beitrag wird auf verschie<strong>de</strong>ne För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für<br />
Hochbegabte eingegangen. Zunächst wer<strong>de</strong>n die in Deutschland<br />
gängigsten Akzelerations- <strong>und</strong> Enrichmentmaßnahmen<br />
beschrieben <strong>und</strong> aus empirisch-wissenschaftlicher Sicht bewertet.<br />
Da im Einzelfall eine für die jeweiligen Personen<br />
sinnvolle Kombination aus För<strong>de</strong>rmaßnahmen zusammengestellt<br />
wer<strong>de</strong>n muss, wer<strong>de</strong>n im Weiteren integrierte För<strong>de</strong>rstrategien<br />
thematisiert. Vor <strong>de</strong>m Hintergr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Gestaltung<br />
individueller Lernpläne wird auch die För<strong>de</strong>rung Hochbegabter<br />
mit Beeinträchtigungen diskutiert.<br />
Schlüsselwörter: Hochbegabte, <strong>Son<strong>de</strong>rpädagogik</strong>, Bildung <strong>und</strong> Erziehung,<br />
Schüler, Begabtenför<strong>de</strong>rung<br />
In general, a wi<strong>de</strong> variety of educational services and programs<br />
is available to gifted persons. Initially, the most common<br />
methods of acceleration and enrichment are <strong>de</strong>scribed<br />
and assessed from an empirical-scientific point of view. Because<br />
in each particular case a sensible combination of measures<br />
should be compiled to fit the respective persons’ goals<br />
and needs, integrated strategies are addressed next.<br />
Against the backgro<strong>und</strong> of creating individual learning<br />
plans, the promotion of gifted individuals with specific disabilities<br />
is discussed.<br />
Keywords: Gifted, Special Education, Education, Stu<strong>de</strong>nts, Programs for Gifted<br />
Stu<strong>de</strong>nts<br />
1. Warum alle Hochbegabten gezielt geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n<br />
müssen<br />
Wenn man die pädagogische Maxime ernst nimmt, je<strong>de</strong>n Schüler<br />
gemäß seiner individuellen Lernvoraussetzungen zu för<strong>de</strong>rn, sollten<br />
selbstverständlich auch hochbegabte Schüler gezielt geför<strong>de</strong>rt wer-<br />
<strong>de</strong>n (ZIEGLER 2008). Mit einer angemessenen Unterstützung in<br />
herausfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Lernsituationen machen Hochbegabte etwa die<br />
Erfahrung, sich für ein gutes Ergebnis anstrengen zu müssen <strong>und</strong><br />
haben die Möglichkeit, effiziente Arbeitsstrategien zu entwickeln,<br />
- 113 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
wodurch mittelfristig Motivationsprobleme vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong><br />
Schüler ihr Potential umfassen<strong>de</strong>r nutzen können. Nach<strong>de</strong>m in<br />
Deutschland lange Zeit die Ansicht vorherrschte, Begabte bräuch-<br />
ten keine beson<strong>de</strong>re Unterstützung, setzt sich nun zunehmend die<br />
Sichtweise durch, dass die gezielte För<strong>de</strong>rung hochbegabter Perso-<br />
nen nicht nur sinnvoll, son<strong>de</strong>rn auch notwendig ist (vgl. VOCK,<br />
PRECKEL & HOLLING 2007).<br />
Dies erscheint nicht zuletzt aus politischer <strong>und</strong> wirtschaftlicher Per-<br />
spektive angebracht. Wirtschaftswissenschaftler belegten einen po-<br />
sitiven Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>n mittleren Schulleistungen <strong>und</strong><br />
<strong>de</strong>m Wirtschaftswachstum in einem Land (HANUSHEK & WÖSS-<br />
MANN 2007). Zu höheren Durchschnittsleistungen können selbst-<br />
verständlich auch verbesserte Leistungen Hochbegabter beitragen.<br />
Darüber hinaus sind aber auch Spitzenleistungen <strong>und</strong> Innovationen<br />
für <strong>de</strong>n Wirtschafts- <strong>und</strong> Bildungsstandort unverzichtbar (AMMER-<br />
MÜLLER & LAUER 2007).<br />
1.1 Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung <strong>und</strong> <strong>Son<strong>de</strong>rpädagogik</strong><br />
Während im englischsprachigen Raum Hochbegabte per Definition<br />
<strong>de</strong>n exceptional children <strong>und</strong> somit <strong>de</strong>r <strong>Son<strong>de</strong>rpädagogik</strong> zugerech-<br />
net wer<strong>de</strong>n, wird das Thema <strong>Hochbegabung</strong> im <strong>de</strong>utschsprachigen<br />
Raum erst in jüngerer Zeit auch im Kontext <strong>de</strong>r <strong>Son<strong>de</strong>rpädagogik</strong><br />
behan<strong>de</strong>lt (etwa PERLETH 2000). Diskutiert wird u.a., ob <strong>de</strong>r Auf-<br />
trag <strong>de</strong>r <strong>Son<strong>de</strong>rpädagogik</strong> die För<strong>de</strong>rung aller Hochbegabter umfas-<br />
sen kann o<strong>de</strong>r ob nur einem Teil <strong>de</strong>r Hochbegabten son<strong>de</strong>rpädago-<br />
gischer För<strong>de</strong>rbedarf zugeschrieben wer<strong>de</strong>n kann. GYSELER, <strong>de</strong>r<br />
2003 erstmals eine theoretische Einordnung <strong>de</strong>s Themas Hochbe-<br />
gabung in die <strong>de</strong>utschsprachige <strong>Son<strong>de</strong>rpädagogik</strong> vorlegte,<br />
schränkt das Konzept <strong>de</strong>r „Personen mit beson<strong>de</strong>ren pädagogi-<br />
schen Bedürfnissen“ auf diejenigen Hochbegabten ein, bei <strong>de</strong>nen<br />
„das Erreichen vorgegebener Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungsziele gefähr-<br />
- 114 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
<strong>de</strong>t ist“ (2003, 136). PERLETH hingegen weist auch auf die anglo-<br />
amerikanische Argumentationslinie hin, nach <strong>de</strong>r Hochbegabten ge-<br />
nerell ein beson<strong>de</strong>rer pädagogischer För<strong>de</strong>rbedarf attestiert wer<strong>de</strong>n<br />
kann, da sie sich wie Behin<strong>de</strong>rte im Extrembereich bezüglich be-<br />
stimmter Merkmale befin<strong>de</strong>n. Im Laufe unseres Beitrags wird <strong>de</strong>ut-<br />
lich wer<strong>de</strong>n, dass das Ziel einer Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung, die diesen<br />
Namen verdient, nicht sein kann, dass Hochbegabte „vorgegebene“<br />
Ziele erreichen, son<strong>de</strong>rn dass Hochbegabte in die Lage versetzt<br />
wer<strong>de</strong>n müssen, ihrem Potential entsprechen<strong>de</strong> Ziele zu verfolgen.<br />
Bildungspolitisch ist die Anerkennung eines speziellen För<strong>de</strong>rbe-<br />
darfs mit <strong>de</strong>r Zuweisung beson<strong>de</strong>rer Ressourcen verb<strong>und</strong>en. In die-<br />
sem Zusammenhang ist anzumerken, dass <strong>Hochbegabung</strong> in <strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>utschen Empfehlungen <strong>de</strong>r Kultusministerkonferenz zum son<strong>de</strong>r-<br />
pädagogischen För<strong>de</strong>rbedarf (KMK 1994) nicht angesprochen wird,<br />
wohingegen in <strong>de</strong>r Schweiz in das Konzept <strong>de</strong>r Personen mit beson-<br />
<strong>de</strong>ren pädagogischen Bedürfnissen explizit auch Hochbegabte ein-<br />
bezogen wer<strong>de</strong>n (vgl. GYSELER 2003).<br />
Von einer engen Zusammenarbeit zwischen Hochbegabten- <strong>und</strong><br />
Son<strong>de</strong>rpädagogen dürften insbeson<strong>de</strong>re Hochbegabte mit Behin<strong>de</strong>-<br />
rung, Lern- o<strong>de</strong>r Verhaltensstörungen profitieren, da sich bisher<br />
keine Subdisziplin <strong>de</strong>r Pädagogik wirklich für sie zuständig fühlte<br />
(YEWCHUK & LUPART 2002). Zu dieser Personengruppe wur<strong>de</strong><br />
auch international bisher relativ wenig pädagogische Forschung be-<br />
trieben, was u.a. daran liegen kann, dass Hochbegabte mit Behin-<br />
<strong>de</strong>rungen o<strong>de</strong>r Beeinträchtigungen min<strong>de</strong>stens zwei Ausnahme-<br />
gruppen gleichzeitig angehören sowie in sich eine sehr heterogene<br />
<strong>und</strong> zahlenmäßig relativ kleine Gruppe darstellen. Immerhin ist ih-<br />
nen in einschlägigen Handbüchern zum Thema <strong>Hochbegabung</strong><br />
(etwa COLANGELO & DAVIS 2003) ein Kapitel gewidmet.<br />
- 115 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
1.2 Integrative o<strong>de</strong>r separate För<strong>de</strong>rung<br />
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Die Frage, ob Schüler mit beson<strong>de</strong>ren pädagogischen Bedürfnissen<br />
integrativ o<strong>de</strong>r separat beschult wer<strong>de</strong>n sollten, wird nach wie vor<br />
kontrovers diskutiert, wobei eine Klärung dadurch erschwert wird,<br />
dass neben wissenschaftlichen Belegen auch Emotionen <strong>und</strong> politi-<br />
sche Interessen die Diskussion bestimmen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> wer-<br />
<strong>de</strong>n im Folgen<strong>de</strong>n neben einigen Ergebnissen wissenschaftlicher<br />
Studien auch politische Entwicklungen skizziert.<br />
Schüler mit För<strong>de</strong>rbedarf im Bereich Lernen bil<strong>de</strong>n mit einem Anteil<br />
von etwa 45% (KMK 2008) die größte Gruppe <strong>de</strong>r Schüler mit son-<br />
<strong>de</strong>rpädagogischem För<strong>de</strong>rbedarf. Seit langem ist aus empirischen<br />
Studien bekannt, dass sich diese Schüler im Bereich Lernen hin-<br />
sichtlich ihres Lern- <strong>und</strong> Leistungsverhaltens in allgemeinen Schu-<br />
len besser entwickeln als in Son<strong>de</strong>rschulen (für einen Überblick vgl.<br />
HILDESCHMIDT & SANDER 1996). BLESS <strong>und</strong> KLAGHOFER (1991)<br />
zeigten zu<strong>de</strong>m, dass die Integration von Schülern mit Lernbeein-<br />
trächtigungen sich nicht nachteilig auf die Leistungsentwicklung be-<br />
gabter Schüler auswirkt. Ähnliche Effekte erhofft sich <strong>de</strong>r Deutsche<br />
Behin<strong>de</strong>rtenrat auch für Schüler mit an<strong>de</strong>ren Behin<strong>de</strong>rungen. Daher<br />
tritt er dafür ein, die Bedingungen für integrative Beschulung zu<br />
verbessern, so dass die Mehrheit dieser Schüler in allgemeinen<br />
Schulen unterrichtet wer<strong>de</strong>n kann (DBR 2008).<br />
Auf politischer Ebene zeichnet sich international ein Trend zur inte-<br />
grativen För<strong>de</strong>rung ab (UN 2006b). Der Deutsche Bildungsrat emp-<br />
fahl bereits 1973 eine integrative Beschulung von Schülern mit Be-<br />
hin<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> Beeinträchtigungen. Von <strong>de</strong>r KMK wur<strong>de</strong> die son-<br />
<strong>de</strong>rpädagogische För<strong>de</strong>rung erst 1994 als Aufgabe aller Schulen <strong>de</strong>-<br />
finiert. Wird bei einem Schüler son<strong>de</strong>rpädagogischer För<strong>de</strong>rbedarf<br />
festgestellt, muss in einem zweiten Schritt über <strong>de</strong>n För<strong>de</strong>rort (Re-<br />
gel- o<strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rschule) entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Von <strong>de</strong>n 484.346<br />
Schülern, bei <strong>de</strong>nen 2006 in Deutschland son<strong>de</strong>rpädagogischer För-<br />
- 116 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
<strong>de</strong>rbedarf diagnostiziert wur<strong>de</strong>, lernten allerdings 84,3% in Son<strong>de</strong>r-<br />
bzw. För<strong>de</strong>rschulen 14 (KMK 2008). Diese im internationalen Ver-<br />
gleich sehr hohe För<strong>de</strong>rschulbesuchsquote wur<strong>de</strong> 2006 auch vom<br />
UN-Son<strong>de</strong>rberichterstatter für das Recht auf Bildung kritisiert (UN<br />
2006a). Laut Artikel 24 <strong>de</strong>s Übereinkommens <strong>de</strong>r Vereinten Natio-<br />
nen über die Rechte von Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungen (UN 2006b)<br />
haben diese ein Recht auf ein integratives Bildungssystem auf allen<br />
Ebenen. Zum 1. Januar 2009 ist dieses Übereinkommen als Gesetz<br />
über die Rechte von Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungen in Deutschland<br />
in Kraft getreten (BGBl 2008).<br />
Da in Deutschland hochbegabte Schüler keinen son<strong>de</strong>rpädagogi-<br />
schen För<strong>de</strong>rbedarf zugesprochen bekommen, verw<strong>und</strong>ert es auch<br />
nicht, dass in einer Befragung betroffene Lehrkräfte, Eltern <strong>und</strong><br />
Schüler eine separate Beschulung Hochbegabter eher ablehnen<br />
(SPARFELDT, SCHILLING & ROST 2004). Kritiker einer separaten<br />
Beschulung führen gerne das Argument an, dass im <strong>de</strong>utschen<br />
Schulsystem mit <strong>de</strong>m Gymnasium bereits eine Schule für Begabte<br />
existiere. Dennoch gibt es auch hierzulan<strong>de</strong> Spezialklassen <strong>und</strong><br />
-schulen für Hochbegabte bzw. Hochleisten<strong>de</strong>. So nimmt etwa die<br />
Schule St. Afra in Meißen ausschließlich hochbegabte bzw. hochleis-<br />
ten<strong>de</strong> Schüler auf. Bisher liegen allerdings keine Evaluationsbefun-<br />
<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>rartigen Spezialschulen vor (VOCK ET AL. 2007), so dass<br />
die För<strong>de</strong>rwirkungen für <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Schulkontext nicht bekannt<br />
sind. Die Christopherus-Schule Braunschweig setzt nach langjähri-<br />
ger Erfahrung mit separaten Hochbegabtenklassen nun ein För<strong>de</strong>r-<br />
konzept um, in <strong>de</strong>ssen Rahmen hochbegabte <strong>und</strong> nicht-hochbegab-<br />
te Schüler gemeinsam, aber gemäß ihrer jeweiligen Lernvorausset-<br />
zungen <strong>und</strong> -zielen lernen. Die von KULIK <strong>und</strong> KULIK (1984) durch-<br />
14 Die Anteile integrativ beschulter Schüler variieren stark zwischen <strong>de</strong>n För<strong>de</strong>rschwerpunkten.<br />
Beispielsweise waren 2006 die Anteile integriert bechulter Schüler<br />
an allen Schülern im jeweiligen För<strong>de</strong>rschwerpunkt wie folgt: För<strong>de</strong>rschwerpunkt<br />
Lernen 15,6%, körperliche <strong>und</strong> motorische Entwicklung 17,4%, Hören<br />
22,6%, Sehen 26,5%.<br />
- 117 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
geführte Metaanalyse internationaler Studien ergab, dass Hochbe-<br />
gabte in Spezialklassen gut geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n können, ohne dass<br />
diese Separation zulasten schwächerer Schüler geht. Auch für<br />
Deutschland sind positive Wirkungen zu verzeichnen (etwa STUMPF<br />
& SCHNEIDER 2008).<br />
Unabhängig davon, ob Hochbegabte son<strong>de</strong>rpädagogischen För<strong>de</strong>r-<br />
bedarf zugesprochen bekommen o<strong>de</strong>r nicht <strong>und</strong> ob im Einzelfall die<br />
integrative o<strong>de</strong>r die separierte För<strong>de</strong>rung als vorteilhafter bewertet<br />
wird, besteht mittlerweile weitgehend Konsens darüber, dass mög-<br />
lichst alle Hochbegabten gezielt geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n sollen.<br />
Wir gehen im Folgen<strong>de</strong>n zunächst auf die in Deutschland gängigs-<br />
ten Arten <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung ein. Im Anschluss beschreiben wir För<strong>de</strong>r-<br />
strategien, die Einzelmaßnahmen integrieren.<br />
2. In Deutschland weit verbreitete För<strong>de</strong>rmaßnahmen<br />
Experten sind sich darin einig (FELS 1999; BMBF 2003; ZIEGLER<br />
2008), dass die notwendige fachliche För<strong>de</strong>rung durch weitere För-<br />
<strong>de</strong>rmaßnahmen ergänzt wer<strong>de</strong>n muss. Vielfach wer<strong>de</strong>n För<strong>de</strong>rmaß-<br />
namen in Akzelerations- <strong>und</strong> Enrichmentmaßnahmen eingeteilt,<br />
wobei in <strong>de</strong>r Praxis diese Trennung oft nicht so klar durchzuhalten<br />
ist (SCHIEVER & MAKER 2003). Vorzeitige Einschulung <strong>und</strong> Über-<br />
springen sind weit verbreitete Akzelerationsmaßnahmen, <strong>de</strong>r Be-<br />
such von Wahl- o<strong>de</strong>r Sommerkursen bekannte Enrichmentmaßnah-<br />
men.<br />
2.1 Akzelarationsmaßnahmen<br />
Unter Akzeleration wer<strong>de</strong>n alle Maßnahmen zusammengefasst, die<br />
ein beschleunigtes Durchlaufen <strong>de</strong>s normalen (Schul-)Curriculums<br />
ermöglichen. In Deutschland am weitesten verbreitet sind die so<br />
- 118 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
genannte vorzeitige Einschulung 15 <strong>und</strong> das Überspringen von Klas-<br />
sen. Auch <strong>de</strong>r Besuch so genannter Schnellläufer-Klassen, Teilun-<br />
terricht in höheren Klassen, Ferienkurse, in <strong>de</strong>nen Schüler das Wis-<br />
sen eines Schuljahres (auch in einzelnen Fächern) erwerben kön-<br />
nen sowie individualisiertes Lernen mit selbstbestimmter Lernge-<br />
schwindigkeit fallen darunter (vgl. ZIEGLER 2008). Der frühzeitige<br />
Besuch universitärer Veranstaltungen kann sowohl als Akzelerati-<br />
ons- als auch als Enrichmentmaßnahme genutzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Frühe Einschulung<br />
Nach<strong>de</strong>m internationale Vergleichsstudien <strong>de</strong>r 1990er-Jahre zeig-<br />
ten, dass <strong>de</strong>utsche Schulanfänger im internationalen Vergleich<br />
recht alt waren, bemüht sich die Bildungspolitik um einen früheren<br />
Beginn <strong>de</strong>r Schullaufbahn. 1997 beschloss die KMK in ihren „Emp-<br />
fehlungen zum Schulanfang“, die Einschulungsphase flexibler zu<br />
gestalten <strong>und</strong> nicht mehr starr am 30.06. als Stichtag festzuhalten.<br />
Seit 2000/01 nutzen einige B<strong>und</strong>eslän<strong>de</strong>r die Möglichkeit, <strong>de</strong>n<br />
Stichtag für die reguläre Einschulung bis auf <strong>de</strong>n 31.12. <strong>de</strong>sselben<br />
Jahres zu verschieben, so dass Kin<strong>de</strong>r, die bis zu diesem Termin<br />
das 6. Lebensjahr vollen<strong>de</strong>n, regulär eingeschult wer<strong>de</strong>n können.<br />
Einige B<strong>und</strong>eslän<strong>de</strong>r verzichten auch auf ein Min<strong>de</strong>stalter für die<br />
Einschulung (BMBF 2003). Im Jahr 2006 wur<strong>de</strong>n b<strong>und</strong>esweit 7,1%<br />
<strong>de</strong>r Schüler vorzeitig eingeschult (KLIEME 2008).<br />
Einige Autoren (etwa FELS 1999) schätzen die frühe Einschulung<br />
zwar als für die Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung nützliche Maßnahme ein,<br />
kritisieren sie aber aus pädagogischer Sicht. In <strong>de</strong>r so genannten<br />
„flexiblen Eingangsstufe“, die seit 1992 in allen B<strong>und</strong>eslän<strong>de</strong>rn au-<br />
ßer im Saarland erprobt wird (EINSIEDLER, MARTSCHINKE & KAM-<br />
15 „Vorzeitig“ bezieht sich hier lediglich darauf, dass Schüler vor einem bestimmten,<br />
gesetzlich festgesetzten Stichtag eingeschult wer<strong>de</strong>n. Um die Assoziation zu<br />
vermei<strong>de</strong>n, es han<strong>de</strong>le sich um eine Einschulung, bevor ein angemessener Entwicklungsstand<br />
erreicht ist, wird gelegentlich <strong>de</strong>r Ausdruck „frühe“ Einschulung<br />
bevorzugt.<br />
- 119 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
MERMEYER 2008), ist die Akzeleration nicht nur organisatorisch ge-<br />
regelt, son<strong>de</strong>rn kann auch pädagogisch begleitet wer<strong>de</strong>n. Je nach<br />
individuellem Fortschritt können hier Schüler die ersten bei<strong>de</strong>n<br />
Schuljahre in 1, 2 o<strong>de</strong>r 3 Jahren durchlaufen.<br />
Aus wissenschaftlichen Untersuchungen in <strong>de</strong>n USA weiß man, dass<br />
– entgegen populärer Befürchtungen – eine vorzeitige Einschulung<br />
bei Hochbegabten i.A. nicht zu emotionalen, sozialen o<strong>de</strong>r Leis-<br />
tungsproblemen führt (zsf. PROCTOR, FELDHUSEN & BLACK 1988).<br />
Eine Studie an einer nie<strong>de</strong>rsächsischen Gr<strong>und</strong>schule, bei <strong>de</strong>r die<br />
meisten <strong>de</strong>r untersuchten vorzeitig eingeschulten Kin<strong>de</strong>r in einem<br />
Intelligenztest leicht überdurchschnittlich abschnitten, kommt hin-<br />
sichtlich <strong>de</strong>r Schulleistungen zu ähnlich positiven Ergebnissen<br />
(HENZE, SANDFUCHS, ZUMHASCH & KOCH 2006). Bei (hoch)be-<br />
gabten <strong>und</strong> motivierten Kin<strong>de</strong>rn scheint die vorzeitige Einschulung<br />
also eine sinnvolle För<strong>de</strong>rmaßnahme darzustellen. Dies gilt umso<br />
mehr, wenn man be<strong>de</strong>nkt, dass das Zurückhalten solcher Kin<strong>de</strong>r zu<br />
einer Erhöhung von Verhaltensproblemen <strong>und</strong> zu einer negativen<br />
Einstellung zur Schule führen kann (PROCTOR ET AL. 1988). Ob ein<br />
Kind vorzeitig eingeschult wer<strong>de</strong>n soll, muss im Einzelfall abgeklärt<br />
wer<strong>de</strong>n. Es besteht Konsens darüber, dass für <strong>de</strong>n erfolgreichen<br />
Verlauf dieser Maßnahme eine überdurchschnittliche kognitive Be-<br />
gabung notwendig ist (PROCTOR ET AL. 1988; BMBF 2003). Güns-<br />
tig wirkt es sich aus, wenn Kin<strong>de</strong>r in Kin<strong>de</strong>rgarten o<strong>de</strong>r Vorschule<br />
bereits Erfahrungen mit strukturierten Gruppen machen konnten<br />
<strong>und</strong> wenn sie gemeinsam mit Fre<strong>und</strong>en eingeschult wer<strong>de</strong>n.<br />
Schwierigkeiten im sozialen Bereich, Ungeschicklichkeit bei manuel-<br />
len Tätigkeiten <strong>und</strong> geringe Ausdauer auf Seiten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zählen<br />
zu <strong>de</strong>n erschweren<strong>de</strong>n Faktoren. Ist die aufnehmen<strong>de</strong> Lehrkraft äu-<br />
ßerst negativ eingestellt, hat die Maßnahme lei<strong>de</strong>r wenig Aussicht<br />
auf Erfolg (PROCTOR ET AL. 1988; FELS 1999).<br />
- 120 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Überspringen<br />
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Die Möglichkeit, individuell eine Klasse zu überspringen ist ebenfalls<br />
in allen B<strong>und</strong>eslän<strong>de</strong>rn gegeben (BMBF 2003). Allerdings unter-<br />
schei<strong>de</strong>n sich die gesetzlichen Regelungen län<strong>de</strong>rspezifisch in De-<br />
tailfragen, etwa ob von <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>schule in die weiterführen<strong>de</strong><br />
Schule gesprungen wer<strong>de</strong>n kann o<strong>de</strong>r nicht. Insgesamt wird diese<br />
Maßnahme immer noch sehr selten genutzt – so selten, dass nicht<br />
einmal die Fallzahlen b<strong>und</strong>esweit erfasst wer<strong>de</strong>n. HEINBOKEL<br />
(1996) zählte während <strong>de</strong>r 1980er-Jahre in Nie<strong>de</strong>rsachsen insge-<br />
samt 311 Springer. Nach<strong>de</strong>m 1995 diesbezügliche schulrechtliche<br />
Bestimmungen gelockert wor<strong>de</strong>n waren, stieg die Zahl <strong>de</strong>r Springer<br />
in Nie<strong>de</strong>rsachsen in <strong>de</strong>n 1990er-Jahren auf 1907 Schüler (HEINBO-<br />
KEL 2004). Während in <strong>de</strong>n untersuchten Zeiträumen in Nie<strong>de</strong>r-<br />
sachsen in 80 bzw. 90% <strong>de</strong>r Fälle in <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>schule gesprungen<br />
wur<strong>de</strong>, zeigen neuere Zahlen aus Bayern ein ausgeglicheneres Bild:<br />
Im Schuljahr 2007/08 gab es 204 (53%) Springer in <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>-<br />
schule <strong>und</strong> 178 (47%) im Gymnasium, 2006/07 waren es 165<br />
(49%) in <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> 169 (51%) im Gymnasium (BAYERI-<br />
SCHES STAATSMINISTERIUM FÜR UNTERRICHT UND KULTUS, auf<br />
Anfrage, 2008).<br />
Einige Autoren (etwa FELS 1999) vermuten, dass Springen in <strong>de</strong>r<br />
Gr<strong>und</strong>schule meist dann notwendig wird, wenn die Möglichkeit <strong>de</strong>r<br />
vorzeitigen Einschulung fälschlicherweise nicht genutzt wur<strong>de</strong>. Über<br />
<strong>de</strong>n besten Zeitpunkt für das Überspringen besteht insgesamt kein<br />
Konsens, vermutlich weil zu viele individuelle (Beginn <strong>de</strong>r Pubertät,<br />
familiäre Umstän<strong>de</strong>) <strong>und</strong> län<strong>de</strong>rspezifische (Zeitpunkt <strong>de</strong>s Über-<br />
gangs in die Sek<strong>und</strong>arstufe, Beginn <strong>de</strong>r Fremdsprachen) Aspekte<br />
bei <strong>de</strong>r Entscheidung beachtet wer<strong>de</strong>n müssen. HEINBOKEL (1996)<br />
rät, Schüler dann springen zu lassen, wenn sie vom Schulunterricht<br />
konstant <strong>und</strong> <strong>de</strong>utlich unterfor<strong>de</strong>rt sind.<br />
- 121 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Ähnlich wie bei <strong>de</strong>r vorzeitigen Einschulung wur<strong>de</strong>n die Befürchtun-<br />
gen, die viele Eltern <strong>und</strong> Lehrkräfte bezüglich <strong>de</strong>s Überspringens<br />
hegen, in wissenschaftlichen Untersuchungen i.A. nicht bestätigt<br />
(einen Überblick geben VOCK ET AL. 2007). Bei <strong>de</strong>n meisten Sprin-<br />
gern traten keine langfristigen emotionalen Schwierigkeiten auf <strong>und</strong><br />
auch die Sozialkontakte gestalteten sich überwiegend zufrie<strong>de</strong>nstel-<br />
lend. Hinsichtlich <strong>de</strong>r Schulnoten verschlechterten sich die Springer<br />
zwar im Durchschnitt geringfügig, doch ernstzunehmen<strong>de</strong> Leis-<br />
tungsprobleme traten nur in wenigen Fällen auf. Insgesamt scheint<br />
– wie bei <strong>de</strong>r vorzeitigen Einschulung – auch für das gelungene<br />
Überspringen eine sorgfältige Diagnostik bei <strong>de</strong>r Entscheidungsfin-<br />
dung notwendig zu sein. Erfolgreiche Springer verfügen über ein<br />
<strong>de</strong>utlich überdurchschnittliches Lernvermögen, eine relativ hohe<br />
Leistungsmotivation, Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer <strong>und</strong> die<br />
Fähigkeit zu selbstständigem Lernen. Ebenso ist es wichtig, dass<br />
alle beteiligten Personen gegenüber <strong>de</strong>r Maßnahme positiv o<strong>de</strong>r zu-<br />
min<strong>de</strong>st neutral eingestellt sind. Auch wenn manche Autoren (etwa<br />
FELS 1999) im Überspringen wie<strong>de</strong>rum eine eher bürokratische als<br />
eine „echte“ pädagogische Intervention sehen, weisen auch die Be-<br />
f<strong>und</strong>e internationaler Metaanalysen darauf hin, dass es zur För<strong>de</strong>-<br />
rung begabter Schüler empfohlen wer<strong>de</strong>n kann (ROBINSON 2004;<br />
ROGERS 2004).<br />
2.2 Enrichment<br />
Unter Enrichment versteht man die inhaltliche o<strong>de</strong>r methodische<br />
Vertiefung bzw. Verbreiterung <strong>de</strong>s regulären Curriculums. Im I<strong>de</strong>al-<br />
fall sind diese Maßnahmen genau an die Bedürfnisse <strong>und</strong> Ziele <strong>de</strong>r<br />
Lernen<strong>de</strong>n angepasst (SCHIEVER & MAKER 2003). Enrichment<br />
kann zum einen im Rahmen binnendifferenzieren<strong>de</strong>r Maßnahmen<br />
im Rahmen <strong>de</strong>s regulären Unterrichts <strong>und</strong> zum an<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>r Form<br />
außerunterrichtlicher Angebote erfolgen. Bekannte Enrichmentmaß-<br />
- 122 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
nahmen sind das Belegen zusätzlicher Fächer o<strong>de</strong>r Kurse sowie die<br />
Teilnahme an Sommerschulen. Auch Schülerwettbewerbe, ergän-<br />
zen<strong>de</strong>r außerschulischer Privatunterricht, etwa in Kunst, Musik o<strong>de</strong>r<br />
Sport, <strong>de</strong>r Besuch von Vorträgen o<strong>de</strong>r die Teilnahme an Exkursio-<br />
nen kann zur emotionalen, persönlichen <strong>und</strong> kognitiven Entwick-<br />
lung beitragen (ZIEGLER 2008).<br />
Zusätzliche Fächer, Wahlfächer, Arbeitsgemeinschaften<br />
Schulen können begabten Schülern die Möglichkeit geben, inner-<br />
halb <strong>de</strong>r regulären Unterrichtszeit zusätzliche Fächer zu belegen,<br />
die im St<strong>und</strong>enplan <strong>de</strong>s gewählten Schulzweiges (noch) nicht vor-<br />
gesehen sind. Vorteilhaft ist hierbei, dass die Schüler ihre Klassen-<br />
gemeinschaft nur st<strong>und</strong>enweise verlassen müssen, schwierig ge-<br />
staltet sich jedoch oft die St<strong>und</strong>enplanorganisation.<br />
Außerhalb <strong>de</strong>s regulären Unterrichts können hochbegabte Schüler<br />
genau wie ihre nicht-hochbegabten Mitschüler Wahlkurse besuchen,<br />
was zwar interessenför<strong>de</strong>rnd wirken kann, aber keine Hochbegab-<br />
tenför<strong>de</strong>rung im eigentlichen Sinne darstellt.<br />
In Ba<strong>de</strong>n-Württemberg wer<strong>de</strong>n seit <strong>de</strong>m Schuljahr 1984/85 Ar-<br />
beitsgemeinschaften für beson<strong>de</strong>rs befähigte Schüler durchgeführt<br />
(LANDESBILDUNGSSERVER BADEN-WÜRTTEMBERG 2009). Im<br />
Rahmen <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Begleitung in <strong>de</strong>n Anfangsjahren<br />
berichteten Teilnehmer v.a. von gestiegener Selbstständigkeit,<br />
Selbstsicherheit <strong>und</strong> soziale Kompetenz, <strong>und</strong> schätzten die Teilnah-<br />
me auch inhaltlich als Gewinn bringend ein. Eine Evaluation anhand<br />
objektiver Leistungsdaten fand jedoch nicht statt (HANY & HELLER<br />
1992).<br />
Sommerkurse<br />
Eine weitere Möglichkeit <strong>de</strong>r außerschulischen För<strong>de</strong>rung stellen<br />
Sommerkurse o<strong>de</strong>r Schüleraka<strong>de</strong>mien dar. Diese sollen hochbegab-<br />
- 123 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
ten Schülern die Gelegenheit bieten, sich zusammen mit ähnlich in-<br />
teressierten <strong>und</strong> befähigten Schülern intensiv <strong>und</strong> in einem ihnen<br />
angemessenen Tempo mit komplexen Themen zu beschäftigen. Die<br />
Anbieter dieser Programme erhoffen sich, dass Teilnehmer diese<br />
beson<strong>de</strong>re Lernsituation als motivierend erleben, sich in ihrer Leis-<br />
tungsbereitschaft unterstützt fühlen <strong>und</strong> darüber hinaus soziale<br />
Kontakte knüpfen können (vgl. OLSZEWSKI-KUBILIUS 2003).<br />
Der bekannteste Sommerkurs in <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esrepublik ist die Deut-<br />
sche SchülerAka<strong>de</strong>mie (DSA 2009), die vom Verein Bildung <strong>und</strong><br />
Begabung e.V. seit 1988 organisiert wird.<br />
Im Jahr 2008 nahmen an <strong>de</strong>n 11 zweiwöchigen Aka<strong>de</strong>mien 900 be-<br />
son<strong>de</strong>rs begabte <strong>und</strong> motivierte Oberstufenschüler teil, die sich mit<br />
unterschiedlichen Themen <strong>de</strong>r Natur-, Geistes- <strong>und</strong> Gesellschafts-<br />
wissenschaften sowie <strong>de</strong>s kulturellen Bereichs beschäftigten. Da<br />
das Niveau <strong>de</strong>r Kurse i.d.R. <strong>de</strong>m universitärer Veranstaltung im<br />
Gr<strong>und</strong>studium entspricht, können die Schüler sich zum einen wis-<br />
senschaftliche Arbeitstechniken aneignen <strong>und</strong> sich zum an<strong>de</strong>ren<br />
hinsichtlich <strong>de</strong>r Studienwahl orientieren.<br />
HELLER <strong>und</strong> NEBER evaluierten die DSA erstmals im Zeitraum von<br />
1993 bis 1997 <strong>und</strong> schlossen später Folgeuntersuchungen an. Im<br />
Fokus <strong>de</strong>r Untersuchung stan<strong>de</strong>n u.a. die Eigenschaften <strong>de</strong>r Teil-<br />
nehmer, die Charakteristik <strong>de</strong>r Kurse <strong>und</strong> die kurz- <strong>und</strong> langfristige<br />
Wirkung <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie (NEBER & HELLER 1997).<br />
Die teilnehmen<strong>de</strong>n Schüler stammten überproportional häufig aus<br />
bildungsnahen Elternhäusern mit hohem sozialen Status, was Kriti-<br />
ker auch auf die Art <strong>de</strong>s Auswahlverfahrens zurückführen. Etwa<br />
75% <strong>de</strong>r teilnehmen<strong>de</strong>n Schüler wur<strong>de</strong>n von ihrer Schule vorge-<br />
schlagen, etwa 20% auf Gr<strong>und</strong> einer erfolgreichen Wettbewerbs-<br />
teilnahme eingela<strong>de</strong>n, die restlichen nominierten sich selbst.<br />
Der durchschnittliche IQ <strong>de</strong>r Teilnehmer lag im kognitiven Fähig-<br />
keitstest (KFT, HELLER, GAEDIKE & WEINLÄNDER 1985) bei 123,<br />
- 124 -<br />
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För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
also im leicht überdurchschnittlichen Bereich. Sowohl Motivation als<br />
auch Selbstsicherheit in Leistungssituationen waren im Vergleich zu<br />
gleichaltrigen Schülern überdurchschnittlich ausgeprägt, ihre eige-<br />
ne Kontaktfähigkeit schätzten die Teilnehmer als durchschnittlich<br />
ein. Als Grün<strong>de</strong> für die Teilnahme führten sie neben <strong>de</strong>m Interesse<br />
an <strong>de</strong>n Kursthemen die Möglichkeit an, vielfältige Kontakte zu<br />
knüpfen (NEBER & HELLER 1997).<br />
Bei <strong>de</strong>r Kursgestaltung setzen die Kursleiter nach eigenen Angaben<br />
vielfältige Lehrmetho<strong>de</strong>n ein <strong>und</strong> strebten höhere kognitive <strong>und</strong> af-<br />
fektive Lernziele an. Sowohl Kursleiter als auch Schüler bewerteten<br />
die Metho<strong>de</strong>nvielfalt, das Kursklima <strong>und</strong> die Möglichkeiten zu ko-<br />
operativem Lernen positiv.<br />
In einer Nachbefragung zeigten sich positive Auswirkungen auf Mo-<br />
tivation, Selbstwirksamkeit <strong>und</strong> soziale Kontakte. Viele Teilnehmer<br />
sahen sich durch <strong>de</strong>n Besuch <strong>de</strong>r DSA in ihrem Studienfachwunsch<br />
bzw. in ihrer -entscheidung bestätigt. Eine neuere Untersuchung<br />
bestätigte, dass die Teilnehmer neben Fakten- auch metakognitives<br />
Wissen erwerben, das sie nach <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie bewusster einsetzten<br />
(NEBER & HELLER 2002). Langfristige Effekte auf die (aka<strong>de</strong>mi-<br />
schen) Berufskarieren <strong>de</strong>r Teilnehmer konnten HANY <strong>und</strong> GROSCH<br />
(2007) 10 Jahre nach <strong>de</strong>r Teilnahme allerdings nicht nachweisen.<br />
2.3 Fazit zur För<strong>de</strong>rwirkung<br />
Will man empirische Bef<strong>und</strong>e zur För<strong>de</strong>rwirkung von Enrichment-<br />
maßnahmen betrachten, stößt man schnell auf zwei Probleme. Zum<br />
einen ist ein Vergleich <strong>de</strong>r teilweise sehr unterschiedlichen Enrich-<br />
mentprogramme überaus problematisch (SCHIEVER & MAKER<br />
2003), zum an<strong>de</strong>ren liegen nur wenig empirische Studien hierzu<br />
vor, sodass die Informationsbasis sehr dünn ist (VOCK 2008). KU-<br />
LIK (1992) konnte in ihrer Metaanalyse aufzeigen, dass För<strong>de</strong>rpro-<br />
gramme, bei <strong>de</strong>nen keine Passung zwischen Maßnahme <strong>und</strong> ausge-<br />
- 125 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
wählten Teilnehmern erreicht wur<strong>de</strong>, nur eine geringe bis gar keine<br />
För<strong>de</strong>rwirkung aufweisen.<br />
Enrichment- <strong>und</strong> Akzelerationsprogramme, bei <strong>de</strong>nen die Passung<br />
gelingt, können einen Leistungsvorsprung von umgerechnet etwa 5<br />
(bei Enrichment) bis 12 Monaten (bei Akzeleration) bewirken (KU-<br />
LIK 1992).<br />
3. Der Lernplan in einer umfassen<strong>de</strong>n För<strong>de</strong>rstrategie<br />
Wie bereits dargestellt, lassen sich für viele traditionelle För<strong>de</strong>r-<br />
maßnahmen positive, wenn auch geringe Wirkungen nachweisen,<br />
wobei die Passung zwischen Lernvoraussetzungen, Lernzielen <strong>und</strong><br />
För<strong>de</strong>rmaßnahme ausschlaggebend für <strong>de</strong>n Erfolg ist. Auf <strong>de</strong>r theo-<br />
retischen Basis von ZIEGLERs Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll (in dieser Ausgabe)<br />
wird im Folgen<strong>de</strong>n dargestellt, wie diese Passung durch das Erstel-<br />
len individueller Lernpläne bzw. die Konstruktion so genannter<br />
Lernpfa<strong>de</strong> erreicht wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Wie die meisten Begabungsmo<strong>de</strong>lle ist auch die Darstellung tradi-<br />
tioneller För<strong>de</strong>rmaßnahmen stark individuumszentriert. ZIEGLER<br />
nimmt in seinem Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll eine systemorientierte Sicht <strong>de</strong>r<br />
<strong>Hochbegabung</strong> ein. <strong>Hochbegabung</strong> wird nicht mehr allein im Indivi-<br />
duum, son<strong>de</strong>rn im System aus Individuum <strong>und</strong> Umwelt verortet.<br />
Außer<strong>de</strong>m stehen nicht Eigenschaften von Personen im Mittelpunkt,<br />
son<strong>de</strong>rn Handlungen. Personen, die in einer bestimmten Umwelt<br />
möglicherweise einmal leistungsexzellente Handlungen durchfüh-<br />
ren, wer<strong>de</strong>n als Talente bezeichnet <strong>und</strong> Personen, für die Leis-<br />
tungsexzellenz wahrscheinlich ist, als Hochbegabte (ZIEGLER<br />
2008). <strong>Hochbegabung</strong> entsteht im Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll aus <strong>de</strong>r Interak-<br />
tion von vier Systemkomponenten. Als Handungsrepertoire (1)<br />
wird die Gesamtheit <strong>de</strong>r Handlungen bezeichnet, die eine Person<br />
momentan durchzuführen in <strong>de</strong>r Lage ist. Wenn Leistungsexzellenz<br />
angestrebt wird, müssen die Ziele (2) darauf ausgerichtet sein, das<br />
- 126 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Handlungsrepertoire in einer Domäne – etwa in <strong>de</strong>r Musik o<strong>de</strong>r in<br />
<strong>de</strong>r Mathematik – zu vergrößern. Personen, die sich in bestimmten<br />
Domänen spezialisieren, müssen auch in ihrer Umwelt (3) geeig-<br />
nete Lernanregungen fin<strong>de</strong>n <strong>und</strong> bei Herausfor<strong>de</strong>rungen unterstützt<br />
wer<strong>de</strong>n. Im so genannten subjektiven Handlungsraum (4) ent-<br />
wickeln Personen Handlungspläne, die sowohl durch objektive Hin-<br />
tergr<strong>und</strong>faktoren als auch durch subjektive Wahrnehmungen <strong>de</strong>r<br />
eigenen Person <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Umwelt beeinflusst wer<strong>de</strong>n. Das Aktiotop<br />
stellt ein System dar, in <strong>de</strong>m alle Komponenten im Zusammenspiel<br />
betrachtet wer<strong>de</strong>n müssen, um Entwicklungschancen zu prognosti-<br />
zieren. Bezüglich <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong>sför<strong>de</strong>rung stellt sich die Frage,<br />
ob Wege i<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n können, die die Erweiterung <strong>de</strong>s<br />
Handlungsrepertoires bis hin zur Leistungsexzellenz in einer Domä-<br />
ne ermöglichen (ZIEGLER 2008). Bei einer solchen Anpassung an<br />
eine Talentdomäne wer<strong>de</strong>n immer spezialisiertere Handlungen not-<br />
wendig. Soll <strong>de</strong>r Weg zur Leistungsexzellenz gelingen, müssen sich<br />
alle Systemkomponenten gemeinsam weiterentwickeln (Koevoluti-<br />
on). Langfristig muss das Aktiotop zum einen seine Modifizierbar-<br />
keit behalten, also ständiges Dazulernen ermöglichen, zum an<strong>de</strong>-<br />
ren aber auch stabil genug sein, um diese ständigen Verän<strong>de</strong>run-<br />
gen auszuhalten.<br />
Viele Maßnahmen sind hauptsächlich auf die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />
jeweiligen Domäne notwendigen Fertigkeiten ausgerichtet. Ein Bei-<br />
spiel hierfür ist die Schule für mathematisch begabte Schüler in No-<br />
vosibirsk, in <strong>de</strong>r Schüler schon früh anspruchsvolle mathematische<br />
Verfahrensweisen erlernen. Da Leistungsexzellenz nur erreicht wer-<br />
<strong>de</strong>n kann, wenn Personen bereit sind, sich immer anspruchsvollere<br />
Ziele zu setzen <strong>und</strong> sich für die Zielerreichung anzustrengen (ZIEG-<br />
LER 2008), müssen auch diese Aspekte geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Lernumwelt kann günstig gestaltet wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m mit professionel-<br />
ler Unterstützung passen<strong>de</strong> För<strong>de</strong>rmaßnahmen ausgewählt wer<strong>de</strong>n.<br />
- 127 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Zu<strong>de</strong>m sollten auch alle relevanten Personen (Lehrer, Familie, ggf.<br />
Fre<strong>und</strong>e) über lernför<strong>de</strong>rliche Unterstützungsmöglichkeiten infor-<br />
miert wer<strong>de</strong>n. Eine langfristige Leistungssteigerung ist wahrschein-<br />
licher, wenn Personen ihre Leistungsfähigkeit nicht unterschätzen<br />
<strong>und</strong> über ein positives Fähigkeitsselbstkonzept verfügen (LINVER &<br />
DAVIS-KEAN 2005).<br />
Da man inzwischen weiß, dass punktuelle För<strong>de</strong>rmaßnahmen in <strong>de</strong>r<br />
Regel keine längerfristigen positiven Effekte erzielen (VOCK ET AL.<br />
2007), sollten mo<strong>de</strong>rne För<strong>de</strong>rstrategien mittel- o<strong>de</strong>r langfristig an-<br />
gelegt sein. GRASSINGER (in dieser Ausgabe) unterschei<strong>de</strong>t bei-<br />
spielsweise die Lernberatung (Beratung zu konkretem Anlass <strong>und</strong><br />
bis zu 2-monatige Begleitung), die Erstellung eines individuellen<br />
Lernplans (bis zu 1 Jahr) sowie die Konstruktion <strong>und</strong> Begleitung ei-<br />
nes Lernpfa<strong>de</strong>s (über mehrere Jahre hinweg). Alle Maßnahmen zie-<br />
len auf die Optimierung <strong>de</strong>s Lernens ab. Sowohl Lernplan als auch<br />
Lernpfad sind auf die gezielte Begabungsför<strong>de</strong>rung hin ausgelegt,<br />
wobei beim Lernpfad Höchstleistungen in einem Gebiet angestrebt<br />
wer<strong>de</strong>n. Wie eine professionelle Diagnostik <strong>und</strong> Beratung im Umfeld<br />
von Beratungsstellen durchgeführt wer<strong>de</strong>n kann, beschreiben STÖ-<br />
GER <strong>und</strong> GRASSINGER (jeweils in dieser Ausgabe). Im Folgen<strong>de</strong>n<br />
ver<strong>de</strong>utlichen wir anhand eines fiktiven Beispiels, wie auch Lehr-<br />
kräfte auf Basis <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls individuelle Lernpläne zur<br />
För<strong>de</strong>rung hochbegabter Schüler erstellen <strong>und</strong> begleiten können.<br />
Ausgangssituation<br />
Jana ist 13 Jahre alt <strong>und</strong> besucht die 8. Klasse eines naturwissenschaftlich-technologischen<br />
Gymnasiums. Sie zeichnet sich<br />
durch sehr gute schulische Leistungen in allen Bereichen aus.<br />
Kleinere Schwierigkeiten bereiten ihr jedoch die Sprachen<br />
(Deutsch <strong>und</strong> die zwei gewählten Fremdsprachen Englisch <strong>und</strong><br />
Französisch). Hier schwankt sie meist zwischen <strong>de</strong>n Noten 2<br />
<strong>und</strong> 3. Probleme im Lesen <strong>und</strong> Rechtschreiben fielen bereits in<br />
<strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>schule auf, worauf <strong>de</strong>r Schulpsychologe eine Lese-<br />
Rechtschreib-Schwäche (LRS) feststellte.<br />
- 128 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Seit ihrer Kindheit beschäftigt sich Jana gerne mit naturwissenschaftlichen<br />
Experimenten <strong>und</strong> verpasst keine Folge ausgesuchter<br />
Kin<strong>de</strong>rwissenssendungen, <strong>de</strong>ren Altersempfehlung teilweise<br />
<strong>de</strong>utlich über Janas Alter liegt. Dieses Interesse für Naturwissenschaften<br />
spiegelt sich auch in ihren Lieblingsfächern<br />
Chemie <strong>und</strong> Physik wi<strong>de</strong>r.<br />
Die Lehrer nehmen Jana als ruhige <strong>und</strong> zurückhalten<strong>de</strong> Schülerin<br />
wahr, die vor allem in <strong>de</strong>n naturwissenschaftlichen, mathematischen<br />
<strong>und</strong> technischen Fächern stets hoch motiviert ist,<br />
sehr gute Leistungen bringt <strong>und</strong> teilweise erstaunlich kreative<br />
Lösungen präsentiert. Ihre Hausaufgaben erledigt Jana effizient<br />
<strong>und</strong> zügig.<br />
Beim Erstellen <strong>de</strong>r Zwischenzeugnisse fällt <strong>de</strong>m Klassenlehrer,<br />
Herrn Seitz, <strong>de</strong>r sehr gute Notendurchschnitt seiner Schülerin<br />
auf. Daher überlegt er, wie er Jana noch besser för<strong>de</strong>rn könnte.<br />
Diagnose<br />
Herr Seitz weiß, dass je<strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rmaßnahme eine Diagnose<br />
vorausgehen muss. Um einen Lernplan für Jana zu erstellen,<br />
betrachtet er die einzelnen Komponenten <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls,<br />
das er auf einer Fortbildung kennen gelernt hat.<br />
Handlungsrepertoire<br />
● Dem Lehrer ist Janas LRS bekannt. Um mehr über<br />
ihre Schwäche in <strong>de</strong>n Sprachen zu erfahren, bespricht<br />
er sich mit <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Fachlehrern.<br />
● Janas Stärken liegen im analytischen Denken <strong>und</strong><br />
selbstständigen Problemlösen. Bei<strong>de</strong>s zeigt sie im<br />
Mathematikunterricht <strong>de</strong>s Klassenlehrers. Auch bei<br />
mündlichen Leistungen in <strong>de</strong>n Sprachen kann Jana<br />
so ihre LRS kompensieren.<br />
Ziele <strong>und</strong> subjektiver Handlungsraum<br />
● Jana ist motiviert, in allen Fächern sehr gute Leistungen<br />
zu erbringen <strong>und</strong> setzt ihre Ziele entsprechend<br />
hoch. Sie erreicht diese meist ohne große Anstrengung.<br />
● Das Erreichen <strong>de</strong>r selbst gesetzten Ziele in <strong>de</strong>n<br />
Sprachen gelingt selten, was die Schülerin frustriert.<br />
Umwelt<br />
● Die Eltern sind froh, dass ihre Tochter sehr gute Noten<br />
hat, wissen aber auch um ihre LRS. <strong>Hochbegabung</strong><br />
war für sie nie ein Thema.<br />
● Da Jana sich über die Schule nicht beschwert, haben<br />
die Eltern eine Unterfor<strong>de</strong>rung ihrer Tochter nie in<br />
Betracht gezogen. Umso überraschen<strong>de</strong>r kommt die<br />
- 129 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Einladung zu einem Gespräch, in <strong>de</strong>m es um die bessere<br />
För<strong>de</strong>rung Janas gehen soll.<br />
Gemeinsam sprechen Herr Seitz, Jana <strong>und</strong> ihre Eltern über die<br />
Situation <strong>und</strong> diskutieren verschie<strong>de</strong>ne För<strong>de</strong>rmöglichkeiten.<br />
Da im Gespräch die massive schulische Unterfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>utlich<br />
wird, wird als erste Konsequenz das Überspringen <strong>de</strong>r 9.<br />
Klasse beschlossen. Später sollen Wettbewerbsteilnahmen <strong>und</strong><br />
das Arbeiten mit Fachmentoren folgen.<br />
Zielformulierung<br />
Als konkretes Ziel wird das Zurechtkommen in <strong>de</strong>r 10. Klasse<br />
in schulischer <strong>und</strong> sozialer Hinsicht festgehalten.<br />
Adaption (För<strong>de</strong>rung)<br />
Gemeinsam beraten Herr Seitz, Jana <strong>und</strong> ihre Eltern, wie dieses<br />
Ziel erreicht wer<strong>de</strong>n kann.<br />
● Sie strukturieren <strong>de</strong>n vorzubereiten<strong>de</strong>n Stoff <strong>und</strong> erstellen<br />
einen entsprechen<strong>de</strong>n Zeitplan. Dabei wird<br />
auch thematisiert, wie <strong>und</strong> in welchem Maße regelmäßige<br />
Familienaktivitäten <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Sommerurlaub<br />
berücksichtigt wer<strong>de</strong>n können. Gemeinsam stellen<br />
sie sicher, dass die erfor<strong>de</strong>rliche Lernzeit zur Verfügung<br />
gestellt wer<strong>de</strong>n kann, was die Modifizierbarkeit<br />
<strong>de</strong>s Aktiotops gewährleistet.<br />
● Einen Teil <strong>de</strong>s Stoffs <strong>de</strong>r 9. Klasse kann Jana während<br />
differenzierter Unterrichtsphasen vorarbeiten.<br />
● Für inhaltliche Fragen stehen die Fachlehrer zur Verfügung.<br />
● Der Schulpsychologe stellt LRS-Übungsmaterial zusammen<br />
<strong>und</strong> berät Jana, wie sie damit ihre Schwierigkeiten<br />
min<strong>de</strong>rn kann.<br />
● Herr Seitz <strong>und</strong> Jana vereinbaren regelmäßige Treffen,<br />
um Fortschritte <strong>und</strong> ggf. Schwierigkeiten beim<br />
Lernen zu besprechen.<br />
Koevolution<br />
Von zentraler Be<strong>de</strong>utung ist, dass sich alle Komponenten <strong>de</strong>s<br />
Aktiotops – Handlungsrepertoire, Ziele, subjektiver Handlungsraum<br />
<strong>und</strong> Umwelt – parallel entwickeln können.<br />
Die fachliche Erweiterung <strong>de</strong>s Handlungsrepertoires wur<strong>de</strong><br />
bereits skizziert. Um <strong>de</strong>r ruhigen Jana die Eingewöhnungsphase<br />
in <strong>de</strong>r neuen Klasse auch hinsichtlich <strong>de</strong>r Sozialkontakte zu<br />
erleichtern, wird ein Treffen mit <strong>de</strong>r Klassensprecherin Teresa<br />
vereinbart. Auf diese Weise sollen schon frühzeitig informelle,<br />
fre<strong>und</strong>schaftliche Kontakte zu <strong>de</strong>n neuen Mitschülern entste-<br />
- 130 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
hen. In <strong>de</strong>r Begrifflichkeit <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls wird dadurch auch die<br />
Stabilität <strong>de</strong>s Aktiotops unterstützt.<br />
Mit <strong>de</strong>m Überspringen wird bereits ein sehr anspruchsvolles<br />
Ziel angestrebt, das Janas Fähigkeiten entspricht. Jana muss<br />
allerdings lernen, dass es in bestimmten Fällen günstiger ist,<br />
sich niedrigere, aber erreichbare Ziele zu setzen. Im Rechtschreibtraining<br />
wird sie lernen, sich kleinere Zwischenziele zu<br />
setzen <strong>und</strong> ihre eigenen Fortschritte positiv zu bewerten.<br />
Wenn sie lernt, ihren Kompetenzzuwachs anzuerkennen <strong>und</strong> in<br />
ihrem subjektiven Handlungsraum zu repräsentieren, wird<br />
das mittelfristig auch ihre Motivation in <strong>de</strong>n Sprachen erhöhen.<br />
Dieser Prozess wird dadurch unterstützt, dass Herr Seitz mit<br />
seiner Klasse eine Unterrichtssequenz zum Thema Ziele setzen<br />
im Mathematikunterricht durchführt.<br />
Die Lernumwelt wird sich in zweifacher Hinsicht weiterentwickeln.<br />
Zum einen durch die Anfor<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r höheren<br />
Jahrgangsstufe <strong>und</strong> zum an<strong>de</strong>ren durch die Kooperation mit<br />
Fachlehrern <strong>und</strong> Eltern, die entsprechend informiert wer<strong>de</strong>n.<br />
Insbeson<strong>de</strong>re die Eltern wollen Herrn Seitz’ Tipp umsetzen, mit<br />
Jana mehr über Lernwege als über ihre Noten zu sprechen.<br />
Dieses Beispiel illustriert, wie auf Basis <strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls Lern-<br />
pläne erstellt wer<strong>de</strong>n können, die auf die individuellen Lernvoraus-<br />
setzungen, -bedürfnisse <strong>und</strong> -ziele zugeschnitten sind. In <strong>de</strong>n Lern-<br />
plan wer<strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong> Maßnahmen (hier: Überspringen) sinnvoll<br />
mit individuell zugeschnittenen Maßnahmen (hier: spezielles Recht-<br />
schreibtraining) kombiniert. Ein entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Vorteil <strong>de</strong>s Aktio-<br />
top-Mo<strong>de</strong>lls als Gr<strong>und</strong>lage für die Begabungsför<strong>de</strong>rung ist die breit<br />
angelegte Diagnostik, die eine individuell angelegte För<strong>de</strong>rung erst<br />
möglich macht. Gera<strong>de</strong> auch hochbegabte Schüler, die momentan<br />
ihr Leistungspotential nicht ausschöpfen <strong>und</strong> Hochbegabte mit Be-<br />
hin<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> Beeinträchtigungen, können durch dieses Vorge-<br />
hen i<strong>de</strong>ntifiziert <strong>und</strong> adäquat geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Die För<strong>de</strong>rstrategie<br />
kann so angelegt wer<strong>de</strong>n, dass Schwächen behoben wer<strong>de</strong>n, wäh-<br />
rend gleichzeitig Leistungsexzellenz angestrebt wird.<br />
- 131 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
4. Fazit<br />
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Eine professionelle Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung ist aus pädagogischen<br />
<strong>und</strong> wirtschaftlichen Grün<strong>de</strong>n unerlässlich. Dass diese För<strong>de</strong>rung<br />
nicht zulasten von Schülern mit Behin<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> Beeinträchti-<br />
gungen gehen darf, versteht sich von selbst. International vertre-<br />
ten einige Forscher (etwa YEWCHUK & LUPART 2002) <strong>de</strong>n Stand-<br />
punkt, dass Gleichheit <strong>und</strong> Exzellenz gleichwertige Ziele sind, die<br />
simultan verfolgt wer<strong>de</strong>n können. Das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll bietet eine<br />
theoretische Gr<strong>und</strong>lage zur Erstellung umfassen<strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rkonzep-<br />
te, die für alle Hochbegabten – auch für diejenigen mit Behin<strong>de</strong>run-<br />
gen <strong>und</strong> Beeinträchtigungen – geeignet erscheinen. Die Tatsache,<br />
dass sowohl in <strong>de</strong>r traditionellen son<strong>de</strong>rpädagogischen För<strong>de</strong>rung<br />
als auch in <strong>de</strong>r Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung mit individuellen Lernplä-<br />
nen gearbeitet wird, <strong>de</strong>utet auf ein Synergiepotential hin. Eine ver-<br />
stärkte Zusammenarbeit könnte dazu beitragen, dass es selbstver-<br />
ständlicher wird, Schülern mit Behin<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> Beeinträchtigun-<br />
gen Wege zu Hochleistungen zu ermöglichen.<br />
- 132 -<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
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- 136 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Über die Autorinnen:<br />
För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte<br />
Christine Sontag<br />
Christine Sontag (Dipl.-Psych.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am<br />
Lehrstuhl für Schulpädagogik <strong>de</strong>r Universität Regensburg<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz:<br />
Christine Sontag (Dipl.-Psych.)<br />
Wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
Philosophische Fakultät II<br />
Lehrstuhl für Schulpädagogik<br />
Schulforschung, Schulentwicklung <strong>und</strong> Evaluation<br />
Universitätsstr. 31<br />
93053 Regensburg<br />
Julia Schäfer<br />
Julia Schäfer, Studium <strong>de</strong>s Lehramtes für Gr<strong>und</strong>schulen, Wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Schulpädagogik <strong>de</strong>r Universität<br />
Regensburg<br />
Zu zitieren als:<br />
SONTAG, Christine; SCHÄFER, Julia: För<strong>de</strong>rmöglichkeiten für Hochbegabte. In: Heilpädagogik<br />
online 02/09, 113-137.<br />
http://www.heilpaedagogik-online.com/2009/heilpaedagogik_online_0209.pdf,<br />
Stand: Datum <strong>de</strong>s Abrufs<br />
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- 137 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Robert Grassinger<br />
Beratung Hochbegabter<br />
Beratung Hochbegabter<br />
Beratung zählt zu <strong>de</strong>n ureigensten Aufgaben heilpädagogischen<br />
Han<strong>de</strong>lns, im Beson<strong>de</strong>ren auch die Beratung Hochbegabter.<br />
In einführen<strong>de</strong>n Zeilen wer<strong>de</strong>n Beratung <strong>und</strong> <strong>Hochbegabung</strong><br />
<strong>de</strong>finiert <strong>und</strong> primär, sek<strong>und</strong>är als auch tertiär<br />
präventive Beratungsanlässe in <strong>de</strong>r Hochbegabtenberatung<br />
vorgestellt. Mit <strong>de</strong>m ENTER-Triple L – Mo<strong>de</strong>ll wird daraufhin<br />
ein evaluiertes Beratungsmo<strong>de</strong>ll beschrieben, das sämtliche<br />
Beratungsanlässe adressiert. Es besteht aus <strong>de</strong>n drei Beratungskonzepten<br />
Lernberatung, Lernplan <strong>und</strong> Lernpfad (Triple<br />
L), die jeweils in fünf Beratungsphasen unterteilt sind:<br />
Explore, Narrow, Testing, Evaluate <strong>und</strong> Review (ENTER). Die<br />
Lernberatung ist indiziert bei primär <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är präventiven<br />
Anlässen, während Lernplan <strong>und</strong> Lernpfad für primär<br />
<strong>und</strong> tertiär präventive Anlässe konzeptualisiert wur<strong>de</strong>n.<br />
Schlüsselwörter: Beratung, <strong>Hochbegabung</strong>, Hochbegabtenberatung, Beratungsanlässe,<br />
primär präventiv, sek<strong>und</strong>är präventiv, tertiär präventiv, Beratungsphasen,<br />
Diagnostik, För<strong>de</strong>rung, Mentoring<br />
Counselling is an essential task for remedial teacher also<br />
counselling the gifted. First, a <strong>de</strong>finition of counselling and<br />
giftedness and primary, secondary and tertiary preventive<br />
causes for counselling the gifted will be presented. After<br />
that the ENTER-Triple L – mo<strong>de</strong>l will be <strong>de</strong>scribed as a mo<strong>de</strong>l<br />
which addresses all causes for counselling the gifted. The<br />
ENTER-Triple L – mo<strong>de</strong>l consists of the counselling concepts<br />
learning-way, learning-plan, and learning-path (Triple L),<br />
which are subdivi<strong>de</strong>d in five counselling-phases: Explore,<br />
Narrow, Testing, Evaluate, and Review (ENTER). The learning-way<br />
is indicated by primary and secondary counsellingcauses,<br />
whereas learning-plan and learning-path are conceptualized<br />
for primary and tertiary causes for counselling<br />
the gifted.<br />
Keywords: Counselling, Giftedness, Counselling the Gifted, Causes for<br />
Counselling the Gifted, Primary Preventive, Secondary Preventive, Tertiary<br />
Preventive, Counselling-Phases, Diagnostic, Fostering the Gifted, Mentoring<br />
- 138 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
Beratung zählt zu <strong>de</strong>n ureigensten Aufgaben heilpädagogischen<br />
Han<strong>de</strong>lns. Etablierte Beratungsfel<strong>de</strong>r sind unter an<strong>de</strong>rem die Erzie-<br />
hungsberatung, Familienberatung o<strong>de</strong>r die Beratung von Kin<strong>de</strong>rn<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen mit Entwicklungsverzögerungen. Beratung hoch-<br />
begabter Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlicher fokussiert junge Menschen, die in<br />
einzelnen Bereichen eine akzelerierte Entwicklung aufweisen, wel-<br />
che Leistungsexpertise in <strong>de</strong>m Begabungsbereich möglich o<strong>de</strong>r<br />
wahrscheinlich erscheinen lässt (ZIEGLER 2005, 2008). Ziel <strong>de</strong>s<br />
folgen<strong>de</strong>n Aufsatzes ist, aufzuzeigen, dass auch die Beratung Hoch-<br />
begabter zu <strong>de</strong>m Aufgabenfeld von Heilpädagogen gezählt wer<strong>de</strong>n<br />
kann, <strong>und</strong>, dass es für die Beratungslandschaft Hochbegabter wün-<br />
schenswert wäre, wenn sich mehr Heilpädagogen mit ihren Kompe-<br />
tenzen <strong>und</strong> Denkweisen hier engagieren. Dazu wer<strong>de</strong>n nach einer<br />
allgemeinen Einführung zu <strong>de</strong>n Themen Beratung <strong>und</strong> Hochbega-<br />
bung Anlässe einer Hochbegabtenberatung beschrieben <strong>und</strong> ein in<br />
<strong>de</strong>r Praxis bewährtes <strong>und</strong> evaluiertes Beratungsmo<strong>de</strong>ll vorgestellt.<br />
Es wird insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>r ganzheitliche An-<br />
satz heilpädagogischen Arbeitens auch in <strong>de</strong>r Beratung Hochbegab-<br />
ter als gewinnbringend anzusehen ist.<br />
Einführung zu <strong>de</strong>n Themen Beratung <strong>und</strong> Hochbega-<br />
bung<br />
Die menschliche Entwicklung ist bis ins hohe Alter bestimmt durch<br />
Anpassungs-, Lern- <strong>und</strong> Verän<strong>de</strong>rungsprozesse. Erfahrungen aus<br />
<strong>de</strong>r Arbeit in psychosozialen <strong>und</strong> sozialpädagogischen Tätigkeitsfel-<br />
<strong>de</strong>rn zeigen, dass viele Menschen Schwierigkeiten haben, aus eige-<br />
ner Kraft diese Herausfor<strong>de</strong>rungen zu meistern <strong>und</strong> sich daher bei<br />
Vertrauten Beratung holen. Diese wird als Laienberatung bezeich-<br />
net <strong>und</strong> reduziert sich häufig auf das Erteilen von Ratschlägen. Pro-<br />
fessionelle Beratung hebt sich davon dadurch ab, dass die Rollen<br />
klar <strong>und</strong> asymmetrisch <strong>de</strong>finiert sind. Während mit <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s<br />
- 139 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
Beraters ein Expertenstatus verb<strong>und</strong>en ist, geht mit <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s<br />
Ratsuchen<strong>de</strong>n einher, etwas in seinem Leben verän<strong>de</strong>rn zu wollen.<br />
Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> lässt sich Beratung <strong>de</strong>finieren als ein Inter-<br />
aktionsprozess zwischen Ratsuchen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Berater(n) mit <strong>de</strong>m<br />
Ziel, die Selbsthilfebereitschaft, Selbststeuerungsfähigkeit <strong>und</strong><br />
Handlungskompetenz <strong>de</strong>s Ratsuchen<strong>de</strong>n bei Entscheidungen, Pro-<br />
blemen <strong>und</strong> Herausfor<strong>de</strong>rungen unter Berücksichtigung seines Um-<br />
weltsystems zu verbessern (KÖNIG & VOLLMER 1999; SICKENDIEK<br />
& NESTMANN 2003). Entscheidungsunsicherheiten o<strong>de</strong>r Probleme<br />
können als mangeln<strong>de</strong> Passung zwischen Umweltanfor<strong>de</strong>rungen<br />
<strong>und</strong> Kompetenzen aufgefasst wer<strong>de</strong>n. Entschei<strong>de</strong>nd ist hierbei,<br />
dass Unsicherheiten o<strong>de</strong>r Probleme nie isoliert, son<strong>de</strong>rn stets vor<br />
<strong>de</strong>m Hintergr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s (sozialen) Kontextes <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Person (z.B.<br />
psychische, körperliche Konstitution) zu verstehen sind. Um das<br />
Ziel einer Beratung zu erreichen, kann <strong>de</strong>r Berater Informationen<br />
vermitteln, Verän<strong>de</strong>rungsprozesse beim Ratsuchen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> in <strong>de</strong>s-<br />
sen Umwelt anstoßen <strong>und</strong> begleiten sowie beim Aufbau von Kom-<br />
petenzen unterstützen (BARTHELMESS 1999). Als Handwerkszeuge<br />
dienen verschie<strong>de</strong>ne Metho<strong>de</strong>n, die sich aus unterschiedlichen<br />
Schulen <strong>de</strong>r Psychologie herausgebil<strong>de</strong>t haben. So greift eine tie-<br />
fenpsychologische Beratung verstärkt auf Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Psychoana-<br />
lyse o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Individualpsychologie zurück. Bei einer verhaltensthe-<br />
rapeutischen Beratung kommen verstärkt Überlegungen aus einem<br />
lernpsychologischen bzw. kognitiv-behavioralen Ansatz zur Anwen-<br />
dung. In einer systemischen Beratung wird eher auf Metho<strong>de</strong>n zu-<br />
rückgegriffen, die auf systemischen sowie kommunikationspsycho-<br />
logischen Mo<strong>de</strong>llen <strong>und</strong> konstruktivistischen Überlegungen beruhen.<br />
Schließlich lassen sich in einer humanistisch geprägten Beratungs-<br />
tätigkeit beispielsweise Metho<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Gestalttherapie, <strong>de</strong>m<br />
Psychodrama o<strong>de</strong>r einer klientenzentrierten Gesprächspsychothera-<br />
pie fin<strong>de</strong>n. Dabei stehen diese Schulen nicht disjunkt nebeneinan-<br />
- 140 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn beeinflussen sich gegenseitig. Selten lässt sich daher<br />
eine spezifische Beratungsmetho<strong>de</strong> nur einer Schule zuordnen.<br />
Dies wird beispielsweise darin <strong>de</strong>utlich, dass die Beziehungs-, Hal-<br />
tungs- <strong>und</strong> Kommunikationsprinzipien <strong>de</strong>r Gesprächspsychothera-<br />
pie (z.B. akzeptieren<strong>de</strong>, empathische <strong>und</strong> zugewandte Haltung) als<br />
Gestaltrahmen für eine beraterische Interaktion in <strong>de</strong>n meisten Be-<br />
ratungskonzepten geschätzt wer<strong>de</strong>n. Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Schulen lassen sich während<strong>de</strong>ssen meist auf verschie<strong>de</strong>ne zugrun-<br />
<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Menschenbil<strong>de</strong>r sowie auf divergieren<strong>de</strong> Gewichtung<br />
einzelner Aspekte <strong>de</strong>s Erlebens <strong>und</strong> Verhaltens von Menschen zu-<br />
rückführen (KRIZ 2001; NESTMANN 1997).<br />
Je<strong>de</strong> Fachberatung fußt auf Theorien <strong>und</strong> Mo<strong>de</strong>llen <strong>de</strong>s jeweiligen<br />
Faches. So gestaltet sich Erziehungsberatung aufbauend auf Theo-<br />
rien zur Erziehung o<strong>de</strong>r Wirtschaftsberatung nach Mo<strong>de</strong>llen wirt-<br />
schaftlichen Han<strong>de</strong>lns. Dementsprechend basiert eine Hochbegab-<br />
tenberatung auf Mo<strong>de</strong>llen <strong>de</strong>r <strong>Hochbegabung</strong>. <strong>Hochbegabung</strong> wird<br />
allgemein als das Potenzial für herausragen<strong>de</strong> Leistungen <strong>de</strong>finiert.<br />
Vor knapp 100 Jahren hat Lewis M. TERMAN vorgeschlagen, dieses<br />
Potenzial mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r Intelligenz zu umschreiben <strong>und</strong> mit<br />
Intelligenztests zu messen (TERMAN 1925). Intelligenz allein als<br />
das Potenzial für Leistungen zu <strong>de</strong>finieren, hat sich allerdings nicht<br />
bewährt, so dass im Laufe <strong>de</strong>r Begabungsforschung weitere Mo<strong>de</strong>l-<br />
le entwickelt wur<strong>de</strong>n, die stärker die Rolle <strong>de</strong>r Kreativität <strong>und</strong> Moti-<br />
vation sowie <strong>de</strong>r Lebensumwelt (z.B. Elternhaus, Schule) betonen<br />
(MÖNKS & KATZKO 2005; RENZULLI 1978, 2005). Ergebnisse <strong>de</strong>r<br />
Expertiseforschung heben stark hervor, dass sich herausragen<strong>de</strong><br />
Leistungen durch ein gezieltes <strong>und</strong> über einen längeren Zeitraum<br />
erstrecken<strong>de</strong>s Lernen entwickeln (ERICSSON 2002; ERICSSON ET<br />
AL. 2007). Dieser ausgeprägte Übungsgedanke wur<strong>de</strong> von Bega-<br />
bungsforschern wie GAGNÉ o<strong>de</strong>r HELLER aufgegriffen <strong>und</strong> fin<strong>de</strong>t<br />
sich in <strong>de</strong>ren Begabungsmo<strong>de</strong>llen wie<strong>de</strong>r (GAGNÉ 2005; HELLER ET<br />
- 141 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
AL. 2005). Einen weiteren Schritt in <strong>de</strong>r Entwicklungsgeschichte <strong>de</strong>r<br />
Begabungsforschung stellt das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll von ZIEGLER dar.<br />
GRASSINGER (2009) konnte zeigen, dass sich das Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll<br />
für die Hochbegabtenberatung als beson<strong>de</strong>rs gewinnbringend er-<br />
weist. Daher wird das Mo<strong>de</strong>ll im Folgen<strong>de</strong>n etwas ausführlicher dar-<br />
gestellt. ZIEGLER (2005, 2008) integriert in seinem Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll<br />
bisherige Forschungsergebnisse aus <strong>de</strong>r Begabungs- sowie Experti-<br />
seforschung <strong>und</strong> ergänzt diese mit systemtheoretischen Überlegun-<br />
gen. Hierbei fokussiert er stark auf die Entwicklung, nicht nur <strong>de</strong>r<br />
Begabungen durch Lernprozesse, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s gesamten Person-<br />
Umwelt-Systems. Er spricht von Talent, wenn es einer Person in ih-<br />
rer Entwicklung möglich ist, Expertise in einer Domäne zu errei-<br />
chen. Ist dies nicht nur möglich, son<strong>de</strong>rn sogar wahrscheinlich, so<br />
bezeichnet ZIEGLER dies als <strong>Hochbegabung</strong>. Schließlich ist eine<br />
Person Experte in einer Domäne, wenn sie Expertise sicher erreicht<br />
hat. Die Zuschreibung dieser Wahrscheinlichkeitsaussage geschieht<br />
durch Experten, wie es beispielsweise im Sport o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Musik in<br />
Form von Talentspähern längst realisiert ist. Talente o<strong>de</strong>r Hochbe-<br />
gabungen erkennen diese Experten dabei an <strong>de</strong>m Ausmaß an<br />
Handlungskompetenzen in <strong>de</strong>r jeweiligen Domäne.<br />
- 142 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Abbildung 1: Aktiotop-Mo<strong>de</strong>ll nach ZIEGLER (2005)<br />
Beratung Hochbegabter<br />
Spielt eine Fünfjährige beispielsweise Fußball, Klavier o<strong>de</strong>r rechnet<br />
Mathematikaufgaben auf <strong>de</strong>m Niveau von Achtjährigen, so zeigt<br />
diese Fünfjährige in unterschiedlichen Begabungsdomänen (Fuß-<br />
ball, Klavier, Mathematik) im Vergleich zu Gleichaltrigen akzelerier-<br />
te Handlungskompetenzen, die, wenn sie weiterhin geför<strong>de</strong>rt wer-<br />
<strong>de</strong>n, herausragen<strong>de</strong> Leistungen in <strong>de</strong>n jeweiligen Domänen ermög-<br />
lichen. Zentral in <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll nach ZIEGLER (2005) sind somit die<br />
Handlungen einer Person (siehe Abbildung 1). Das Ausführen von<br />
Handlungen hängt gemäß <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll von <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Personen-<br />
variablen ab: Handlungsrepertoire (=alle Handlungen, die eine Per-<br />
son prinzipiell ausführen kann), subjektiver Handlungsraum (=Teil-<br />
menge aus <strong>de</strong>m Handlungsrepertoire, die <strong>de</strong>r Person bewusst ist),<br />
Ziele (=Motivation), Umwelt (z.B. dargebotene Lerngelegenheiten).<br />
Mit Blick auf die Entwicklung von Begabungen zu Expertise unter-<br />
streicht ZIEGLER überdies, dass Personen lernen, effiziente <strong>und</strong> in-<br />
effiziente Handlungen zu i<strong>de</strong>ntifizieren, Lerngelegenheiten zu er-<br />
- 143 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
kennen, ihre Handlungen in unterschiedlichen Situationen auszu-<br />
führen, sich an neuen zukünftigen (domänenspezifischen) Anfor<strong>de</strong>-<br />
rungen orientieren <strong>und</strong> darauf achten, stets konstruktives Feedback<br />
zu ihren Handlungen zu erhalten. Beim För<strong>de</strong>rn von Begabungen ist<br />
für ZIEGLER wichtig, darauf zu achten, dass alle Komponenten <strong>de</strong>s<br />
Aktiotops (z.B. Ziele, Handlungsrepertoire, Umwelt) sich im Ein-<br />
klang entwickeln <strong>und</strong> die Person mit ihrer Umwelt, verstan<strong>de</strong>n als<br />
ein lebendiges System, stabil bleibt. Eine ausführliche Darstellung<br />
<strong>de</strong>s Aktiotop-Mo<strong>de</strong>lls kann bei ZIEGLER (2005, 2008) nachgelesen<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Anlässe einer Hochbegabtenberatung<br />
Anlässe einer Hochbegabtenberatung erweisen sich als höchst viel-<br />
fältig. In Anlehnung an CAPLAN (1964) lassen sich diese in primär,<br />
sek<strong>und</strong>är <strong>und</strong> tertiär präventive Anlässe glie<strong>de</strong>rn.<br />
Primär präventive Beratungsanlässe<br />
Bei primär präventiven Beratungsanlässen stehen Fragen <strong>und</strong> Unsi-<br />
cherheiten von Eltern, Lehrkräften, Erzieher(innen) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />
<strong>und</strong> Jugendlicher im Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong>. Ziel einer primär präventiven Be-<br />
ratung ist, (nachhaltige) Probleme o<strong>de</strong>r Störungsbil<strong>de</strong>r zu vermei-<br />
<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Literatur zur Hochbegabtenberatung wer<strong>de</strong>n als Bei-<br />
spiele primär präventiver Beratungsanlässe Unsicherheiten von El-<br />
tern über das An<strong>de</strong>rssein <strong>de</strong>s eigenen Kin<strong>de</strong>s (z.B. altersuntypische<br />
Interessen, hohe Sensibilität), über ihr Erziehungsverhalten <strong>und</strong><br />
über <strong>de</strong>n Umgang mit bestimmten Verhaltensweisen ihres Kin<strong>de</strong>s<br />
beschrieben, was häufig mit einem elterlichen Gefühl <strong>de</strong>r Unzuläng-<br />
lichkeit <strong>und</strong> Überfor<strong>de</strong>rung einhergeht. Als weitere Beratungsanläs-<br />
se wer<strong>de</strong>n ein elterliches (Begabungs-) Diagnosebedürfnis, allge-<br />
meine Fragen zu För<strong>de</strong>rmöglichkeiten <strong>de</strong>s eigenen Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r ge-<br />
- 144 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
zielte Fragen nach Informationen zu <strong>und</strong> Unterstützung bei einer<br />
Begabungsför<strong>de</strong>rung in <strong>und</strong> außerhalb <strong>de</strong>r Schule angeführt.<br />
Mit Blick auf die Passung zwischen Kind/ Jugendlicher <strong>und</strong> Umwelt<br />
stellen Unterfor<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r Langeweile die häufigsten Beratungs-<br />
anlässe dar. So sind Fragen nach einer vorzeitigen Einschulung<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Überspringen einer Jahrgangsstufe typische Anlässe für<br />
Beratungen. Auch Entscheidungsschwierigkeiten bei <strong>de</strong>r Frage nach<br />
<strong>de</strong>r Wahl eines geeigneten Schultyps o<strong>de</strong>r einer geeigneten Fächer-<br />
kombination sind unter primär präventive Beratungsanlässe zu sub-<br />
sumieren. (ELBING 2000; FEGER & PRADO 1998; KELLER 1992;<br />
SCHILLING ET AL. 2002)<br />
Sek<strong>und</strong>är präventive Beratungsanlässe<br />
Bei sek<strong>und</strong>är präventiven Beratungsanlässen sind aktuell bestehen-<br />
<strong>de</strong> Probleme im Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong>. Ziel sek<strong>und</strong>är präventiver Beratung<br />
ist, beim Bewältigen dieser Probleme zu helfen. Auf Seiten <strong>de</strong>s<br />
schulischen Lern- <strong>und</strong> Leistungsverhaltens wird Un<strong>de</strong>rachievement-<br />
verhalten – <strong>de</strong>finiert als signifikante Diskrepanz zwischen kogniti-<br />
ven Fähigkeiten <strong>und</strong> schulischen Leistungen – als <strong>de</strong>r häufigste Be-<br />
ratungsanlass genannt (ELBING 2000; FEGER & PRADO 1998,<br />
SCHILLING ET AL. 2002). Nach KELLER (1992) zählen zu<strong>de</strong>m<br />
Schwierigkeiten im Lern- <strong>und</strong> Arbeitsverhalten, erhöhte Misser-<br />
folgsmotivation <strong>und</strong> mangeln<strong>de</strong> Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub<br />
zu <strong>de</strong>n Beratungsanlässen Hochbegabter. Darüber hinaus wer<strong>de</strong>n<br />
vermutete Aufmerksamkeits<strong>de</strong>fizit- bzw. Hyperaktivitätsstörungen<br />
o<strong>de</strong>r auffällige Schwierigkeiten beim Erwerb <strong>de</strong>s Lesens <strong>und</strong> <strong>de</strong>s<br />
Rechtschreibens als sek<strong>und</strong>är präventive Beratungsanlässe berich-<br />
tet. Auch Perfektionismus, bessere Leistungen an<strong>de</strong>rer zu ertragen,<br />
<strong>de</strong>pressive Verstimmung <strong>und</strong> Aufgabenverweigerung wer<strong>de</strong>n als<br />
Beratungsanlässe genannt (ELBING 2000; FEGER & PRADO 1998;<br />
WITTMANN 2003).<br />
- 145 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
In Bezug auf das Sozialverhalten hochbegabter Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugend-<br />
licher fin<strong>de</strong>t man in <strong>de</strong>r Literatur Probleme im sozialen Anschluss<br />
o<strong>de</strong>r allgemeine Schwierigkeiten im Umgang mit Peers bis hin zu<br />
Mobbing. Auch von Schwierigkeiten in <strong>de</strong>r Lehrer-Schüler-Bezie-<br />
hung o<strong>de</strong>r von Geschwisterrivalitäten ist zu lesen (ELBING 2000;<br />
FEGER & PRADO 1998; SCHILLING ET AL. 2002). Überdies wird das<br />
Empfin<strong>de</strong>n einzelner hochbegabter Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlicher, an<strong>de</strong>rs<br />
zu sein, als problematisch berichtet .<br />
Mit Blick auf das soziale Umfeld fand ELBING (2000) bei Eltern <strong>und</strong><br />
Lehrkräften ein inadäquates Begabungsverständnis sowie eine ein-<br />
seitige Leistungsattribuierung auf Begabung. WITTMANN (2003)<br />
berichtet von elterlichen Konflikten aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher Ein-<br />
schätzung <strong>de</strong>r Begabungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s sowie von Auseinan<strong>de</strong>rset-<br />
zungen zwischen Eltern <strong>und</strong> Lehrkräften bezüglich intellektueller<br />
Bedürfnisse <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r. Schließlich konnte HELLER (2005) ungüns-<br />
tige Reaktionen von Lehrkräften, Eltern <strong>und</strong> Peers auf die Hochbe-<br />
gabung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s beobachten.<br />
Tertiär präventive Beratungsanlässe<br />
Bei tertiär präventiven Beratungsanlässen ist die Entwicklung von<br />
<strong>Hochbegabung</strong> hin zu Exzellenz in einer Domäne zentral. Unbestrit-<br />
ten bedarf es für die Genese von Leistungsexzellenz eines zeitlich<br />
ausge<strong>de</strong>hnten Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsprozesses, <strong>de</strong>r mehr als<br />
10000 effiziente Lernst<strong>und</strong>en umfasst (ERICSSON ET AL. 2007).<br />
Diesen Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsprozess hochbegabten Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong><br />
Jugendlichen zu ermöglichen <strong>und</strong> aktiv mitzugestalten, <strong>de</strong>finiert<br />
GRASSINGER (2009) als tertiär präventiven Beratungsanlass. Er<br />
begrün<strong>de</strong>t dies mit <strong>de</strong>m individuellen Recht auf Bildungschancen<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Bedarf an Experten für politische, öko-<br />
logische sowie ökonomischen Herausfor<strong>de</strong>rungen (HELLER & HANY<br />
1996; ZIEGLER ET AL. 2006).<br />
- 146 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
Ein Mo<strong>de</strong>ll zur Beratung Hochbegabter – ENTER-Triple L<br />
Anlaufstellen für eine Hochbegabtenberatung sind beispielsweise<br />
<strong>de</strong>r schulpsychologische Dienst, freie nie<strong>de</strong>rgelassene Psychologen,<br />
Pädagogen o<strong>de</strong>r Ärzte sowie spezielle Hochbegabtenberatungsstel-<br />
len. Letztgenannte sind häufig an Universitäten angesie<strong>de</strong>lt. Dieser<br />
Vielfalt an Möglichkeiten einer Hochbegabtenberatung muss aller-<br />
dings ein Mangel an evaluierten Beratungskonzepten attestiert wer-<br />
<strong>de</strong>n. Zu<strong>de</strong>m sind Beratungskonzepte überwiegend nur für einzelne<br />
Beratungsanlässe konzeptualisiert (MENDAGLIO & PETERSON<br />
2007). GRASSINGER (2009) erweiterte das ursprünglich für I<strong>de</strong>nti-<br />
fikationszwecke entwickelte ENTER-Mo<strong>de</strong>ll 16 (ZIEGLER & STÖGER<br />
2003, 2004) um verschie<strong>de</strong>ne Komponenten zum ENTER-Triple L –<br />
Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Beratung, das gezielt primär, sek<strong>und</strong>är <strong>und</strong> tertiär prä-<br />
ventive Beratungsanlässe adressiert. Im Folgen<strong>de</strong>n soll nun das<br />
ENTER-Triple L – Mo<strong>de</strong>ll etwas ausführlicher dargestellt wer<strong>de</strong>n.<br />
ENTER-Triple L umfasst drei Lernkonzepte: Lernberatung, Lernplan<br />
<strong>und</strong> Lernpfad (Triple L). Je<strong>de</strong>s dieser Konzepte glie<strong>de</strong>rt sich in fünf<br />
Beratungsphasen, die Explore-, Narrow-, Testing-, Evaluate- <strong>und</strong><br />
Review-Phase (ENTER).<br />
16 Für eine Darstellung <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>ntifikationsmo<strong>de</strong>lls vgl. STÖGER in dieser Ausga-<br />
be.<br />
- 147 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
ENTER<br />
Lernberatung<br />
Abbildung 2: Flussdiagramm <strong>de</strong>s ENTER-Triple L – Mo<strong>de</strong>lls<br />
Lernberatung<br />
ENTER<br />
Lernplan<br />
Handlungen <strong>de</strong>s Aktiotops sind…<br />
talentiert hochbegabt exzellent<br />
Beratung Hochbegabter<br />
Die Lernberatung ist konzeptualisiert für primär <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är prä-<br />
ventive Beratungsanlässe. Durch Informationsvermittlung, <strong>de</strong>m An-<br />
regen von Verän<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Unterstützung beim Aufbau von<br />
Kompetenzen wird das Aktiotop eines Ratsuchen<strong>de</strong>n dabei beglei-<br />
tet, talentierte Handlungen in einer Domäne ausführen zu können,<br />
so dass – mit <strong>de</strong>n Worten von ZIEGLER (2005, 2008) – Expertise in<br />
dieser Domäne möglich ist. Als ein Beispiel für talentierte Handlun-<br />
gen führt GRASSINGER (2009) an, dass das Lernprodukt (Leistung)<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Lernprozess (z.B. kognitive Fähigkeiten, Lernverhalten) im<br />
Vergleich zu Gleichaltrigen überdurchschnittlich sind <strong>und</strong> sich das<br />
Aktiotop <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s bzw. Jugendlichen im Fließgleichgewicht befin-<br />
<strong>de</strong>t, d.h. keine Probleme erwartet wer<strong>de</strong>n (primär präventiv) o<strong>de</strong>r<br />
existent sind (sek<strong>und</strong>är präventiv).<br />
Die Explore- <strong>und</strong> Narrow-Phase stellen im ENTER-Triple L – Mo<strong>de</strong>ll<br />
diagnostische Phasen dar. In <strong>de</strong>r Explore-Phase wer<strong>de</strong>n in Form ei-<br />
nes Screenings L-, Q-, <strong>und</strong> T- Daten 17 durch einen persönlichen<br />
17 L steht für Life, Q für Questionnaire <strong>und</strong> T für Test. In Anlehnung an CATTELL<br />
(1973) sind L-Daten allgemeine Informationen zur Person, Q-Daten mit Fragebogen<br />
erhobene Daten <strong>und</strong> T-Daten Testergebnisse.<br />
- 148 -<br />
ENTER<br />
Lernpfad<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
Erstkontakt am Telefon sowie durch je einen Fragebogen an Eltern<br />
<strong>und</strong> Lehrkraft bzw. Erzieher(in) erfasst.<br />
Beispielsweise wer<strong>de</strong>n beim telefonischen Erstkontakt allgemeine<br />
Informationen wie Vor- <strong>und</strong> Nachname <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, Adresse, Tele-<br />
fonnummer o<strong>de</strong>r Beratungsanlass erhoben. Im Fragebogen an eine<br />
Lehrkraft o<strong>de</strong>r Erzieher(in) wer<strong>de</strong>n Verhaltensweisen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s/<br />
Jugendlichen unter an<strong>de</strong>rem zu <strong>de</strong>n Themenbereichen Lern- <strong>und</strong><br />
Leistungsverhalten o<strong>de</strong>r Sozialverhalten erfragt <strong>und</strong> durch einen<br />
Wochenplan regelmäßige Termine sowie Gewohnheiten <strong>de</strong>s Alltags<br />
(z.B. Schulzeiten, Schlafzeiten, regelmäßige Freizeittermine) er-<br />
fasst.<br />
Die Narrow-Phase <strong>de</strong>r Lernberatung stellt <strong>de</strong>n persönlichen Kontakt<br />
vor Ort zwischen Berater <strong>und</strong> Ratsuchen<strong>de</strong>n dar. Im Vergleich zum<br />
Screening während <strong>de</strong>r Explore-Phase wird hier stärker <strong>de</strong>r Bera-<br />
tungsanlass in <strong>de</strong>n Mittelpunkt gerückt. Durch Gespräche mit <strong>de</strong>m<br />
Kind/ Jugendlichen <strong>und</strong> mit <strong>de</strong>n Eltern, durch Fragebögen, Beob-<br />
achtungen <strong>und</strong> durch Testungen wer<strong>de</strong>n diesbezüglich weitere In-<br />
formationen erfasst. Ziel <strong>de</strong>r Narrow-Phase ist es, einen Lernweg<br />
zu fin<strong>de</strong>n, so dass talentierte Handlungen ausgeführt wer<strong>de</strong>n kön-<br />
nen <strong>und</strong> das Aktiotop in ein Fließgleichgewicht kommt o<strong>de</strong>r darin<br />
bleibt.<br />
Die Testing-Phase stellt das Gespräch zwischen Eltern, Kind <strong>und</strong><br />
<strong>de</strong>m Berater dar, in <strong>de</strong>m die Ergebnisse aus <strong>de</strong>n bisher vorausge-<br />
gangenen diagnostischen Phasen in Form eines Gutachtens darge-<br />
stellt <strong>und</strong> erläutert wer<strong>de</strong>n. Zu<strong>de</strong>m wird in dieser Phase ein poten-<br />
zieller Lernweg hin zu talentierten Handlungen vorgestellt <strong>und</strong> an<br />
<strong>de</strong>ssen möglicher Realisierung im Alltag <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Umwelt <strong>de</strong>s Kin-<br />
<strong>de</strong>s/ Jugendlichen gearbeitet. Steht die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Lernverhal-<br />
tens <strong>und</strong> die Beschäftigung mit einer aka<strong>de</strong>mischen Begabungsdo-<br />
mäne im Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong>, wer<strong>de</strong>n die Kin<strong>de</strong>r/ Jugendlichen in <strong>de</strong>r Er-<br />
stellung eines Portfolios instruiert, in <strong>de</strong>ssen Rahmen sie sich for-<br />
- 149 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
schend in ein Themengebiet ihrer Wahl einarbeiten können. Mit ei-<br />
ner Zusammenfassung <strong>de</strong>s Lernweges hin zu talentierten Handlun-<br />
gen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r konkreten Aufgabenverteilung für Eltern, Kind bzw. Ju-<br />
gendlichen <strong>und</strong> Berater schließt die Testing-Phase.<br />
Die Evaluate-Phase stellt eine Begleitung bei <strong>de</strong>r Realisierung <strong>de</strong>s<br />
vereinbarten Lernweges dar <strong>und</strong> umfasst Gespräche <strong>de</strong>s Beraters<br />
mit <strong>de</strong>n Eltern, <strong>de</strong>m Kind <strong>und</strong> bei Bedarf mit weiteren Personen aus<br />
<strong>de</strong>r Umwelt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s (z.B. Lehrkraft). In Anlehnung an an<strong>de</strong>re<br />
Beratungsmo<strong>de</strong>lle sind für die Evaluate-Phase ein bis vier Sitzun-<br />
gen konzeptualisiert (MENDAGLIO & PETERSON 2007). Die Evalua-<br />
te-Phase en<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m Termin für die Review-Phase, <strong>de</strong>r sich aus<br />
<strong>de</strong>m Beratungsanlass <strong>und</strong> <strong>de</strong>m erarbeiteten Lernweg ergibt. Stellt<br />
beispielsweise das Überspringen einer Jahrgangsstufe die För<strong>de</strong>r-<br />
maßnahme dar, so fin<strong>de</strong>t die Review-Phase ca. vier bis sechs Wo-<br />
chen nach <strong>de</strong>m Sprung in die neue Lernumwelt statt, so dass auch<br />
die Integration in die neue Klasse sowie das Zurechtkommen mit<br />
<strong>de</strong>n neuen Anfor<strong>de</strong>rungen reflektiert wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Mit <strong>de</strong>r Review-Phase en<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Beratungsprozess einer Lernbera-<br />
tung. Ziele <strong>de</strong>r Review-Phase sind einerseits die summative Evalua-<br />
tion <strong>de</strong>s Lernweges <strong>und</strong> an<strong>de</strong>rerseits ein Ausblick zu weiteren Mög-<br />
lichkeiten <strong>de</strong>r Begabungsför<strong>de</strong>rung. Im Einzelnen wer<strong>de</strong>n die aktu-<br />
elle Situation <strong>und</strong> rückblickend die einzelnen För<strong>de</strong>rmaßnahmen<br />
durch die Eltern <strong>und</strong> das Kind/ <strong>de</strong>n Jugendlichen bewertet. Sofern<br />
das Kind ein Portfolio bearbeitet hat, referiert es in dieser Phase zu<br />
<strong>de</strong>n Inhalten seines Interessengebietes <strong>und</strong> erhält zu seinem Vor-<br />
trag Feedback durch <strong>de</strong>n Berater <strong>und</strong> durch seine Eltern. Weiterhin<br />
wird in <strong>de</strong>r Review-Phase ein Ausblick zu weiteren För<strong>de</strong>rmöglich-<br />
keiten, beispielsweise einem Lernplan (siehe unten), gegeben.<br />
Nach einem Feedback <strong>de</strong>r Eltern <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zum Beratungsge-<br />
schehen <strong>und</strong> nach <strong>de</strong>r Dokumentation <strong>de</strong>s Falles durch <strong>de</strong>n Berater<br />
schließt <strong>de</strong>r Beratungsprozess einer Lernberatung. Die Dokumenta-<br />
- 150 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
tion durch <strong>de</strong>n Berater dient u.a. dazu, dass dieser Erfahrungen mit<br />
einzelnen För<strong>de</strong>rmaßnahmen auswerten <strong>und</strong> veröffentlichen kann,<br />
um damit Praxis <strong>und</strong> Theorie stärker zu vernetzen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Theorie-<br />
bildung Vorschub zu leisten.<br />
Lernplan<br />
Ziel <strong>de</strong>s Lernplans ist es, das Aktiotop dabei zu unterstützen, hoch-<br />
begabte Handlungen ausführen zu können <strong>und</strong> somit die Wahr-<br />
scheinlichkeit, dass das Kind/ <strong>de</strong>r Jugendliche einmal Expertise in<br />
einer Domäne erwirbt, von „möglich“ zu „wahrscheinlich“ zu stei-<br />
gern. GRASSINGER (2009) betont, dass neben <strong>de</strong>m Leistungsni-<br />
veau auch das Fließgleichgewicht <strong>de</strong>s Aktiotops zur Definition von<br />
hochbegabten Handlungen zählt. Das Beratungskonzept <strong>de</strong>s Lern-<br />
plans adressiert primär <strong>und</strong> tertiär präventive Anlässe in <strong>de</strong>r Bera-<br />
tung hochbegabter Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlicher. Analog zum Konzept<br />
<strong>de</strong>r Lernberatung glie<strong>de</strong>rt sich <strong>de</strong>r Lernplan in die fünf Beratungs-<br />
phasen Explore, Narrow, Testing, Evaluate <strong>und</strong> Review.<br />
Mit einem Lernplan soll ein Kind über einen längeren Zeitraum<br />
(min<strong>de</strong>stens sechs Monate) in einer Domäne gezielt geför<strong>de</strong>rt wer-<br />
<strong>de</strong>n. Dazu wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Explore-Phase, analog zur Lernberatung,<br />
erste Informationen zum Kind, zu <strong>de</strong>ssen Umwelt <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Bera-<br />
tungsanlass geklärt. Zu<strong>de</strong>m wer<strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> Kind/ Jugendlicher<br />
darüber informiert, dass Fachmentoring ein zentrales Element <strong>de</strong>s<br />
Lernplans darstellt <strong>und</strong> dass <strong>de</strong>r Lernplan nicht für eine Therapie<br />
klinischer Auffälligkeiten konzeptualisiert ist. Kommen Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong><br />
Jugendliche über die Lernberatung zum Lernplan, so stellt <strong>de</strong>r bis-<br />
herige Beratungsprozess die Explore-Phase dar. Insbeson<strong>de</strong>re die<br />
in <strong>de</strong>n Lebensalltag <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s/ Jugendlichen eingebettete Bearbei-<br />
tung <strong>de</strong>s Portfolios bietet hilfreiche diagnostische Informationen<br />
(KINGORE 1993).<br />
- 151 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
Die Narrow-Phase <strong>de</strong>s Lernplans dient dazu, stärker aktuelle Hand-<br />
lungskompetenzen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s/ Jugendlichen in einer Domäne zu<br />
erfassen. Nach GRASSINGER (2009) wer<strong>de</strong>n beispielsweise das<br />
Lernverhalten in <strong>de</strong>r Begabungsdomäne, aktuelle För<strong>de</strong>rung darin,<br />
zeitliche Ressourcen im Alltag sowie weitere mögliche Lerngelegen-<br />
heiten in <strong>de</strong>r Domäne eruiert. Das Ziel <strong>de</strong>r Narrow-Phase besteht<br />
darin, einen Lernweg hin zu hochbegabten Handlungen zu erarbei-<br />
ten. Verfolgt beispielsweise ein Siebtklässler das Ziel eines Chemie-<br />
studiums, so könnte ein langfristiges Ziel sein, vorzeitig Chemie-<br />
kenntnisse auf Abiturniveau zu erwerben. Als mittelfristiges Ziel<br />
lassen sich die curricularen Inhalte <strong>de</strong>s Schulfaches Chemie ein-<br />
schließlich <strong>de</strong>r zehnten Jahrgangsstufe vorgeben. Ein kurzfristiges<br />
Ziel wäre, innerhalb <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n sechs Monate <strong>de</strong>n Chemie-<br />
stoff <strong>de</strong>r siebten <strong>und</strong> achten Klasse zu beherrschen.<br />
Analog zur Lernberatung stellt die Testing-Phase das Gespräch zwi-<br />
schen <strong>de</strong>m Berater, <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Kind/ Jugendlichen dar, in<br />
<strong>de</strong>m ein möglicher Lernweg skizziert <strong>und</strong> im Gespräch <strong>de</strong>ssen Rea-<br />
lisierung diskutiert wird. Orientiert am Beratungszyklus 11-SCC von<br />
ZIEGLER <strong>und</strong> STÖGER (2007) beginnt die Testing-Phase im Einzel-<br />
nen mit <strong>de</strong>r Präsentation <strong>de</strong>r Ergebnisse aus <strong>de</strong>n diagnostischen<br />
Phasen <strong>und</strong> eines möglichen Lernweges zu hochbegabten Handlun-<br />
gen. Die Eltern <strong>und</strong> <strong>de</strong>r talentierte Schüler kommentieren diesen<br />
Lernweg daraufhin <strong>und</strong> im Gespräch wird dieser auf <strong>de</strong>r Basis aktu-<br />
eller Ressourcen konkretisiert. Zum Beispiel wird im Gespräch ge-<br />
klärt, inwieweit die Eltern fachlich unterstützen können. Anschlie-<br />
ßend wer<strong>de</strong>n Aufgaben <strong>und</strong> Rollen <strong>de</strong>finiert. Insbeson<strong>de</strong>re bei ta-<br />
lentierten Schülern auf weiterführen<strong>de</strong>n Schulen wird hierbei auf<br />
ein Fachmentoring zurückgegriffen. Bevor endgültig eine Entschei-<br />
dung für o<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n diskutierten Lernweg gefällt wird, kommt<br />
<strong>de</strong>m Berater die Rolle zu, alternativen Zeitvertreib anzusprechen,<br />
um zu erreichen, dass das Kind/ <strong>de</strong>r Jugendliche sich auch mögli-<br />
- 152 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
chen Verzichten bewusst ist, wenn er sich dafür entschei<strong>de</strong>t, mehr<br />
Engagement in domainspezifischen Lernprozessen zu zeigen. Nach<br />
<strong>de</strong>r Entscheidung fasst <strong>de</strong>r Berater diese zusammen <strong>und</strong> alle Betei-<br />
ligten wie<strong>de</strong>rholen ihre Aufgaben <strong>und</strong> Rollen während <strong>de</strong>s Lernwe-<br />
ges. Den Abschluss <strong>de</strong>r Testing-Phase stellt die Vereinbarung eines<br />
ersten Teilzieles sowie <strong>de</strong>s (telefonischen) Gesprächstermins <strong>de</strong>r<br />
Evaluate-Phase dar.<br />
In Form eines Mentorings wird das Aktiotop <strong>de</strong>s Schülers/ Jugendli-<br />
chen bei <strong>de</strong>r Entwicklung domänspezifischer hochbegabter Hand-<br />
lungen begleitet. Analog zur Musik o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sport fin<strong>de</strong>n während<br />
<strong>de</strong>r Evaluate-Phase wöchentliche Gespräche zwischen Mentor <strong>und</strong><br />
Schüler statt. Hierbei wer<strong>de</strong>n Aufgaben <strong>de</strong>s Schülers besprochen,<br />
Nachfragen beantwortet <strong>und</strong> auch durch <strong>de</strong>n Mentor die Faszination<br />
<strong>de</strong>r Domäne vorgelebt. Regelmäßig, aber in größerem zeitlichen<br />
Abstand, fin<strong>de</strong>n Gespräche zwischen <strong>de</strong>m pädagogisch-psychologi-<br />
schen Berater <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Kind/ Jugendlichen sowie mit <strong>de</strong>n Eltern<br />
statt, um eine ganzheitliche Entwicklung <strong>de</strong>s Aktiotops formativ zu<br />
begleiten. Themen dieser Gespräche sind u.a. das Erreichen <strong>de</strong>r in<br />
<strong>de</strong>r Testing-Phase vereinbarten Aufgaben <strong>und</strong> Ziele o<strong>de</strong>r die Vorbe-<br />
reitung auf bevorstehen<strong>de</strong> An- bzw. Herausfor<strong>de</strong>rungen. Schließlich<br />
zählt <strong>de</strong>r regelmäßige Austausch zwischen Fachmentor <strong>und</strong> Berater<br />
zu <strong>de</strong>r Evaluate-Phase <strong>de</strong>s Lernplans. Neben <strong>de</strong>r Gewährleistung<br />
<strong>de</strong>s Informationsflusses wird hierbei die Instruktions- <strong>und</strong> Feed-<br />
backqualität <strong>de</strong>s Fachmentors in <strong>de</strong>n Blick genommen <strong>und</strong> bei Be-<br />
darf gezielt geschult, sodass für das Kind/ <strong>de</strong>n Jugendlichen ein op-<br />
timales Feedback existiert. Auch mögliche Schwierigkeiten <strong>de</strong>s<br />
Fachmentors in <strong>de</strong>r Interaktion mit <strong>de</strong>m Kind/ Jugendlichen wer<strong>de</strong>n<br />
thematisiert <strong>und</strong> lösungsorientiert diskutiert. Nach Abschluss <strong>de</strong>s<br />
Lernweges, d.h. nach <strong>de</strong>m Erreichen <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Testing-Phase ge-<br />
steckten Ziele, schließt sich die Review-Phase an.<br />
- 153 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
Die summative Evaluation <strong>de</strong>s Lernweges hin zu hochbegabten<br />
Handlungen stellt die letzte Phase <strong>de</strong>s Beratungskonzeptes Lern-<br />
plan dar. In <strong>de</strong>r Review-Phase wer<strong>de</strong>n dazu einzelne För<strong>de</strong>rmaß-<br />
nahmen bewertet. Zu<strong>de</strong>m gibt <strong>de</strong>r Berater einen Ausblick zu einer<br />
möglichen Intensivierung <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung mit <strong>de</strong>m Ziel, Expertise in<br />
einer Domäne zu erreichen, <strong>de</strong>m Lernpfad. Die Entscheidung für<br />
o<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>r einen Lernpfad muss nicht an Ort <strong>und</strong> Stelle gefällt wer-<br />
<strong>de</strong>n. Im Anschluss daran wer<strong>de</strong>n die Eltern <strong>und</strong> das Kind/ <strong>de</strong>r Ju-<br />
gendliche um konstruktives Feedback zum Beratungsgeschehen<br />
<strong>und</strong> Beratungsprozess gebeten. Zu einem späteren Zeitpunkt dis-<br />
kutieren <strong>de</strong>r Berater <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Fachmentor die Anregungen <strong>de</strong>r El-<br />
tern <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Schülers, wobei auch zugr<strong>und</strong>e liegen<strong>de</strong> Konzepte<br />
(z.B. das <strong>Hochbegabung</strong>smo<strong>de</strong>ll) hinterfragt wer<strong>de</strong>n. Mit <strong>de</strong>r Doku-<br />
mentation <strong>de</strong>s Beratungsfalles durch <strong>de</strong>n Berater en<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Bera-<br />
tungsprozess <strong>de</strong>s Lernplans.<br />
Lernpfad<br />
Das Beratungskonzept <strong>de</strong>s Lernpfa<strong>de</strong>s greift Überlegungen <strong>und</strong><br />
Kenntnisse zur Entwicklung von Expertise auf <strong>und</strong> verfolgt das Ziel,<br />
das Aktiotop eines Kin<strong>de</strong>s bzw. Jugendlichen dabei zu unterstützen,<br />
exzellente Handlungen zu zeigen. Hieraus ergibt sich, dass das Be-<br />
ratungskonzept Lernpfad auf mehrere Jahre ausgelegt ist. Ein Lern-<br />
pfad ist dann indiziert, wenn sich durch weitere intensive För<strong>de</strong>rung<br />
exzellente Handlungen in einer Domäne erreichen lassen. Somit<br />
adressiert <strong>de</strong>r Lernpfad tertiär präventive Beratungsanlässe. Abbil-<br />
dung 2 illustriert, dass <strong>de</strong>r Lernpfad als Fortsetzung eines Lernplans<br />
konzeptualisiert ist. In seinem ENTER-Triple L – Mo<strong>de</strong>ll glie<strong>de</strong>rt<br />
GRASSINGER (2009) <strong>de</strong>n Lernpfad analog zur Lernberatung <strong>und</strong><br />
zum Lernplan in die fünf Beratungsphasen Explore, Narrow, Tes-<br />
tung, Evaluate <strong>und</strong> Review.<br />
- 154 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
Die Explore-Phase <strong>de</strong>s Lernpfa<strong>de</strong>s besteht überwiegend aus <strong>de</strong>r Re-<br />
view-Phase <strong>de</strong>s Lernplans. Sofern ein paar Wochen zwischen einem<br />
Lernplan <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Start eines Lernpfa<strong>de</strong>s durch einen telefonischen<br />
Erstkontakt vergingen, besteht die Explore-Phase aus einem Sich-<br />
ten <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Lernplan vorliegen<strong>de</strong>n Informationen <strong>und</strong> einem<br />
diagnostischen Gespräch mit <strong>de</strong>m Kind bzw. Jugendlichen sowie<br />
<strong>de</strong>ssen Eltern. In diesem Gespräch wer<strong>de</strong>n die vorliegen<strong>de</strong>n Infor-<br />
mationen zum Aktiotop <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s bzw. Jugendlichen aktualisiert<br />
<strong>und</strong> die Domäne konkretisiert.<br />
Basierend auf <strong>de</strong>r Dokumentation zum Lernplan wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Nar-<br />
row-Phase <strong>de</strong>s Lernpfa<strong>de</strong>s weitere anlassbezogene Daten über die<br />
aktuellen Handlungskompetenzen <strong>de</strong>s Aktiotops in einer Domäne<br />
erfasst. Genannt seien beispielsweise Motive für einen Lernpfad,<br />
domänspezifische Kompetenzen <strong>und</strong> Fertigkeiten im Umgang mit<br />
einem Computer o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r englischen Sprache. Basierend auf<br />
<strong>de</strong>m Vergleich zwischen <strong>de</strong>m aktuellen Kompetenzniveau <strong>und</strong> ex-<br />
zellenten Handlungen in einer Domäne wird in <strong>de</strong>r Narrow-Phase<br />
ein Lernweg mit verschie<strong>de</strong>nen Meilensteinen erarbeitet, mit <strong>de</strong>m<br />
Expertise erreicht wer<strong>de</strong>n kann. Je nach Einzelfall existieren Gren-<br />
zen beim zu erreichen<strong>de</strong>n Expertisegrad. Diese Grenzen zu erken-<br />
nen, zählt ebenfalls zu <strong>de</strong>n Aufgaben <strong>de</strong>r Narrow-Phase. Dies un-<br />
terstreicht erneut <strong>de</strong>n Bedarf einer engen Zusammenarbeit zwi-<br />
schen Fachexperten <strong>und</strong> Beratern.<br />
Ziel <strong>de</strong>r Testing-Phase ist es, im Gespräch <strong>de</strong>m Kind/ Jugendlichen<br />
sowie seinen Eltern einen möglichen Lernweg hin zu exzellenten<br />
Handlungen vorzustellen <strong>und</strong> zu konkretisieren. Analog zur Testing-<br />
Phase im Lernplan fin<strong>de</strong>t hierbei <strong>de</strong>r 11-SCC von ZIEGLER <strong>und</strong><br />
STÖGER (2007) Anwendung.<br />
Mit <strong>de</strong>r Evaluate-Phase wird das Erreichen <strong>de</strong>r einzelnen Ziele <strong>und</strong><br />
Meilensteine <strong>de</strong>s Lernpfa<strong>de</strong>s durch eine formative Evaluierung be-<br />
gleitet <strong>und</strong> aktiv unterstützt. Zur Unterstützung erhält <strong>de</strong>r Hochbe-<br />
- 155 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
gabte unterschiedliche Fachmentoren. Angelehnt an die von ZIEG-<br />
LER formulierten Entwicklungsaspekte <strong>de</strong>s Aktiotops hin zu exzel-<br />
lenten Handlungen lassen sich folgen<strong>de</strong> elf Aufgaben <strong>de</strong>s Beraters<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Fachmentoren für die Evaluate-Phase beschreiben. Im Ein-<br />
zelnen sind dies die Mitwirkung bei (1) <strong>de</strong>r Erweiterung <strong>de</strong>s Hand-<br />
lungsrepertoires durch eine För<strong>de</strong>rung von Lernprozessen, Lernin-<br />
halten sowie Lernprodukten, (2) <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Hochbegabten<br />
dahingehend, dass immer mehr effektive Handlungsalternativen im<br />
subjektiven Handlungsraum repräsentiert <strong>und</strong> ineffiziente ausge-<br />
son<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, (3) <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung von Zielen. Dies umfasst die<br />
Stärkung von Zielen, die eine optimale Weiterentwicklung <strong>de</strong>s Ak-<br />
tiotops in Hinblick auf exzellente Handlungen ermöglichen, sowie<br />
die Reduzierung dysfunktionaler Ziele. Des Weiteren ist ein Unter-<br />
stützung in (4) <strong>de</strong>r Gestaltung lernför<strong>de</strong>rlicher Lernumwelten, (5)<br />
<strong>de</strong>r eigenständigen I<strong>de</strong>ntifizierung effizienter <strong>und</strong> ineffizienter<br />
Handlungen, (6) <strong>de</strong>m eigenständigen Erkennen von Lernsituatio-<br />
nen, um effiziente Handlungen einzuüben, (7) <strong>de</strong>r Variation von<br />
Handlungen, um diese unterschiedlichen Aufgabenstellungen an-<br />
passen zu können, <strong>und</strong> (8) <strong>de</strong>r Vorbereitung bevorstehen<strong>de</strong>r An-<br />
<strong>und</strong> Herausfor<strong>de</strong>rungen als Ausgabe <strong>de</strong>finiert. Schließlich sollen Be-<br />
rater <strong>und</strong> Fachmentoren Sorge tragen für (9) die Existenz effekti-<br />
ven Feedbacks zu Lernprozessen in <strong>de</strong>r Domäne, (10) die Existenz<br />
kontinuierlicher Impulse in <strong>de</strong>r Begabungsdomäne, so dass das Ak-<br />
tiotop stets ein dort erreichtes Äquilibrium wie<strong>de</strong>r verlässt <strong>und</strong> sei-<br />
ne Kompetenzen erweitert, <strong>und</strong> (11) die Stabilität <strong>de</strong>s Systems Ak-<br />
tiotop.<br />
GRASSINGER (2009) sieht diese elf Entwicklungsaufgaben in <strong>de</strong>r<br />
Evaluate-Phase realisiert durch die Zusammenarbeit <strong>de</strong>s Hochbe-<br />
gabten <strong>und</strong> seiner Familie mit Berater <strong>und</strong> Fachmentoren. In <strong>de</strong>r<br />
Evaluate-Phase <strong>de</strong>s Lernpfa<strong>de</strong>s arbeiten die Fachmentoren mit un-<br />
terschiedlichen Instruktionsmetho<strong>de</strong>n wie Didactic Lea<strong>de</strong>r-Ansatz`,<br />
- 156 -<br />
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Beratung Hochbegabter<br />
´Anchored Instruction-Ansatz` o<strong>de</strong>r ´Cognitive Apprenticeship-An-<br />
satz´. Der ‚Didactic Lea<strong>de</strong>r-Ansatz’ ist dadurch geprägt, dass Wis-<br />
sensinhalte präsentiert <strong>und</strong> erklärt wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> dass <strong>de</strong>r Hochbe-<br />
gabte angeleitet wird, seine Lernfortschritte festzustellen. Realisiert<br />
ist dies dadurch, dass stets neue Lernziele vereinbart wer<strong>de</strong>n, die<br />
sich an domänspezifischen Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>s<br />
Hochbegabten orientieren. Mit <strong>de</strong>m ‚Anchored Instruction-Ansatz’<br />
soll vor allem träges Wissen vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m es in unter-<br />
schiedlichen Situationen, Problemstellungen o<strong>de</strong>r Fragestellungen<br />
angewen<strong>de</strong>t wird. Beispielsweise kann dies durch die von einem<br />
Fachmentor unterstützte Teilnahme <strong>de</strong>s Hochbegabten an nationa-<br />
len o<strong>de</strong>r internationalen Wettbewerben realisiert wer<strong>de</strong>n. Mit <strong>de</strong>m<br />
‚Cognitive Apprenticeship-Ansatz’ soll <strong>de</strong>r Hochbegabte frühzeitig<br />
an die Arbeitsweise eines Forschers herangeführt wer<strong>de</strong>n. Durch<br />
kooperatives Lernen mit <strong>de</strong>m Fachmentor wird <strong>de</strong>r Hochbegabte<br />
immer mehr in eine Domäne eingeführt <strong>und</strong> allmählich zu einem<br />
echten Mitglied <strong>de</strong>r Expertenkultur. Regelmäßige Diskussionen wis-<br />
senschaftlicher Texte, Planung <strong>und</strong> Durchführung von Studien, Aus-<br />
wertung von erhobenen Daten o<strong>de</strong>r Verfassen gemeinsamer wis-<br />
senschaftlicher Publikationen mit <strong>de</strong>m Fachmentor sind Beispiele,<br />
mit <strong>de</strong>nen die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s ‚Cognitive Apprenticeship-Ansatzes’ reali-<br />
siert wer<strong>de</strong>n kann. Zu<strong>de</strong>m erhält <strong>de</strong>r Hochbegabte in <strong>de</strong>n regelmä-<br />
ßigen Gesprächen mit <strong>de</strong>m Fachmentor Feedback zu seinem Lö-<br />
sungsweg <strong>und</strong> Lernverhalten <strong>und</strong> weitere Lernziele wer<strong>de</strong>n aufge-<br />
zeigt. Durch Impulsfragen <strong>de</strong>s Fachmentors wie ‚Wie bist Du dabei<br />
vorgegangen?’, o<strong>de</strong>r ‚Welche Vor- <strong>und</strong> Nachteile siehst Du in <strong>de</strong>m<br />
einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Lösungsansatz?’ wird zu<strong>de</strong>m die Effizienz ein-<br />
zelner Handlungen thematisiert. Weiterhin wer<strong>de</strong>n Entwicklungsa-<br />
spekte in <strong>de</strong>r Zusammenarbeit zwischen Berater, Hochbegabtem<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Familie beachtet. So regt beispielsweise <strong>de</strong>r Berater<br />
durch Impulsfragen die Suche neuer Lernsituationen (z.B. bei ei-<br />
- 157 -<br />
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Beratung Hochbegabter<br />
nem neuen St<strong>und</strong>enplan in <strong>de</strong>r Schule) o<strong>de</strong>r die rechtzeitige Vorbe-<br />
reitung auf bevorstehen<strong>de</strong> Anfor<strong>de</strong>rungen an.<br />
Analog zu <strong>de</strong>n Konzepten Lernberatung <strong>und</strong> Lernplan wird mit <strong>de</strong>r<br />
Review-Phase <strong>de</strong>r Lernweg summativ evaluiert. Als Kriterium für<br />
das Erreichen exzellenter Handlungen schlägt GRASSINGER (2009)<br />
Ehrungen (z.B. aka<strong>de</strong>mische Titel) o<strong>de</strong>r Publikationen in einschlägi-<br />
ger Fachliteratur (z.B. Zeitschriften) vor. In Einzelgesprächen mit<br />
allen Beteiligten wird überdies das Konzept <strong>de</strong>s Lernpfa<strong>de</strong>s kritisch<br />
beleuchtet, mit <strong>de</strong>m Ziel, es weiterzuentwickeln. Das gilt insbeson-<br />
<strong>de</strong>re bei einem frühzeitigen Ausstieg <strong>de</strong>s Jugendlichen aus <strong>de</strong>m<br />
Lernpfad. Die kritische Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Lernpfad <strong>und</strong><br />
<strong>de</strong>ssen zugr<strong>und</strong>e liegen<strong>de</strong>n Konzepten wird im Berater-Fachmento-<br />
ren-Team diskutiert <strong>und</strong> dokumentiert. Erfahrungen mit unter-<br />
schiedlichen Lernpfa<strong>de</strong>n sollen, nach <strong>de</strong>r Konzeption von GRASSIN-<br />
GER (2009), durch (anonymisierte) Veröffentlichungen einer Fach-<br />
welt präsentiert wer<strong>de</strong>n.<br />
Resümee<br />
Beratung Hochbegabter stellt u.a. aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r vielfältigen Anlässe<br />
eine anspruchsvolle Aufgabe für Berater dar. Sie setzt an aktuellen<br />
Kompetenzen von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen an, betrachtet mo-<br />
mentane Anfor<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Umwelt <strong>und</strong> orientiert sich an Her-<br />
ausfor<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Domäne, um die Entwicklung individueller<br />
Stärken zu ermöglichen (primär <strong>und</strong> teritär präventiv) <strong>und</strong> zugleich<br />
Schwierigkeiten (sek<strong>und</strong>är präventiv) nicht zu vernachlässigen. So-<br />
wohl in <strong>de</strong>r Literatur zu Beratung als auch zu <strong>Hochbegabung</strong> setzt<br />
sich immer mehr durch, dass eine systemische Betrachtungsweise<br />
<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s/ Jugendlichen, die insbeson<strong>de</strong>re auch die Umwelt <strong>und</strong><br />
die Entwicklung berücksichtigt, für praktisches Han<strong>de</strong>ln am frucht-<br />
barsten ist. Mit <strong>de</strong>m ENTER-Triple L – Mo<strong>de</strong>ll wur<strong>de</strong> ein Beratungs-<br />
mo<strong>de</strong>ll vorgestellt, <strong>de</strong>m dieser ganzheitliche Gedanke immanent<br />
- 158 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
ist. Heilpädagogen sind Experten in <strong>de</strong>r ganzheitlichen Betrachtung<br />
von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>und</strong> im Anregen individueller Ent-<br />
wicklungsprozesse. Sie sind daher im Beson<strong>de</strong>ren qualifiziert für die<br />
Aufgaben <strong>de</strong>r Beratung Hochbegabter, sofern sie unter „Stärken zu<br />
stärken“ auch die För<strong>de</strong>rung von Leistungen verstehen.<br />
- 159 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Literatur<br />
Beratung Hochbegabter<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
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- 161 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Beratung Hochbegabter<br />
ZIEGLER, A., FITZNER, T., STÖGER, H. & MÜLLER, T. (2006).<br />
Bildungspolitische Empfehlung zur Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung in<br />
Deutschland. In A. ZIEGLER, T. FITZNER, H. STÖGER & T.<br />
MÜLLER (Hrsg.), Beyond standards - Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung<br />
weltweit (1-5). Bad Boll: Evangelische Aka<strong>de</strong>mie.<br />
ZIEGLER, A. & STÖGER, H. (2007). The role of counseling in the<br />
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MENDAGLIO, & J. S. PETERSON (Eds.), Mo<strong>de</strong>ls of counseling<br />
gifted children, adolescent, and young adults (238-253). Waco,<br />
TX: Prufrock Press.<br />
Über <strong>de</strong>n Autor:<br />
Robert Grassinger<br />
Arbeitsschwerpunkte <strong>und</strong> Forschungsinteressen sind: Beratung,<br />
<strong>Hochbegabung</strong>, Expertiseentwicklung, Selbstreguliertes<br />
Lernverhalten <strong>und</strong> Motivation<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz:<br />
Dr. Robert Grassinger<br />
Pädagogische Psychologie<br />
Universität Ulm<br />
Albert-Einstein-Allee 47<br />
D-89069 Ulm<br />
fon: +49 731 5031131<br />
fax: +49 731 5023072<br />
E-Mail: robert.grassinger@uni-ulm.<strong>de</strong><br />
Zu zitieren als:<br />
GRASSINGER, Robert: Beratung Hochbegabter. In: Heilpädagogik online 02/09, 138-162.<br />
http://www.heilpaedagogik-online.com/2009/heilpaedagogik_online_0209.pdf,<br />
Stand: Datum <strong>de</strong>s Abrufs<br />
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- 162 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
Rezensionen<br />
Greving, Heinrich Kompendium <strong>de</strong>r Heilpäda-<br />
(Hrsg.): gogik Band 1, A-H; <strong>und</strong> Band<br />
2, I-Z.<br />
Troisdorf: Bildungsverlag<br />
Eins 2007<br />
Preis: je 30,90€<br />
ISBN: 978-3-427-04874-9; 978-3-427-04877-0<br />
Mit <strong>de</strong>m in zwei Bän<strong>de</strong>n erschienenen „Kompendium <strong>de</strong>r Heilpäd-<br />
agogik“ hat Heinrich GREVING als Herausgeber eine gleichermaßen<br />
weit gefasste wie kompakte Einführung in das Fachgebiet vorge-<br />
legt. In insgesamt 80 alphabetisch geordneten Artikeln von „Alter“<br />
bis „Zeichen“ wer<strong>de</strong>n wesentliche Begriffe <strong>und</strong> Themen aus <strong>de</strong>r ak-<br />
tuellen Diskussion vorgestellt.<br />
Bei<strong>de</strong> Bücher sind in einer ansprechen<strong>de</strong>n, fest geb<strong>und</strong>enen Ausga-<br />
be erschienen. Die zweifarbige Gestaltung <strong>de</strong>s Textes trägt - z.B.<br />
durch die auch farbliche Hervorhebung von Überschriften - zur opti-<br />
schen Glie<strong>de</strong>rung <strong>und</strong> Übersichtlichkeit bei.<br />
Die inhaltliche Glie<strong>de</strong>rung folgt bei allen Artikeln durchgängig <strong>de</strong>r<br />
gleichen Struktur: Etymologie · Geschichte · Aktuelle Relevanz <strong>und</strong><br />
theoretische Ansätze · Problem- <strong>und</strong> Erfahrungsfel<strong>de</strong>r (optional) ·<br />
Ausblick. Das erleichtert - vor allem beim vergleichen<strong>de</strong>n Lesen -<br />
durchaus die Orientierung, wirkt jedoch bei manchen Begriffen et-<br />
was sperrig. M.E. erweist sich insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r etymologische Zu-<br />
gang bei einigen Themen, wie z.B. „Case-Management“, als nicht<br />
beson<strong>de</strong>rs zielführend bzw. erhellend, so dass es aufschlussreicher<br />
sein könnte nicht einer einheitlichen äußeren Struktur, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r<br />
inneren Logik <strong>de</strong>s Begriffs zu folgen. Manche Autoren interpretieren<br />
<strong>de</strong>n Begriff Etymologie dann auch beeindruckend weit, so dass z.B.<br />
- 163 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
in <strong>de</strong>m Artikel über „Hörbehin<strong>de</strong>rung“ unter <strong>de</strong>r Überschrift Etymo-<br />
logie die Anatomie <strong>de</strong>s Ohres sowie Ursachen von Hörbehin<strong>de</strong>rung<br />
etc. erklärt wer<strong>de</strong>n.<br />
Insgesamt sind die Artikel auf einem fachlich hohen <strong>und</strong> doch zu-<br />
gleich gut verständlichen Niveau angesie<strong>de</strong>lt <strong>und</strong> für Fachleute <strong>und</strong><br />
interessierte Laien gleichermaßen geeignet. Eine große Stärke ist,<br />
dass (insgesamt 51) Autoren gewonnen wer<strong>de</strong>n konnten, die zu<br />
<strong>de</strong>n jeweiligen Begriffen intensiv geforscht <strong>und</strong> diese mitgeprägt<br />
haben. So lernt <strong>de</strong>r Leser nicht nur zentrale Themen <strong>de</strong>r Heilpäd-<br />
agogik, son<strong>de</strong>rn zugleich einige ihrer be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Vertreter ken-<br />
nen.<br />
Einzelne Artikel sind in<strong>de</strong>ssen etwas einseitig gefärbt <strong>und</strong> unter-<br />
schlagen eher, dass innerhalb <strong>de</strong>r Heilpädagogik oft mehrere Sicht-<br />
weisen <strong>und</strong> Ansätze diskutiert wer<strong>de</strong>n. So ist etwa <strong>de</strong>r Artikel über<br />
„Entwicklung“ ein<strong>de</strong>utig aus einer psychologischen Perspektive ver-<br />
fasst, wiewohl es daneben originär pädagogisch orientierte Zugän-<br />
ge zu diesem Begriff gibt.<br />
Teilweise wird die Weite <strong>de</strong>r fachlichen Diskussion in <strong>de</strong>n ergänzen-<br />
<strong>de</strong>n Literaturhinweisen aufgegriffen, die am En<strong>de</strong> je<strong>de</strong>s Artikels<br />
stehen. Sie sind kommentiert <strong>und</strong> eröffnen <strong>de</strong>m Leser dadurch eine<br />
gute Orientierung über eine mögliche vertiefen<strong>de</strong> Lektüre <strong>und</strong> Be-<br />
schäftigung mit <strong>de</strong>m Thema.<br />
Eine große Stärke dieses - <strong>und</strong> nebenbei bemerkt: eigentlich je<strong>de</strong>n<br />
guten - Kompendiums besteht darüber hinaus nicht nur in <strong>de</strong>r Ein-<br />
führung in einzelne Begriffe, son<strong>de</strong>rn insbeson<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>r Zusam-<br />
menschau <strong>de</strong>r wesentlichen Themen <strong>de</strong>s Faches - dies zumal im<br />
Zeitalter <strong>de</strong>s Internets, in <strong>de</strong>m zahlreiche Begriffe durchaus erfolg-<br />
reich zu „googeln“ sind, wenngleich manche <strong>de</strong>r Informationen<br />
eher mit Vorsicht zu betrachten sind.<br />
Zu bemängeln ist allerdings, dass die Kriterien, die zur Auswahl <strong>de</strong>r<br />
80 beschriebenen Begriffe geführt haben, nicht benannt wer<strong>de</strong>n.<br />
- 164 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
GREVING belässt es im Vorwort bei <strong>de</strong>r eher allgemeinen Feststel-<br />
lung, dass die Auswahl <strong>de</strong>r Begriffe erfolgt sei „nach <strong>de</strong>n Prinzipien<br />
<strong>de</strong>r Aktualität <strong>und</strong> Vollständigkeit sowie nach <strong>de</strong>r Relevanz für die<br />
Profession <strong>und</strong> Professionalisierung“.<br />
Dem uneingeweihten Leser bleibt fraglich, warum z.B, neben <strong>de</strong>n<br />
Themen „Assistenz“ <strong>und</strong> „Empowerment“ nicht auch das Thema<br />
„Inklusion“ beschrieben wird, warum zwar „Köper-“, „Hör-“,<br />
„Lern-“, <strong>und</strong> „Schwerste Behin<strong>de</strong>rung“, nicht aber „Geistige-“ <strong>und</strong><br />
„Sprachbehin<strong>de</strong>rung“ aufgeführt sind <strong>und</strong> die „Sehbehin<strong>de</strong>rung“ al-<br />
lein im Kontext <strong>de</strong>r „Blin<strong>de</strong>n- <strong>und</strong> Sehbehin<strong>de</strong>rtenpädagogik“ auf-<br />
taucht.<br />
Neben diesen Desi<strong>de</strong>raten gibt es aber auch Begriffe, bei <strong>de</strong>nen<br />
man sich fragt, ob sie wirklich zum engeren Themenkreis <strong>de</strong>r Heil-<br />
pädagogik als Handlungswissenschaft gehören <strong>und</strong> in die begrenzte<br />
Auswahl eines, genauer: dieses Kompendiums aufgenommen wer-<br />
<strong>de</strong>n müssen - so zum Beispiel beim Begriff „Alter“, zumal er in<br />
Doppelung mit <strong>de</strong>m Artikel zu „Alte Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung“ er-<br />
scheint.<br />
Es ist zweifelsohne davon auszugehen, dass die Auswahl bewusst<br />
<strong>und</strong> nach systematischen Kriterien erfolgt ist. Wünschenswert je-<br />
doch wäre die Erweiterung einer Neuauflage um eine Einführung,<br />
die <strong>de</strong>n Leser gedanklich einbezieht in die systematischen Überle-<br />
gungen zur Auswahl. Profitieren könnte das Kompendium darüber<br />
hinaus von einer Darstellung, die die thematisch-fachlichen Verbin-<br />
dungen <strong>und</strong> Zusammenhänge <strong>de</strong>r Begriffe stärker berücksichtigt -<br />
sei es in einer einleiten<strong>de</strong>n Darstellung o<strong>de</strong>r sei es auch in <strong>de</strong>r An-<br />
ordnung <strong>und</strong> Reihenfolge <strong>de</strong>r Begriffe.<br />
Das Wort „Kompendium“ kommt aus <strong>de</strong>m Lateinischen, lässt sich<br />
übersetzen mit „Ersparnis“ <strong>und</strong> bezeichnet laut Brockhaus ein „kur-<br />
zes Lehrbuch“. Ob es sich bei 30,90 € pro Band um eine Ersparnis<br />
han<strong>de</strong>lt, sei - insbeson<strong>de</strong>re aus stu<strong>de</strong>ntischer Sicht - dahin gestellt.<br />
- 165 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
In je<strong>de</strong>m Fall jedoch lohnt sich <strong>de</strong>r Kauf. Das Kompendium gibt<br />
trotz <strong>de</strong>r genannten Mängel bzw. Verbesserungswünsche einen<br />
überzeugen<strong>de</strong>n Einblick in die aktuelle Fachdiskussion innerhalb <strong>de</strong>r<br />
Heilpädagogik <strong>und</strong> wird damit <strong>de</strong>m Anspruch eines „kurzen Lehr-<br />
buchs“ in respektabler Weise gerecht.<br />
Prof. Dr. Margit Ostertag, Evangelische Fachhochschule Nürnberg<br />
Band 1: Alter, Alte Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung, Anthroposophische Heilpädagogik<br />
<strong>und</strong> Sozialtherapie, Arbeit/ arbeiten, Assistenz, Ästhetische Erziehung, Autismus,<br />
Basale Kommunikation, Basale Stimulation, Behin<strong>de</strong>rung, Beratung, Berufsverband<br />
<strong>de</strong>r Heilpädagogen e.V., Blin<strong>de</strong>n- <strong>und</strong> Sehbehin<strong>de</strong>rtenpädagogik,<br />
Case-Managment, Daseinsgestaltung, Deinstitutionalisierung, Disablitiy Studies,<br />
Elternarbeit, Emotionen, Empirische Behin<strong>de</strong>rtenpädagogik, Empowerment, Entwicklung,<br />
Ethik, Eugenik, Europäische Heilpädagogik, Euthanasie, Fachbereichtstag<br />
Heilpädagogik, Freizeit, Frühför<strong>de</strong>rung, Gen<strong>de</strong>r/ Geschlecht, Geschichte <strong>de</strong>r<br />
Heilpädagogik, Gesprächsführung, Handlungstheorie, Heilpädagogische Beziehungsgestaltung<br />
- Trainingskonzept für die Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung, Heilpädagogische<br />
Diagnostik, Heilpädagogische Erziehungshilfe <strong>und</strong> Entwicklungsför<strong>de</strong>rung,<br />
Heilpädagogik geisteswissenschaftliche, Heilpädagogische Kunsttherapie, Heilpädagogische<br />
Übungsbehandlung, Hilfebegriff, Hospitalisierung/ Enthospitalisierung,<br />
Hörbehin<strong>de</strong>rung, Humanistische Psychologie<br />
Band 2: I<strong>de</strong>ntität, Kin<strong>de</strong>rtagesstätte, Kommunikation, Kompetenz, Krise/ Krisenintervention,<br />
Konstruktivismus, Konzept, Körperbehin<strong>de</strong>rung, Kritisch-materialistische<br />
Behin<strong>de</strong>rtenpädagogik, Lebenswelt, Lernbehin<strong>de</strong>rung, Medien, Neurophysiologische<br />
Gr<strong>und</strong>lagen <strong>de</strong>r Heilpädagogik, Normalisierungsprinzip, People<br />
First, Person, Personzentiertheit, Persönliches Budget, Profession/ Professionalisierung/<br />
Professionalität, Psychiatrie - Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />
Psychomotorik, Rhythmik, Schule/ Schulpädagogik, Schwerste Behin<strong>de</strong>rung,<br />
Sozialgesetzbuch, Spielen, Sprache, Ständige Konferenz <strong>de</strong>r Ausbildungsstätten<br />
für Heilpädagogik in <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, Sterbebegleitung,<br />
Stigmatisierung, Syndrome/ Syndromanalyse, Therapeutik, Trisomie 21,<br />
Verhaltensstörung/ Verhaltensauffälligkeit, Wahrnehmung, Wohnen, Zeichen<br />
- 166 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Steinhoff, Schulunterricht im Allgemei-<br />
A. Franziska: nen Krankenhaus Hamburg-<br />
Eppendorf vor 100 Jahren.<br />
Nach Aufzeichnungen <strong>de</strong>r<br />
Lehrerin Ferdinan<strong>de</strong> von<br />
Blumberg.<br />
LIT-Verlag: Hamburg 2007<br />
Preis: 34,90€<br />
ISBN: 978-3825856052<br />
Rezensionen<br />
Als dritten Band <strong>de</strong>r von Kai SAMMET <strong>und</strong> Ursula WEISSER, Institut<br />
für Geschichte <strong>und</strong> Ethik <strong>de</strong>r Medizin, Universitätsklinikum Ham-<br />
burg-Eppendorf, herausgegebenen „Hamburger Studien zur Ge-<br />
schichte <strong>de</strong>r Medizin“ legt die Autorin A. Franziska STEINHOFF eine<br />
bereits 1998 angenommene Dissertation zum Schulunterricht im<br />
„Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Eppendorf“ um die Wen<strong>de</strong><br />
vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>ert vor. Ihre Untersu-<br />
chung möchte sie als einen „Beitrag zur Alltags- <strong>und</strong> Sozialge-<br />
schichte <strong>de</strong>s Krankenhauses wie auch <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rheilk<strong>und</strong>e um die<br />
Wen<strong>de</strong> vom 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert“ (3) aus <strong>de</strong>r Perspektive ei-<br />
ner „Medizingeschichte von unten“ (12) verstan<strong>de</strong>n wissen. STEIN-<br />
HOFF legt mit ihrer Arbeit darüber hinaus einen Beitrag zur histori-<br />
schen Schul- <strong>und</strong> Bildungsforschung vor.<br />
Die Autorin rekonstruiert die schulische Arbeit <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Jahren<br />
1898-1902 im Eppendorfer Allgemeinen Krankenhaus beschäftigten<br />
Lehrerin Theodore von Blumberg. STEINHOFF greift dabei auf ein-<br />
maliges historisches Quellenmaterial zurück: ausgehend von <strong>de</strong>r<br />
Personalakte <strong>de</strong>r Lehrerin <strong>und</strong> <strong>de</strong>n darin enthaltenen Schulberich-<br />
ten sowie einigen Briefen von <strong>und</strong> an von Blumberg <strong>und</strong> Aktennoti-<br />
zen gelingt es ihr auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage umfassen<strong>de</strong>r Quellenrecher-<br />
chen, <strong>de</strong>m Leser einen <strong>de</strong>taillierten <strong>und</strong> lebendigen Einblick in die<br />
krankenpädagogische Praxis einer Lehrerin aus <strong>de</strong>r Zeit um die<br />
- 167 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
Wen<strong>de</strong> zum zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>ert zu geben. Nach einer Einlei-<br />
tung in die historische Thematik mit Anmerkungen zur Quellenlage<br />
<strong>und</strong> zum Forschungsstand sowie zu <strong>de</strong>r von ihr gewählten Form <strong>de</strong>r<br />
Darstellung führt STEINHOFF <strong>de</strong>n Leser über drei Themenkreise in<br />
das Umfeld <strong>de</strong>r Eppendorfer Krankenhausschule ein: an ein <strong>de</strong>tail-<br />
liertes Zeitportrait <strong>de</strong>s Eppendorfer Krankenhauses schließen sich<br />
eine Beschreibung <strong>de</strong>r Situation armer Kin<strong>de</strong>r in Hamburg um 1900<br />
mit Angaben zur allgemeinen Lebenssituation sowie eine Skizzie-<br />
rung <strong>de</strong>s Schul- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>de</strong>r Zeit an.<br />
Der systematischen <strong>und</strong> historischen Darstellung <strong>de</strong>s Unterrichts<br />
für kranke Schüler <strong>und</strong> Schulanfänger in Deutschland mit einem<br />
Überblick über die gegenwärtig gelten<strong>de</strong>n gesetzlichen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
für die Schule für Kranke sowie einer Beschreibung <strong>de</strong>s Kranken-<br />
hausschulwesens in Hamburg widmet die Autorin das dritte Unter-<br />
kapitel dieses Teils.<br />
Wer bis hierhin – vielleicht wegen <strong>de</strong>s Titels o<strong>de</strong>r aufgr<strong>und</strong> einer<br />
recht flüchtigen Lektüre – noch glauben mochte, die Arbeit sei vor<br />
allem für Lokalhistoriker von Interesse, wird bald eines besseren<br />
belehrt, <strong>de</strong>nn die ins Detail gehen<strong>de</strong> Untersuchung STEINHOFFs<br />
zeigt vor allem im dritten Teil, <strong>de</strong>m Hauptstück, ihren exemplari-<br />
schen Charakter. Der Autorin gelingt es hier nachzuweisen, dass<br />
die Rahmenbedingungen, die Ferdinan<strong>de</strong> von Blumberg bei ihrer<br />
schulischen Arbeit im Krankenhaus vorgef<strong>und</strong>en hat, in vielerlei<br />
Hinsicht durchaus vergleichbar sind mit <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>r ge-<br />
genwärtigen Tätigkeit von Lehrern in Kliniken. Auch die Einsichten<br />
von Blumbergs in die Beson<strong>de</strong>rheiten einer Krankenpädagogik ha-<br />
ben solch eine überraschend hohe aktuelle Relevanz, dass manches<br />
Mal die zeitliche Distanz von mehr als 100 Jahren verw<strong>und</strong>ert. In<br />
einer systematischen Darstellung widmet die Autorin sich <strong>de</strong>m Un-<br />
- 168 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
terricht <strong>und</strong> seinen Rahmenbedingungen, beschreibt die Schüler<br />
<strong>de</strong>r Eppendorfer Krankenhausschule, analysiert die Stellung <strong>de</strong>r<br />
Lehrerin Ferdinan<strong>de</strong> von Blumberg im Krankenhaus <strong>und</strong> schließlich<br />
das eng damit zusammen hängen<strong>de</strong>n En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Krankenhausschule<br />
im Jahr 1902, nur vier Jahre nach ihrer Gründung.<br />
Mit Liebe zum Detail, Einfühlungsvermögen <strong>und</strong> psychologischem<br />
Feingefühl gelingt es <strong>de</strong>r Autorin zunächst, sich <strong>de</strong>r Persönlichkeit<br />
<strong>de</strong>r Lehrerin Ferdinan<strong>de</strong> von Blumberg differenziert, plastisch <strong>und</strong><br />
lebendig anzunähern. Den Bedingungen <strong>und</strong> Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r An-<br />
stellung von Blumbergs widmet STEINHOFF dabei nicht umsonst<br />
ein eigenes Unterkapitel, <strong>de</strong>nn hier <strong>und</strong> im weiteren Verlauf <strong>de</strong>r Un-<br />
tersuchung wird schnell <strong>de</strong>utlich, dass viele Schwierigkeiten päd-<br />
agogischer Arbeit in einem medizinisch dominierten Umfeld im We-<br />
sentlichen auf die direkte Anstellung <strong>de</strong>r Lehrerin bei <strong>de</strong>r Klinik zu-<br />
rückzuführen waren. Erst in <strong>de</strong>n mehrere Jahrzehnte später ge-<br />
grün<strong>de</strong>ten Schulen für Kranke als staatlicher, von <strong>de</strong>r Klinik unab-<br />
hängiger, wenngleich ihr angeglie<strong>de</strong>rter Institutionen fan<strong>de</strong>n Lehrer<br />
geeignete Rahmenbedingungen für die Erfüllung ihres Bildungs-<br />
<strong>und</strong> Erziehungsauftrags.<br />
Der Unterricht an <strong>de</strong>r Krankenhausschule steht im Mittelpunkt eines<br />
umfangreichen Kapitels, in <strong>de</strong>m STEINHOFF auf beeindrucken<strong>de</strong><br />
Weise die Aktualität <strong>de</strong>r krankenpädagogischen Reflexionen von<br />
Blumbergs zu belegen vermag: die Lehrerin hat die wesentlichen,<br />
auch in <strong>de</strong>r Gegenwart weiterhin gültigen Zielsetzungen pädagogi-<br />
scher Arbeit im Krankenhaus bereits früh sicher bestimmt: die Be-<br />
fähigung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, trotz Krankheit zu lernen, die Aufgabe <strong>de</strong>r<br />
schulischen Rehabilitation, „Entwicklung <strong>und</strong> Training ges<strong>und</strong>er<br />
Funktionen“ sowie „Hilfen zur Bewältigung <strong>de</strong>r Krankheitssituation“<br />
(147). Auch die unterrichtspraktischen Fragen von Blumbergs mu-<br />
- 169 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
ten äußerst aktuell an: so sucht <strong>und</strong> fin<strong>de</strong>t sie gültige Lösungen für<br />
die pädagogische Herausfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r heterogenen Zusammenset-<br />
zung von Lerngruppen, stellt sich <strong>de</strong>r Aufgabe, auf verhaltensorigi-<br />
nelle Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche erzieherisch einzuwirken ohne dabei<br />
auf die Unterstützung durch Eltern <strong>und</strong> das Pflegepersonal hoffen<br />
zu dürfen, bemüht sich um Erziehungskoalitionen mit <strong>de</strong>m Pflege-<br />
personal <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Eltern, zeigt höchste Flexibilität bei <strong>de</strong>r Organisa-<br />
tion <strong>de</strong>s Unterrichts, für <strong>de</strong>n keine geeigneten Räumlichkeiten zur<br />
Verfügung stehen, wird dabei immer wie<strong>de</strong>r durch widrige äußere<br />
Umstän<strong>de</strong> behin<strong>de</strong>rt <strong>und</strong> stellt sich <strong>de</strong>r Herausfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r hohen<br />
Schülerfluktuation <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Problematik <strong>de</strong>r Versorgung mit geeig-<br />
neten Unterrichtsmaterialien durch das Krankenhaus <strong>und</strong> die<br />
Stammschulen. Bei ihrer Arbeit muss sie immer wie<strong>de</strong>r erfahren,<br />
wie abhängig sie von <strong>de</strong>r Unterstützung <strong>de</strong>s Klinikdirektors, <strong>de</strong>m<br />
Beistand <strong>de</strong>r Ärzte <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Mithilfe <strong>de</strong>r Schwestern ist – <strong>und</strong> sie hat<br />
<strong>de</strong>n gr<strong>und</strong>sätzlichen <strong>und</strong> unbedingten Primat <strong>de</strong>r Medizin <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />
klinikinternen Organisation von Arbeitsabläufen vor <strong>de</strong>r Pädagogik<br />
zu akzeptieren. Vieles von <strong>de</strong>m, was von Blumberg erfahren hat,<br />
wird manch einem heutigen Lehrer an einer Schule für Kranke –<br />
wenn auch wahrscheinlich nicht in <strong>de</strong>m Ausmaß – wohl vertraut<br />
sein. Von beson<strong>de</strong>rem Reiz <strong>und</strong> Erkenntniswert sind auch die Schü-<br />
lerbeschreibungen von Blumbergs, die von einem hellsichtigen päd-<br />
agogischen Gespür zeugen <strong>und</strong> die die Ärztin A. Franziska STEIN-<br />
HOFF zu <strong>de</strong>n recherchierten Krankengeschichten zweier Schüler<br />
kenntnisreich in Bezug zu setzen vermag. STEINHOFF <strong>de</strong>monstriert<br />
damit zugleich, wie wichtig medizinische <strong>und</strong> – das wäre auch heu-<br />
tiger Sicht zu ergänzen – psychosoziale Informationen für die päd-<br />
agogische Arbeit mit Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen in stationärer Kran-<br />
kenhausbehandlung waren <strong>und</strong> sind.<br />
- 170 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
Die kaum zu überschätzen<strong>de</strong> pädagogische <strong>und</strong> organisatorische<br />
Leistung <strong>de</strong>r Lehrerin von Blumberg, die sich innerhalb kürzester<br />
Zeit in einem für Lehrer neuen <strong>und</strong> unbekannten Arbeitsbereich zu-<br />
rechtfin<strong>de</strong>n musste <strong>und</strong> bei ihrer Arbeit auf keinerlei Vorerfahrun-<br />
gen zurückgreifen konnte, erscheint angesichts ihrer Außenseiter-<br />
stellung in <strong>de</strong>r Klinik <strong>und</strong> <strong>de</strong>r damit verb<strong>und</strong>enen widrigen äußeren<br />
Arbeitsbedingungen als um so bemerkenswerter. In einem eigenen<br />
Kapitel beleuchtet die Autorin das Verhältnis von Blumbergs zu al-<br />
len relevanten Berufsgruppen <strong>de</strong>s Krankenhauses. Sie weist nach,<br />
dass viele persönliche Konflikte ihre Ursache nicht zuletzt maßgeb-<br />
lich in <strong>de</strong>n f<strong>und</strong>amentalen Unterschie<strong>de</strong>n zwischen pädagogischen<br />
<strong>und</strong> medizinischen Sicht-, Interpretations- <strong>und</strong> Handlungsweisen<br />
gehabt haben mochten, die <strong>de</strong>r Lehrerin, die sich im Laufe ihrer Tä-<br />
tigkeit immer mehr in Konflikte verstrickte, freilich im Alltag vor al-<br />
lem als persönlich motivierte Boykottierung ihrer Arbeit erscheinen<br />
mussten. So empfand sich von Blumberg, die nicht in die Klinikhier-<br />
archie eingeb<strong>und</strong>en war, zunehmend als isoliert – ein Gefühl, das<br />
manch ein Lehrer an einer Schule für Kranke, wenn auch nicht in<br />
dieser extremen Ausprägung, nachempfin<strong>de</strong>n kann. Nicht zuletzt<br />
ihre mangeln<strong>de</strong> Positionierung in <strong>de</strong>m ansonsten straff organisier-<br />
ten Klinikbetrieb <strong>und</strong> die sich täglich daraus ergeben<strong>de</strong>n Probleme,<br />
vor allem mit <strong>de</strong>n Schwestern, die die Lehrerin wahrscheinlich häu-<br />
fig als einen Störfaktor bei ihrer Arbeit empf<strong>und</strong>en haben <strong>und</strong> die<br />
sie dies <strong>de</strong>utlich spüren ließen, haben schließlich zu ihrer Entlas-<br />
sung <strong>und</strong> damit zu einem frühen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Eppendorfer Kranken-<br />
hausschule geführt.<br />
Im Anschluss an eine resümieren<strong>de</strong> kritische Würdigung <strong>de</strong>r kran-<br />
kenpädagogischen schulischen Arbeit von Blumbergs enthält <strong>de</strong>r<br />
umfangreiche Band in einem Textanhang die 24 Schulberichte <strong>de</strong>r<br />
- 171 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
Lehrerin. Ein Personen- sowie ein Orts- <strong>und</strong> Sachin<strong>de</strong>x ermöglichen<br />
eine gezielte Suche <strong>und</strong> erleichtern die Arbeit mit <strong>de</strong>m Buch.<br />
STEINHOFFs Arbeit ver<strong>de</strong>utlicht auf beeindrucken<strong>de</strong>, jedoch auch<br />
ernüchtern<strong>de</strong> Weise die Langlebigkeit <strong>und</strong> die relative Verän<strong>de</strong>-<br />
rungsresistenz von Systemen <strong>und</strong> Institutionen, in diesem Fall <strong>de</strong>r<br />
Schule <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Klinik. Tatsächlich sah sich die Lehrerin von Blum-<br />
berg in ihrer pädagogischen Arbeit vor viele pädagogische, metho-<br />
disch-didaktische, schul- <strong>und</strong> unterrichtsorganisatorische <strong>und</strong> nicht<br />
zuletzt vor zwischenmenschliche Herausfor<strong>de</strong>rungen gestellt, die<br />
<strong>de</strong>nen heutiger Pädagogen an Schulen für Kranke durchaus ähneln,<br />
ihnen teilweise sogar gleichen. Die Autorin kann aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
Auswertung in dieser Form bislang einmaligen historischen Materi-<br />
als die These belegen, „dass die Mehrzahl <strong>de</strong>r Probleme, die sich im<br />
Allgemeinen Krankenhaus in Hamburg-Eppendorf um 1900 aus <strong>de</strong>r<br />
Einrichtung einer Krankenhausschule ergaben, zu dieser Schulform<br />
an sich gehört“ (325). Diese Einsicht trägt wesentlich zum Erkennt-<br />
niswert <strong>und</strong> zur Aktualität dieser Arbeit für die gegenwärtige Päd-<br />
agogik bei Krankheit bei. Die historische Rückschau vermag <strong>de</strong>n<br />
Blick für das heutige Selbstverständnis <strong>und</strong> die gegenwärtige Arbeit<br />
von Lehrern an Schulen für Kranke, für ihre Voraussetzungen <strong>und</strong><br />
Möglichkeiten zu schärfen.<br />
- 172 -<br />
Alexan<strong>de</strong>r Wertgen<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Knauer, Sabine: Integration.<br />
Inklusive Konzepte für Schule<br />
<strong>und</strong> Unterricht.<br />
Beltz: Weinheim 2008<br />
Preis: 29,90€<br />
ISBN: 978-3-407-25419-1<br />
Rezensionen<br />
Die Autorin ist als als Son<strong>de</strong>rpädagogin, Erziehungswissenschaftle-<br />
rin, Schulberaterin <strong>und</strong> Publizistin eine ausgewiesene Expertin zum<br />
Thema Integrationspädagogik<br />
Sie hat ein handliches, sehr praxisorientiertes <strong>und</strong> leicht lesbares<br />
Buch geschrieben, das für Praktiker in Schule, therapeutischen Ein-<br />
richtungen <strong>und</strong> Jugendhilfe ebenso anregend <strong>und</strong> hilfreich sein<br />
kann, wie für Studieren<strong>de</strong>, Schulberater, Journalisten o<strong>de</strong>r Mitar-<br />
beiter von Schulverwaltungen. Stichwörter am Textrand geben<br />
einen schnellen Überblick, praktische Beispiele <strong>und</strong> konkrete Hand-<br />
lungswegweiser sind durch schattierten Hintergr<strong>und</strong> hervorgehoben<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>shalb leicht zu fin<strong>de</strong>n.<br />
Das Buch geht zu<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Problematik von Integration bzw. Inklusi-<br />
on aus verschie<strong>de</strong>nen historisch-gesellschaftlichen Zusammenhän-<br />
gen auf <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>: Thematisiert wer<strong>de</strong>n zum Beispiel die unter-<br />
schiedlichen Umgangsformen mit Behin<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r BRD <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />
DDR, <strong>und</strong> es wird <strong>de</strong>r Finger auf die W<strong>und</strong>e gelegt, dass in<br />
Deutschland behin<strong>de</strong>rte Kin<strong>de</strong>r nach wie vor keine freie Schulwahl<br />
haben. Die Autorin problematisiert die Tatsache, dass für Migran-<br />
tenkin<strong>de</strong>r ebenso ein „Integrationsbedarf“ vorausgesetzt wird wie<br />
für Kin<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n unterschiedlichsten „Behin<strong>de</strong>rungen“. Konse-<br />
quenterweise vertritt sie die Auffassung, dass eine ausson<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />
Pädagogik nicht mit <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>sätzen einer <strong>de</strong>mokratischen, Men-<br />
schen- <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rrechten verpflichteten Gesellschaft vereinbar ist.<br />
Die <strong>de</strong>mografische Entwicklung, Globalisierung, neue Kommunikati-<br />
- 173 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
ons- <strong>und</strong> Informationswege wer<strong>de</strong>n als weitere Bereiche behan<strong>de</strong>lt,<br />
zu <strong>de</strong>nen eine ausson<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Pädagogik im Wi<strong>de</strong>rspruch steht.<br />
Ein zweiter Schwerpunkt <strong>de</strong>s Buches liegt in <strong>de</strong>r kritischen Ausein-<br />
an<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Begriff „Behin<strong>de</strong>rung“. Zum einen fin<strong>de</strong>n die<br />
Leser konkrete Hinweise, wie beson<strong>de</strong>re Problembereiche bei Kin-<br />
<strong>de</strong>rn erkannt wer<strong>de</strong>n können <strong>und</strong> wie man im Lernprozess darauf<br />
eingehen kann. Es geht <strong>de</strong>r Autorin hier aber vor allem darum, zu<br />
einem Um<strong>de</strong>nken im Zusammenhang mit „Behin<strong>de</strong>rung“ <strong>und</strong> „Ler-<br />
nen“ anzuregen. Wenn sie zum Beispiel ausführt, dass je<strong>de</strong>m Ler-<br />
nen im Gr<strong>und</strong>e eine „Behin<strong>de</strong>rung“, ein „Nicht-Können“ zugr<strong>und</strong>e<br />
liegt, wird die Medaille umgedreht: Damit wird Behin<strong>de</strong>rung zur<br />
Voraussetzung für gelingen<strong>de</strong>s Lernen, dann ist je<strong>de</strong>s Kind, je<strong>de</strong>r<br />
Mensch – irgendwie – „behin<strong>de</strong>rt“, <strong>und</strong> das ist dann etwas ganz<br />
<strong>und</strong> gar „Normales“, worüber niemand mehr ein Wort zu verlieren<br />
braucht.<br />
Daraus ergibt sich <strong>de</strong>r dritte Schwerpunkt <strong>de</strong>s Buches: Die Autorin<br />
tritt mit praktischen Hinweisen für eine Pädagogik ein, die ohne<br />
Ausson<strong>de</strong>rung auskommt, weil sie je<strong>de</strong>m einzelnen Kind <strong>und</strong> Ju-<br />
gendlichen einen individuellen „beson<strong>de</strong>ren För<strong>de</strong>rungsbedarf“ zu-<br />
gesteht. Die Autorin belegt, dass die „normale“ Schule Konzepte<br />
von „Son<strong>de</strong>rschulen“ übernehmen muss, um <strong>de</strong>n Belangen <strong>de</strong>r Bil-<br />
dungspolitik, <strong>de</strong>r Lehrkräfte <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler ge-<br />
recht zu wer<strong>de</strong>n. Es geht zum Beispiel darum, wie man gemeinsa-<br />
mes Lernen gestalten kann, statt Unterricht zu geben, <strong>und</strong> wie je-<br />
<strong>de</strong>s Kind – unabhängig davon, wie „normal“ es ist – individuell ge-<br />
för<strong>de</strong>rt <strong>und</strong> gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n kann. Die Überschrift <strong>de</strong>s vorletzten<br />
Kapitels fasst wohl die Schlussfolgerung <strong>und</strong> Botschaft <strong>de</strong>s Buches<br />
zutreffend zusammen: „Behin<strong>de</strong>rung verhin<strong>de</strong>rn – die integrative<br />
Schule als Antwort auf heutige Bildungsherausfor<strong>de</strong>rungen“.<br />
- 174 -<br />
Oggi En<strong>de</strong>rlein<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Fischer, Erhard: Bildung im För<strong>de</strong>rschwerpunkt<br />
geistige Entwicklung.<br />
Entwurf einer subjekt- <strong>und</strong><br />
bedarfsorientierten Didaktik.<br />
Klinkhardt: Bad Heilbrunn<br />
2008<br />
Preis: 19,90€<br />
ISBN: 978-3-7815-1572-7<br />
Rezensionen<br />
Trotz <strong>de</strong>r seit mehreren Jahren von annähernd allen Seiten geäu-<br />
ßerten For<strong>de</strong>rung nach Inklusion <strong>und</strong> einer „Schule für Alle“ wer<strong>de</strong>n<br />
Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche mit einer geistigen Behin<strong>de</strong>rung in Deutsch-<br />
land nach wie vor nahezu ausschließlich in speziellen För<strong>de</strong>rschulen<br />
unterrichtet. So ist es nur schlüssig, wenn auch weiterhin Lehrbü-<br />
cher geschrieben wer<strong>de</strong>n, die über aktuelle didaktische <strong>und</strong> metho-<br />
dische Ansätze basierend auf <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Bedingungen dieser<br />
Schulform informieren. Genau dieses möchte Erhard FISCHER mit<br />
diesem 2008 in Erstveröffentlichung erschienenen Buch tun. FI-<br />
SCHER wen<strong>de</strong>t sich damit einer Aufgabe zu, die bislang viel zu sel-<br />
ten angegangen wur<strong>de</strong>. Tatsächlich vermei<strong>de</strong>n die meisten aka<strong>de</strong>-<br />
mischen Geistigbehin<strong>de</strong>rtenpädagogen das Verfassen von Lehrbü-<br />
cher passend zu ihrem primären Betätigungsfeld: <strong>de</strong>r Lehrerausbil-<br />
dung. Es lässt sich also an dieser Stelle schon einmal positiv her-<br />
vorheben, dass FISCHER sich <strong>de</strong>r son<strong>de</strong>rpädagogischen Realität<br />
<strong>und</strong> ihren Bedingungen stellt. Dies kann angehen<strong>de</strong>n Lehrern <strong>und</strong><br />
an Auffrischung ihres Wissens interessierte Pädagogen nur zugute<br />
kommen.<br />
Das Buch umfasst insgesamt sieben teilweise sehr ausführliche Ka-<br />
pitel. Nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Autor einleitend zunächst <strong>de</strong>n Personenkreis<br />
<strong>de</strong>r Schüler im För<strong>de</strong>rschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ <strong>de</strong>finiert<br />
<strong>und</strong> darauf folgend auf die Organisationsformen, Ziele <strong>und</strong> Inhalte<br />
ihrer schulischen Bildung eingeht, wen<strong>de</strong>t er sich <strong>de</strong>n didaktischen<br />
- 175 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
Mo<strong>de</strong>llen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lagen zu. Dabei wer<strong>de</strong>n sowohl wesentliche Be-<br />
griffe geklärt als auch die zentralen Merkmale traditioneller didakti-<br />
sche Mo<strong>de</strong>lle einan<strong>de</strong>r knapp gegenüber gestellt. Nach dieser Ge-<br />
genüberstellung vertieft <strong>de</strong>r Autor bestimmte Mo<strong>de</strong>lle <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren<br />
Ansätze. Im einzelnen sind dies <strong>de</strong>r bildungstheoretische Ansatz<br />
(u.a. Klafki), lehr-<strong>und</strong> lerntheoretische Ansätze <strong>und</strong> kurz die kri-<br />
tisch-kommunikative Didaktik. Nicht überraschend wer<strong>de</strong>n kon-<br />
struktivistische Ansätze - da seit einigen Jahren en vogue - beson-<br />
<strong>de</strong>rs ausführlich vorgestellt. Dabei gelingt es FISCHER, <strong>de</strong>n positi-<br />
ven Ansatz dieses Mo<strong>de</strong>lls für die praktische pädagogische Arbeit zu<br />
würdigen ohne kritische Aspekte auszusparen. So gibt er zu be<strong>de</strong>n-<br />
ken, „ob <strong>und</strong> in welcher Form eine Verbindung von konstruktivisti-<br />
schen Positionen [...] mit psychologisch <strong>und</strong> pädagogisch begrün-<br />
<strong>de</strong>ten Hinweisen (also wie dieser Aneignungsprozess von außen<br />
wirksam methodisch vorbereitet <strong>und</strong> unterstützt wer<strong>de</strong>n kann)<br />
möglich ist.“ (101)<br />
Im folgen<strong>de</strong>n Kapitel befasst sich FISCHER näher mit Unterrichts-<br />
konzepten im För<strong>de</strong>rschwerpunkt geistige Entwicklung. Dabei stellt<br />
er zunächst aktuelle Konzepte an „Schulen für Geistigbehin<strong>de</strong>rte“<br />
früheren gegenüber. Diese Gegenüberstellung ist m.E. außeror-<br />
<strong>de</strong>ntlich wichtig, zeigt sie doch, dass mo<strong>de</strong>rnere Ansätze wie schü-<br />
lerische Mitwirkung o<strong>de</strong>r Selbstbestimmung im Unterricht noch lan-<br />
ge nicht zu <strong>de</strong>n selbstverständlichen Konzepten dieser Schulform<br />
gehören.<br />
Nach diesem kurzen historischen Abriss erläutert <strong>de</strong>r Autor die we-<br />
sentlichen aktuellen an dieser Schulform zum Tragen kommen<strong>de</strong>n<br />
Unterrichtskonzepte, namentlich handlungs- <strong>und</strong> projektorientierter<br />
Unterricht, offene Lernformen <strong>und</strong> ihre verschie<strong>de</strong>nen Ausgestal-<br />
tungen sowie „geschlossene“ Lehrformen. Angenehm fällt auf, dass<br />
FISCHER nicht einseitig zugunsten offener Metho<strong>de</strong>n Stellung be-<br />
zieht, son<strong>de</strong>rn die Vorteile eine Metho<strong>de</strong>nmixes herausstellt. So<br />
- 176 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
kommt er etwa zu <strong>de</strong>m Schluss, „dass <strong>de</strong>r Frontalunterricht eine<br />
unverzichtbare, jedoch um an<strong>de</strong>re unterrichtliche Arbeitsformen zu<br />
ergänzen<strong>de</strong> [...] Lehrform darstellt <strong>und</strong> einen eingegrenzten, aber<br />
unverzichtbaren Stellenwert einnimmt“ (194).<br />
Sehr enttäuschend ist jedoch, dass das Thema „Basale Pädagogik<br />
<strong>und</strong> Unterrichtskonzepte bei Schülern mit schwerer geistiger Behin-<br />
<strong>de</strong>rung“ nur in einem Exkurs behan<strong>de</strong>lt wird. Be<strong>de</strong>nkt man, dass<br />
diese Schülerschaft an Schulen mit <strong>de</strong>m För<strong>de</strong>rschwerpunkt geisti-<br />
ge Entwicklung eine nicht kleine Gruppe darstellt, wird damit ein<br />
enormer Anteil <strong>de</strong>r Schulwirklichkeit unzureichend gewürdigt. Auch<br />
dasjenige, was FISCHER zu diesem Thema zusammen trägt, ist<br />
nicht befriedigend. Es wer<strong>de</strong>n überwiegend die üblichen, beinahe<br />
esoterisch anmuten<strong>de</strong>n Formulierungen reproduziert: „Im Gegen-<br />
satz zum medizinisch fassbaren Begriff <strong>de</strong>s Körpers ist <strong>de</strong>r Begriff<br />
Leib als Existenzweise <strong>de</strong>s Menschen zu verstehen, als 'Zur-Welt-<br />
Sein' in all seinen möglichen Formen [...]“ (200). An<strong>de</strong>rerseits<br />
macht FISCHER so eindrucksvoll <strong>de</strong>utlich, dass die <strong>de</strong>utsche Son-<br />
<strong>de</strong>rpädagogik für Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche mit schwersten Behin<strong>de</strong>-<br />
rungen bislang kaum etwas hervorgebracht hat, was im schulischen<br />
Alltag von Be<strong>de</strong>utung ist.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n Kapitel entwirft FISCHER das Mo<strong>de</strong>ll einer subjektiven<br />
Didaktik für <strong>de</strong>n För<strong>de</strong>rschwerpunkt geistige Entwicklung. Diese<br />
kann sozusagen als eine Synthese <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen bislang vor-<br />
gestellten Ansätze mit konstruktivistischem Überbau betrachtet<br />
wer<strong>de</strong>n. So wird die Gr<strong>und</strong>lage subjektiven Lernens erneut theore-<br />
tisch dargelegt um im letzten Kapitel konkret auf die Planung von<br />
Unterricht angewandt.<br />
„Bildung im För<strong>de</strong>rschwerpunkt geistige Entwicklung“ ist schon al-<br />
lein <strong>de</strong>swegen ein wichtiges Buch, da es sich explizit <strong>de</strong>r Didaktik<br />
dieser Schulform widmet. Es bietet einen sehr guten Überblick über<br />
- 177 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Rezensionen<br />
früher <strong>und</strong> gegenwärtig populäre Unterrichtsmo<strong>de</strong>lle ohne in Einsei-<br />
tigkeit zu verfallen. Viel zu kurz kommen jedoch Überlegungen zur<br />
schulischen Bildung von Schülern mit schwersten Behin<strong>de</strong>rungen.<br />
Ein Blick über die Lan<strong>de</strong>sgrenzen hinaus wäre hier wünschenswert<br />
gewesen. Ebenso erscheinen Verweise auf Untersuchungen, die<br />
verschie<strong>de</strong>ne Unterrichtsmetho<strong>de</strong>n hinsichtlich ihrer Effektivität<br />
überprüft haben, notwendig ohne dass dadurch das Postulat einer<br />
subjektiven, metho<strong>de</strong>nintegrieren<strong>de</strong>n Didaktik abgeschwächt wer-<br />
<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Dennoch: gera<strong>de</strong> für Studieren<strong>de</strong> <strong>und</strong> an Wissensauffri-<br />
schung interessierte Kollegen an Schulen mit <strong>de</strong>m För<strong>de</strong>rschwer-<br />
punkt Geistige Entwicklung bietet FISCHER wohltuend aufbereite-<br />
tes, gut lesbares <strong>und</strong> durch Praxisbeispiele ergänztes didaktisches<br />
Gr<strong>und</strong>lagenwissen.<br />
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Sebastian Barsch<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Veranstaltungshinweise<br />
April 2009<br />
CEC 2009 Convention & Expo<br />
Mittwoch, 01. 04. 2009, bis Samstag, 04. 04. 2009<br />
Ort: Seattle, Washington, USA<br />
Veranstaltungshinweise<br />
Leading educational experts are gearing up to discuss the latest issues<br />
in special and gifted education at CEC’s 2009 Convention &<br />
Expo in beautiful Seattle, Washington. CEC invites you and your<br />
colleagues to join us as we gather to share teaching strategies,<br />
learn about the latest special education legislation and trends, participate<br />
in the nearly 900 educational sessions, explore new products<br />
and services in the exhibit hall, and network with others working<br />
with children with exceptionalities and their families.<br />
Weitere Informationen:<br />
http://www.cec.sped.org/Content/NavigationMenu/ProfessionalDev<br />
elopment/ConventionExpo/<strong>de</strong>fault.htm<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
Mai 2009<br />
REHAB International 2009<br />
Donnerstag, 07.05.2009, bis Samstag, 09.05.2009<br />
Ort: Karlsruhe, Messe<br />
Veranstaltungshinweise<br />
Internationale Fachmesse für Rehabilitation, Pflege, Prävention <strong>und</strong><br />
Integration<br />
Weitere Informationen:<br />
Internet: http://www.rehab-messe.<strong>de</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heit für's Leben<br />
Freitag, 15.05.2009, bis Samstag, 16.05.2009<br />
Ort: Potsdam, Kongresshotel am Templiner See<br />
„Ges<strong>und</strong>heit für's Leben. Bessere medizinische Versorgung für<br />
Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung“; Fachtagung <strong>de</strong>r Lebenshilfe<br />
e.V.<br />
Weitere Informationen:<br />
Internet: http://www.ges<strong>und</strong>heitfuersleben.<strong>de</strong><br />
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Heilpädagogik online 02/ 09
Juni 2009<br />
49. Kin<strong>de</strong>rverhaltenstherapietage<br />
Samstag, 20.06.2009, bis Sonntag, 21.06.2009<br />
Ort: Universität Bremen<br />
Veranstaltungshinweise<br />
Die Kin<strong>de</strong>rverhaltenstherapietage an <strong>de</strong>r Universität Bremen verstehen<br />
sich als offenes Fortbildungsangebot, welches das Ziel verfolgt,<br />
neue pädagogische <strong>und</strong> therapeutische Ansätze unterschiedlichen<br />
Berufsgruppen bekannt zu machen.<br />
Weitere Informationen:<br />
Internet: http://www.zrf.uni-bremen.<strong>de</strong>/<br />
- 181 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Veranstaltungshinweise<br />
Weiterbildung „Professionell in Arbeit begleiten“<br />
Integrationsberatung mit <strong>de</strong>m Konzept Unterstützte Beschäftigung<br />
Beginn September 2009<br />
Das Konzept <strong>de</strong>r Unterstützen Beschäftigung kennzeichnet <strong>de</strong>n<br />
fortschrittlichen Ansatz Menschen mit erschwertem Zugang zur Arbeitswelt<br />
bei <strong>de</strong>r Integration in Betriebe <strong>de</strong>s allgemeinen Arbeitsmarktes<br />
zu unterstützen. Damit die Integrationschancen steigen,<br />
braucht es auf Seiten <strong>de</strong>r Beraten<strong>de</strong>n Kompetenz <strong>und</strong> Professionalität.<br />
Die B<strong>und</strong>esarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung<br />
(BAG UB) bietet seit 1998 auf <strong>de</strong>r Basis europäisch vereinbarter<br />
Qualitätsstandards eine berufsbegleiten<strong>de</strong> Weiterbildung in Unterstützer<br />
Beschäftigung an. Die 1 ½-jährige Qualifizierung wird ab<br />
September 2009 durchgeführt.<br />
In insgesamt acht Modulen wird <strong>de</strong>r Prozess <strong>de</strong>r beruflichen Integration<br />
nachvollzogen, von <strong>de</strong>r individuellen Berufsplanung, über<br />
die erfolgreiche Akquisition von Arbeitsplätzen, die Qualifizierung<br />
im Betrieb (Job Coaching), bis hin zur langfristigen Sicherung bestehen<strong>de</strong>r<br />
Arbeitsverhältnisse. Wahlmodule <strong>und</strong> die Kooperation<br />
mit einem Weiterbildungsträger in <strong>de</strong>r Schweiz ermöglichen es, innerhalb<br />
<strong>de</strong>r Qualifizierung individuelle Schwerpunkte zu setzen <strong>und</strong><br />
län<strong>de</strong>rübergreifen<strong>de</strong> Erfahrungen zu sammeln.<br />
Die Qualität <strong>de</strong>r Module ist durch eine kontinuierliche Anpassung<br />
<strong>de</strong>r Seminarinhalte an aktuelle Entwicklungen <strong>und</strong> durch regelmäßige<br />
Befragung <strong>de</strong>r TeilnehmerInnen gesichert. Die ReferentInnen<br />
verfügen über Mo<strong>de</strong>rationskompetenz <strong>und</strong> haben langjährige Erfahrung<br />
in <strong>de</strong>r Beratung von Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung.<br />
Die Weiterbildung richtet sich an MitarbeiterInnen, die im Bereich<br />
<strong>de</strong>r beruflichen Integration (IFD WfbM, BBW, BFW u.a.) von Menschen<br />
mit erschwertem Zugang zur Arbeitswelt arbeiten o<strong>de</strong>r planen<br />
dies zu tun.<br />
Weitere Informationen:<br />
B<strong>und</strong>esarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung<br />
Schulterblatt 36, 20357 Hamburg<br />
Tel. 040 / 432 53 123<br />
E-Mail: info@bag-ub.<strong>de</strong><br />
Internet: www.bag-ub.<strong>de</strong><br />
- 182 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Hinweise für Autoren<br />
Hinweise für Autoren<br />
Falls Sie in „Heilpädagogik online“ veröffentlichen möchten, bitten<br />
wir Sie, ihre Artikel als Mailanhang an eine <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Adressen<br />
zu sen<strong>de</strong>n:<br />
sebastian.barsch@heilpaedagogik-online.com<br />
tim.bendokat@heilpaedagogik-online.com<br />
markus.brueck@heilpaedagogik-online.com<br />
Texte sollten uns vorzugsweise als Word- o<strong>de</strong>r rtf-Dateien<br />
geschickt wer<strong>de</strong>n. Der Umfang eines Beitrages sollte <strong>de</strong>n eines<br />
herkömmlichen Zeitschriften-Artikels nicht überschreiten, also nicht<br />
länger als 45.000 Zeichen sein.<br />
Je<strong>de</strong>r Beitrag soll <strong>de</strong>n Standard-Anfor<strong>de</strong>rungen wissenschaftlichen<br />
Arbeitens entsprechen. Zitate <strong>und</strong> Vergleiche sind im Text zu kenn-<br />
zeichnen (AUTOR + Jahr, Seite). Dem Beitrag ist ein Verzeichnis<br />
<strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>ten Literatur anzufügen (Nachname, Vorname abge-<br />
kürzt: Titel. Erscheinungsort + Jahr, ggf. Seitenzahlen). Zur In-<br />
formation <strong>de</strong>r Leser ist weiterhin ein kurzes Abstract auf Deutsch<br />
<strong>und</strong> Englisch mit Schlüsselwörtern zu je<strong>de</strong>m Beitrag erfor<strong>de</strong>rlich<br />
(Umfang max. 10 Zeilen).<br />
- 183 -<br />
Heilpädagogik online 02/ 09
Leserbriefe <strong>und</strong> Forum<br />
Leserbriefe<br />
Leserbriefe sind erwünscht <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Aus-<br />
gaben in Auswahl aufgenommen – soweit uns Leserbriefe errei-<br />
chen. Sie sind an folgen<strong>de</strong> Adresse zu richten:<br />
leserbrief@heilpaedagogik-online.com<br />
Alternativ können Sie ihre Meinung auch direkt <strong>und</strong> ohne Zeitver-<br />
lust im Forum auf unserer Seite k<strong>und</strong>tun:<br />
http://heilpaedagogik-online.com/netzbrett<br />
Wir wer<strong>de</strong>n die dort vorgenommenen Eintragungen – ob anonym<br />
o<strong>de</strong>r namentlich – nicht löschen o<strong>de</strong>r än<strong>de</strong>rn, sofern sie nicht<br />
gegen gelten<strong>de</strong>s Recht verstoßen o<strong>de</strong>r Personen <strong>und</strong> Institutionen<br />
beleidigen.<br />
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Heilpädagogik online 02/ 09